Jeremy Bates

SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt)


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wir dieses Buch gefunden hatten, glich einem Schlag ins Gesicht, versetzt von der kalten, harten Wirklichkeit.

      »Hey, seht mal.« Tomo zeigte nun auf eine Stelle am Boden. Ich konnte nichts außer Mulch, in dem viele Blätter steckten, erkennen. Er kniete sich hin, schob etwas Laub beiseite und nahm dann etwas Flaches aus Kunststoff in die Hand. Insgesamt deckte er fünf oder sechs Stücke auf.

      »Ist das ein Ausweis?«, fragte Mel.

      »Ein Führerschein«, antwortete Tomo, während er die Kartenteile in seinen hohlen Händen betrachtete. »Yumi Akido, 18.01.1983. Verdammt, noch voll jung. Wo ist Foto?«

      Während er seine Suche ausweitete, fegte er noch mehr Blätter und Zweige aus dem Weg. Dabei offenbarten sich die übrigen Stücke des Führerscheins, eine zerschnittene Visa-Kreditkarte und eine Softbank-Kundenkarte.

      »Sie sieht scharf aus«, meinte er mit einem Blick auf einen Schnipsel. »Warum bringt sich scharfes Mädchen um?«

      »Lass mal sehen«, verlangte ich.

      Er gab mir den Ausschnitt des Passfotos. Ich hielt es so, dass auch Mel und Neil es sehen konnten. Die Frau hatte rotblond gefärbte Haare, strubbelig und stufig geschnitten, dunkle Augen und dazu lange Wimpern – künstliche, die man hier in jedem Supermarkt bekam und wie sie anscheinend allen jungen Japanerinnen gefielen. Ich fand ihr Gesicht zwar ein wenig zu pummelig, aber Tomo hatte recht: Sie war attraktiv.

      Ich stellte sie mir automatisch tot vor, mit zur Seite gedrehtem Kopf und gebrochenem Genick, leichenblass trotz zu stark geschminkter Wangen mit einem leeren Blick und runzliger Haut wie Orangenschalen, die zu lange in der Sonne gelegen hatten.

      »Warum hat sie das alles zerschnitten?«, wollte Mel verwirrt wissen.

      »Ich schätze, aus dem gleichen Grund, weshalb sie die Puppe an den Baum genagelt hat«, entgegnete Neil. »Dass alles, stand für sie wohl für eine Gesellschaft, der sie sich nicht mehr zugehörig fühlte. Auf diese Weise wollte sie mit Bezug auf alle Dinge und Menschen, die sie hinter sich ließ, Scheiß drauf sagen.«

      Als wir so dastanden, schweigend und in unsere eigenen Gedanken vertieft, wollte ich rekonstruieren, welch sonderbares Ritual diese Frau wohl vor ihrem Suizid veranstaltet hatte. Ausgehend von ihren persönlichen Sachen, die wild herumlagen, war es – in mehr oder weniger willkürlicher Reihenfolge – wohl folgendermaßen gelaufen: Sie hatte frische Unterwäsche angezogen, sich betrunken, die Ausweisdokumente zerschnitten, die Puppe an den Baum genagelt, sich die Zähne geputzt, die Lippen geschminkt und die Haare gekämmt, danach ein paar Zigaretten geraucht und sich schließlich umgebracht.

      »Gehen wir wieder«, drängte Mel und nahm meine Hand.

      »Okay«, brummte ich, allerdings ohne mich zu rühren.

      Die Frau – Yumi – war bestimmt tagsüber hergekommen, denn nachts hätte sie sich nicht im Wald zurechtgefunden. Angesichts der Tatsache, dass sie ein Buch über Selbstmord mitgenommen hatte, hatte sie vielleicht zu den Zögerlichen gezählt, die es laut Tomo öfter gab. Sie war also nicht fest entschlossen gewesen, sich zu töten, und hatte sich selbst davon überzeugen wollen, es sei ein notwendiges Übel. Was also war ihr durch den Kopf gegangen, als sie alleine hier gehockt hatte: Ob sie zurückgehen, nach Hause fahren und montags wieder zur Arbeit gehen sollte? Gedanken an ihre Eltern und Geschwister? Die Probleme, die sie überhaupt erst hergetrieben hatten? Was für welche waren es wohl gewesen? Sie war doch erst einundzwanzig gewesen, verdammt.

      Das Unterhöschen und der Büstenhalter.

      Warum?

