du noch nie.«
Mutter dreht sich beleidigt weg und tut so, als ob sie hochnotpeinlich am E-Card-Terminal herummachen müsste.
»Können wir?«
»Wenn es Frau Doktor genehm ist, dann können wir.«
Ich kontere scharf: »Wir können!«
Ich muss endlich einmal klarstellen, dass ich hier das Sagen habe. Deshalb eile ich geschäftig in mein Sprechzimmer. Da warte ich einmal, denn Mutter lässt sich absichtlich Zeit mit dem Aufrufen der ersten Patientin. Außerdem verweigert sie mir die genaue Reihenfolge meiner Klienten auf dem Bildschirm, wo ich normalerweise sehen kann, wer drankommt. Ich rufe sie in der Anmeldung an.
»Ich hab es nicht so gemeint, bitte entschuldige.«
Sofort erscheint der Name der Patientin und der der anderen auf meinem Bildschirm und – oh Wunder – die Dame tritt ein.
Ich arbeite bis 13 Uhr durch und esse dann brav die Tirolerknödel, die mir Mutter hinstellt. Nachmittags schreibe ich an meiner Publikation. Ich bin unkonzentriert, denn ich fiebere dem Treffen mit Erika entgegen. Mutter merkt, dass was nicht mit mir stimmt. Sie bringt mir Kaffee und Erdbeerkuchen, obwohl sie weiß, dass ich auf mein Gewicht achte.
»Die Erdbeeren waren so schön«, meint sie entschuldigend und streicht mir über den Kopf. Das mag ich gar nicht. Genauso wenig, wie wenn sie mir mit ihrem Spuckefinger die Brösel von meiner Wange wischt. Ich sage mir: »Alma, es ist Zeit, dass du dich wehrst.« Aber ich bin gedanklich zu sehr mit der Katz beschäftigt, als dass ich eine Beziehungsdebatte provozieren möchte. Drum bedanke ich mich gequält und denke, es ist am besten, wenn ich ihr was zu tun gebe.
»Mama, bist du ein Schatz? Könntest du die Baumgartnerhöhe anrufen und den Krankenakt einer Sabine Katz, geb. 21.4.1986, wohnhaft Pappenheimgasse, ausheben lassen?«
»Aber das ist ja gar keine von uns …«
Mutter unterscheidet die Patienten von uns und die von den anderen. Die von den anderen werden schlechter von ihr behandelt, die müssen warten.
»Sie ist eine meiner Suizidanten.«
»Wenn ich dir einen Rat geben darf …«
»Danke, ich brauche keinen Rat. Ich weiß, was du meinst.«
Sie dreht sich gekränkt um und nimmt den Kuchen mit, als sie mein Büro verlässt. Ich schreie ihr nach: »Sabine Katz, geb. 21.4.1986, wohnhaft Pappenheimgasse.«
Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, auch wenn sie mault, wird sie mir zuverlässig die Krankengeschichte besorgen. Mutter lehnt meine wissenschaftliche Tätigkeit ab, da sie kein Geld einbringt und sie sicher ist, dass ich nie habilitiert werde. »Leere Kilometer«, meint sie.
Wahrscheinlich hat sie sogar recht, aber ich brauche meine wissenschaftliche Wichtigmacherei für den Selbstwert.
Kaum ist sie draußen, ruft sie mich an.
»Dringend?«
»Ja«, ich lege auf. Jetzt möchte sie eine Beziehungsdebatte, aber ich will nicht.
Das Brioni ist voll. Voll mit Menschen und mit Rauch, den diese Menschen mit ihren Zigaretten herausblasen. Raucherlokale sind immer voll. Raucherlokale sind eine Marktlücke. Wenn ich ein Lokal hätte, dann nur ein Raucherlokal. Ich selber bin Nichtraucherin und den Rauch mag ich auch nicht. Aber die militante Verteufelung der Raucher weckt in mir eine Protesthaltung, die mich mit ihnen solidarisch werden lässt. Als ob wir nicht andere Sorgen als das Rauchen hätten? Für die Kosten des Gesundheitssystems sind die Raucher ein Segen. Sie verursachen weniger Pensionsmonate, werden zu keinen Pflegefällen, da sie vorher sterben, und tun sich was Gutes, weil das Nikotin gut gegen Parkinson ist – falls sie das Alter dafür erleben.
