Nicht im erotischen Sinne, aber es hat etwas von einem Rätsel, von einem Geheimnis, von einer Geschichte. Leichen stimulieren meine Neugier. Ich möchte dann immer die Fragen nach dem Wer, Wo und Was klären, Mord, Unfall, Selbstmord?
»Magst du sie sehen?«
Ich nicke.
»Sie heißt Sabine Katz, siebenundzwanzig, war fesch, vermute ich.«
Wir gehen Richtung Obduktionsraum. Manfred führt, schiebt mich, nicht ohne mich an der Hüfte abzutatschen, den Gang entlang. Er lässt keine Gelegenheit, mich anzugreifen, aus. In Amerika wäre das sexuelle Belästigung, für mich ist es ein handgreifliches Kompliment.
Der Obduktionsgehilfe öffnet eine der Kühlkammern und zieht eine fahrbare Metallbahre heraus. Darauf, wie in jedem Fernsehkrimi, eine mit einem weißen Laken bedeckte Leiche mit Nummernschild. Bevor er das Leintuch vom Kopf wegzieht, schlucke ich und atme tief durch. Dann bearbeite ich meinen Kaugummi mit sich steigernder Frequenz, so lange, bis meine Kiefermuskulatur zu krampfen beginnt. Es hilft ein bisschen und ist so ähnlich, wie einen Schmerz mit einem anderen Schmerz zu bekämpfen.
Wasserleichen sind die schlimmsten! Die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit aufgequollen, die Lippen blau, aus den Gedärmen entströmen übelriechende Gase. Sabine K.s Körper liegt auf dem harten Metallbett wie einer dieser Luftballons, die man durch Drehen um die eigene Achse in Segmente abschnüren kann, nur stinkend.
Ich wende mich ab.
»Und, irgendwelche Zeichen von Gewalteinwirkung?«
»Nichts dergleichen, die hat sich einfach ins Wasser gestürzt, aus. Eine Leiche genau richtig für dich …«
»Gut, fein. Kann ich ihre Anamnese und den Befund haben?«
»Ich lass ihn dir ausdrucken. Und jetzt essen gehen?«
»Wie du nach so einem Anblick, und vor allem Gestank, Appetit haben kannst!?«
»Soll ich verhungern? Alles im Leben ist Gewöhnung, sag ich doch immer.«
Manfred drückt sich an mich.
»Und? An mich könntest du dich nicht gewöhnen?«
»Ich bin an dich gewöhnt, aber eben auf eine freundschaftliche Art.«
Manfred seufzt.
»Na, ja dann warte ich eben weiter. Was kann ich tun, damit du dich freundschaftlich entwöhnst und libidinös an mich gewöhnst?«
Manfred und ich verlassen die Prosektur. In seinem Büro ordert er von seiner Sekretärin den Befund und drückt ihn mir sichtlich frustriert in die Hand.
»Da!«
Ich küsse ihn auf die Wange. Er erwidert den Kuss nicht.
»Danke, bist ein Schatz! Ich werde dich in meiner Arbeit erwähnen. Etwa so: … und Herrn Prof. Machel danke ich für seine selbstlose, aufopfernde Unterstützung …«
»Sei nicht gemein. Ich meine es ernst.«
»Sorry, ich meinte es nicht so … Baba!«
Ich verlasse das Institut mit einem schlechten Gewissen. Aber ich kann nicht über meinen Schatten springen. Nur wegen einer Wasserleiche kann ich nicht so tun, als ob ich auf Manfred stehen würde.
Diesmal muss ich nicht mehr mit der U-Bahn fahren, denn meine Praxis ist nur fünf Minuten vom Gerichtsmedizinischen Institut entfernt, ich gehe zu Fuß. Die Bewegung tut mir gut, leider ist sie zu wenig, um meinen Kopf wieder freizubekommen. Ich würde gerne noch eine Runde laufen gehen, aber das geht sich vorm Beginn meiner Ordination nicht mehr aus.
In meiner Praxis wartet schon meine Mutter auf mich. Sie ist seit Beginn meiner selbstständigen Tätigkeit vor fünfzehn Jahren meine Assistentin, oder soll man besser sagen: meine Vorgesetzte? Mama hat, als ich mich niedergelassen habe, beschlossen, meinen Betrieb in die Hand zu nehmen. Anfangs war das auch sehr angenehm für mich, da ich mich um nichts kümmern musste, aber mit den Jahren ist mir ihre Bevormundung immer mehr auf die Nerven gegangen. In der letzten Zeit kommt auch noch ihre Vergesslichkeit dazu, die sie immer mir in die Schuhe schiebt. Ich traue mich aber nicht, ihr zu sagen, dass ich ihre Hilfe in Zukunft nicht mehr benötige. An der Zeit wäre es, denn Mutter ist immerhin schon vierundachtzig, auch wenn sie meint, dass sie fit wie ein Turnschuh sei.