      Weil sie eben nicht genau gewusst hatte, ob sie ihr Leben wirklich vorzeitig beenden wollte, aber ihr bis zu ihrer Entscheidung Reinlichkeit wichtig gewesen war? Das bezweifelte ich stark. Ebenso gut konnte man sich wegen eines Fiebers sorgen, während man vor einem Erschießungskommando stand. Was hatte es außerdem mit der Zahn- und Haarbürste auf sich? Oder dachte ich vielleicht einfach nicht weit genug voraus?

       Zähneputzen, Kämmen, Schminken … Das alles war für sie tägliche Routine gewesen. Vielleicht hatte sie das alles durchexerziert, um ein letztes Mal zu erfahren, wie es war, ein Mensch zu sein. Falls dem so war: Hatte sie ihre Zähne mit den Tränen in ihren Augen geputzt? Beim Verschmieren des Lippenstifts Wut empfunden? Reue bei den empfohlenen hundert Bürstenstrichen?

      Oder hatte sie gelächelt, voller Erleichterung angesichts des baldigen Endes ihrer Schmerzen?

      Mir war klar, dass ich all das pauschalierte, aber rationale Erklärungen, egal ob korrekt oder nicht, entsprachen einfach meinem Umgang mit dem Tod.

      Ich wandte mich nun wieder von den Sachen ab. Ich wusste nicht, ob ich sie nur eine halbe Minute oder zwei Minuten lang betrachtet hatte.

      Wie mir auffiel, stand Mel von uns weggedreht da und schaute in den Wald hinein. Ich dachte, sie grübele ihrerseits über alles nach, doch dann fragte sie: »Hört ihr das?«

      Diese Worte machten mich sofort nervös. So etwas wollte ich mich nicht fragen, wenn ich mitten in der Wildnis stand. Vor allem nicht an der Stelle, wo offenbar jemand gestorben war.

      »Was?«, erwiderte ich leise.

      »Mir kam es so vor, als hätte ich etwas gehört.«

      Ich horchte in die Stille hinein, konnte aber nicht hören.

      »Wir sollten jetzt die anderen rufen«, legte uns Neil nahe.

      »Es gibt doch gar keine Leiche«, sagte ich.

      »Nein, aber ich finde, es reicht trotzdem jetzt.«

      »Okay. Mel?«

      Sie drehte sich mit einer nachdenklichen Miene zu mir um. »Ja?«

      »Würdest du bitte Scott anrufen? Sag ihm, sie sollen herkommen.«

      »Zu uns?«

      »Ja. Um sich das hier anzuschauen.«

      »Um das hier zu sehen?«

      »Er, Ben und Nina. Sie wollen es bestimmt auch sehen.«

      »Richtig. Warte … ich hab doch mein Handy verloren. Gib mir deines, ich kenne seine Nummer auswendig.«

      Ich sah sie stirnrunzelnd an. Sie hatte sich John Scotts Handynummer gemerkt? Warum, zum Kuckuck?

      Dennoch hielt ich ihr mein Telefon hin.

      Sie nahm es und tippte seine Nummer ein.

      Kapitel 8

      »John? Ich bin es. Kannst du mich verstehen?« Mel fragte ihn daraufhin, wie es ihnen auf ihrem Weg ergangen war, hörte kurz zu und hakte dann ein paarmal nach. Er musste sich ständig wiederholen, also schien die Verbindung schlecht zu sein, bevor sie ihm erzählte, dass wir so etwas wie eine Grabstätte gefunden hatten. Sie beschrieb ihm, wie sie zu uns gelangen konnten, und warnte ihn ausdrücklich vor dem Krater, in den sie gefallen war. Während sie von allem berichtete, was sie erlebt hatte, wurde sie zusehends aufgeregter. Schließlich beendete sie das Gespräch.

      »Haben sie auch was gefunden?«, fragte ich neugierig.

      Sie nickte. »Er erzählte etwas von einem Hundekäfig aus Metall.«

      »Was?«

      »Ja, eines dieser Dinger zum Tragen, wenn man zum Beispiel zum Tierarzt geht.«

      »Steckte noch ein Hund darin?«

      »Hab ich nicht gefragt, aber bestimmt nicht. Sonst hätte es John garantiert erwähnt.«

      »Warum nimmt denn jemand seinen Hund mit hierher?«, wunderte sich Tomo.

      »Weil er nicht allein sterben will?«, vermutete Neil.

      »Also so etwas wie erweiterter Selbstmord, nur mit einem Tier?«, fragte Mel.

      Ich dachte kurz darüber nach. Hatte die betreffende Person zuerst den Hund und dann sich getötet? Oder war es ihr einfach wichtig gewesen, in ihrer letzten Stunde