In diesen Rauchschwaden sitzt Erika und tschickt. Erika ist eine schlanke – klar, raucht ja – Mittvierzigerin, die privat eher einer Diva als einer Polizistin ähnelt. Sie ist immer perfekt gestylt. Ihre Klamotten sehen immer teuer aus und das Make-up ist zwar üppig, aber nicht geschmacklos. Von Erika bekomme ich die besten Adressen für Second-Hand-Shops für günstige Designerware. Ich kaufe da zwar nie ein, aber ich tue so, als ob ich da gewesen wäre, aber nichts für mich gefunden hätte. Erika ist ein netter Mensch und lustig. Sie winkt mir durch die Rauchschwaden zu: »Alma, hier!«
Wenn man schon länger im Brioni gesessen ist, haben sich die Augen an den Dunst gewöhnt. Ich bin noch ziemlich blind. Nachdem wir uns auf beide Wangen geküsst haben, deutet sie auf ihre Jacke: »Kenzo, saugünstig.«
Ich heuchle Begeisterung: »Super, steht dir super!«
»Es gibt auch eine von D & G in Blau, perfekt für deine Augen.«
Keine Ahnung, was D & G heißt, aber ich nicke begeistert.
»Morgen geht es sich leider nicht aus.«
»Ich ruf die Erni an, sie soll sie dir zurücklegen, kein Problem.«
»Danke, ich bin momentan knapp bei Kasse. Einkommensteuervorauszahlung.«
Ich setze mich. Der Wirt kommt und fragt: »Wie immer?«
»Wie immer.« Wie immer bedeutet: ein Achtel Veltliner. Dazu bestelle ich einen italienischen Vorspeisenteller. Ich darf ja, da Mutter mir den Kuchen weggenommen hat.
»Hm, seit wann isst du abends was?«
»Heute darf ich und außerdem ist die Hälfte für dich.«
»Ich darf aber nicht! Meine Uniform spannt. Ich möchte nicht auf 38 aufsteigen, das wäre mir peinlich. Das ganze Kommissariat würde sich das Maul zerreißen.«
»Du isst nur den Schinken, der hat keine Kohlehydrate. Was war das für ein Seminar heute?«
»Oh Gott, wenn ich da anfange, dann ist mir der ganze Abend verdorben.«
»Um was ist es gegangen?«
»Gesprächsführung in Konfliktsituationen.«
»Also? Was du sagst, wenn dir einer das Messer hineinstechen will?«
»Genau! Ein blässlicher Psychologe mit wässrigem Blick bringt uns den Umgang mit ›Menschen in Ausnahmesituationen‹ bei.«
Ich äffe so einen Psychologen nach: »Denken, fühlen, handeln.«
»Ja, vor allem fühlen. Für heute bin ich ausgefühlt.«
»Das ist gut. Mir geht’s mit dem Denken so. Und handeln tu ich heute auch nicht mehr, nur trinken. Prost!«
Mit Erika bin ich immer sofort entspannt. Wir lachen und schimpfen und machen uns über die anderen lustig und lachen und essen und lachen. Beinahe hätte ich vergessen, weshalb ich mich mit ihr getroffen habe. Nach dem dritten Achtel reiße ich mich am Riemen und setze an, über das Foto zu sprechen. Es ist mir unangenehm, denn ich selber mag es auch gar nicht, wenn ich in meiner Freizeit von jemandem beruflich belästigt werde. Aber es nützt nichts, ich muss mit ihr drüber reden.
Ich werde ernst: »Erika es ist mir unangenehm, gerade jetzt …«
Erika seufzt: »Du hast schon wieder Zoff mit Michelangelo?«
Ich schüttle den Kopf: »Immer, aber …«
»Mach endlich Schluss.«
»Nein, es ist beruflich.«
»Okay! Dann will sich der Würzl bei deiner Publikation hineinpressen. Das kannst du nicht zulassen.«
»Auch, aber es geht um das Foto.«
»Was für ein Foto?«
»Das mit dem Mann am Donaukanal mit der Leiche auf den Armen.«
»Ach, das meinst du? Hochwasser.«
»Ich vermute da was.«
»Keine Gespensterfantasien, heute. Ich warne dich. Sonst wende ich an dir sofort an, was der Psychologe mir heute beigebracht hat. Und dann ist es