Schon beim Öffnen der Tür höre ich sie telefonieren: »Leider, leider, diese Woche geht gar nichts mehr, nächste Woche?«
Ich werfe einen Blick auf meinen Terminkalender. Mindestens fünf Termine sind diese Woche noch frei. Ich flüstere, während sie den Hörer zuhält, und deute auf die weißen Löcher auf dem Papier: »Und was ist das?«
Mutter blickt mich bedeutungsvoll an, immer noch mit der Hand über dem Hörer: »Willst was gelten, mach dich selten.«
Ich entreiße ihr den Hörer und flöte freundlich hinein: »Sie können am Mittwoch um 14.30 Uhr kommen, ich schiebe Sie dazwischen.«
Mutter versucht mir das Telefon wieder wegzunehmen, aber ich klammere mich an das Gerät. Wer ist die Stärkere? Werde ich wenigstens einmal siegreich sein? Als sie merkt, dass sie keine Chance hat, drückt sie auf die Austaste des Telefons. Sie wirft die Patientin aus der Leitung. Resigniert drücke ich ihr den Hörer in die Hand.
Sie küsst mich auf die Wange: »Du hast Stress, ich sehe es dir an. Ich habe dir ein Beuscherl mitgenommen, soll ich es dir aufwärmen?«
Ein graues Beuscherl nach einer grauen Wasserleiche, … mir graut. Ich schließe die Augen, atme tief durch, nehme den Kaugummi aus dem Mund, drücke ihn meiner Mutter in die Hand und bewege mich in mein Sprechzimmer. Kaum habe ich mich in meinen Bürosessel fallen lassen, steht meine Mutter mit dem dampfenden Beuschel in der Hand in der Tür. Sie breitet mir eine Stoffserviette auf dem Schreibtisch auf und stellt den Teller darauf. Den Löffel drückt sie mir in die Hand und schaut mich dabei streng an:
»Iss, bevor es kalt wird.«
Sie dreht sich um und verschwindet wieder hinter meiner Sprechzimmertür, nicht ohne sie bedeutungsvoll, sprich fest, zu schließen. Ich starre auf den grauen Brei und überlege mir, welche Tötungsart ich bei ihr anwenden werde. Ich denke, Erwürgen wäre mir am liebsten. Aber statt ihres Halses erdrücke ich den Plüschelefanten, den sie mir an meinem fünften Geburtstag geschenkt hat. Der muss immer links neben den Stiften auf meinem Schreibtisch stehen. Sie meint, dass das mein Glücksbringer sei. Damit hat sie insofern recht, weil er mein Ersatzmordopfer ist und mich abhält, einen echten Mord zu begehen. Trotzdem, ich liebe meine Mutter.
Nachdem ich das Beuschel in mein Waschbecken gekippt, die festen Bestandteile herausgelöffelt und zwischen die Balkonpflanzen als Taubenfutter verteilt habe, wasche ich den Teller ab. Den sauberen Teller präsentiere ich Mama, die begeistert meint: »Siehst, ich wusste, dass du was zu essen brauchst. Jetzt geht es dir wieder gut, mein Kind. Jetzt fangen wir an.« Sie fährt den Computer hoch und sperrt die Anmeldung auf. Huldvoll lässt sie die Patienten herein. Diese stehen brav in der Schlange, während sie die Daten eines jeden aufnimmt. Und sie lässt sich Zeit. Jeder soll fühlen, was es für eine Gnade und Gunst ist, von Frau Dr. Alma Liebekind-Spanneck behandelt zu werden.
»Nur Geduld, wir haben Zeit.«
Ich warte inzwischen ungeduldig in meinem Sprechzimmer, denn ich habe gar keine Zeit. Ich weiß, dass ich heute wieder eine Stunde länger dableiben muss, da Mutter absichtlich trödelt. Durch die Tür höre ich, wie sie sich gerade angeregt mit einer Patientin über die Gleisreparatur auf der Währingerstraße unterhält. Meine Klienten sind Mutters Zeitvertreib.
Ich habe keine Ahnung, weshalb ich die Übergriffe meiner Mutter dulde. Um dieses pathologische Verhaltensmuster zu durchbrechen, habe ich das reichhaltige Angebot an Psychotherapien ausprobiert, vergeblich. Die Psychoanalyse hat mir eine Sprachhemmung eingebracht, davon abgesehen noch eine Schlafstörung (um genug Träume für die Sitzungen parat zu haben, gewöhnt man es sich an, mindestens fünf Mal pro Nacht aufzuwachen), die Familientherapie hat meine Schuldgefühle und meine Abhängigkeit Mutter gegenüber noch verstärkt, das katathyme Bilderleben war amüsant, aber teuer.