Hans Fallada

Der eiserne Gustav


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schloß sie die Schranktür ab und steckte den Schlüssel zu sich. So klein Gustäving noch war, der Hunger machte auch die Kleinsten erfinderisch. An einem nicht sehr weit zurückliegenden Morgen hatte er den Schrank aufbekommen: Es waren schreckliche Tage gewesen danach. Daß man selbst stets hungrig war, daran war man längst gewöhnt. Daß man seinem Kinde aber nicht einmal das Allernotwendigste geben konnte …

      »Ich kann doch mein Kind nicht vier Tage lang hungern lassen!« hatte sie auf der Kartenverteilungsstelle gerufen. »Es verhungert mir ja!«

      »Da könnte jeder kommen!« hatte der Beamte achselzuckend gesagt. »Dem einen sind die Karten verbrannt, dem anderen sind sie gestohlen. Der hat sie verloren, und Ihnen hat das Kind das Brot weggegessen – hätten Sie besser aufgepaßt! Nein, es gibt nichts!«

      Schließlich hatte ihr die Schwägerin Eva mit ein bißchen Brot geholfen …

      Sie rüttelte noch einmal sachte an der Tür des Schrankes: Der Schrank war zu. Sie sah noch einmal nach Gustäving: Das Kind schlief. Sie löschte das Licht und trat in das Treppenhaus. Es war gleich fünf, es war höchste Zeit.

      Im Treppenhaus war es dunkel, aber schon tasteten Schritte hinunter, tappten schwere Füße müde hinauf. Im ersten Stock wurde eine Entreetür geöffnet, ein Mann kam heraus, im Dämmerlicht des Flurs sah sie, wie er seiner Frau den Abschiedskuß gab. Dann tastete er sich stumm neben ihr die Treppe hinunter, aber plötzlich faßte er sie um, er flüsterte: »Na, meine Kleine, Süße? Auch schon so früh aus den Betten?«

      Sie stemmte die Hände gegen seine Brust. Sie wußte, es war der Werkmeister einer Munitionsfabrik, er war »unabkömmlich«! Er war früher ein ganz ordentlicher Mann gewesen, aber dieser Krieg, der Berlin männerlos gemacht hatte, hatte ihn verdorben. Es gab genug Weiber jetzt, die jeder Männerhose nachliefen – nun dachte er wohl, alle Frauen seien Freiwild.

      »Lassen Sie mich sein, Herr Tiede!« rief sie, sich im Dunkeln wild gegen ihn wehrend. »Ich bin ja bloß der Buckel aus dem fünften Stock!«

      »Die Gudde? Das ist doch mal was anderes!« Und indem er sie heftiger bedrängte, flüsterte er: »Sei nett, Kleine! Du kommst mir grade recht – ich schenke dir auch ein halbes Pfund Butter, wenn du artig bist! Ehrenwort!«

      Es gelang ihr, sich von ihm frei zu machen. Sie lief wie gejagt über die beiden Höfe und atmete erst auf, als sie auf der Straße war. Im Licht einer Gaslaterne besichtigte sie den Mantel, den er ihr zerrissen hatte: Gottlob, es war nicht so schlimm, es ließ sich nähen, fast ohne daß man es sehen würde!

      Sie machte eilig, daß sie in die kleine Nebenstraße vor die Tür ihres Fleischerladens kam. Aber sie war ein bißchen spät daran, trotz aller Eile, trotz des Frühaufstehens: Schon eine ganze Reihe Menschen wartete vor der dunklen Ladentür.

      »Neunzehn«, sagte die Frau vor ihr.

      »Dann werde ich ja wohl noch etwas abbekommen«, meinte sie hoffnungsvoll.

      »Das weiß man nicht, wieviel Schweine er zugeteilt bekommt«, sagte die Frau vor ihr. »Aber das hilft nun nichts – das Hoffen haben sie uns ja immer noch nicht verboten!«

      Es klang unsäglich bitter, wie diese Frau es sagte. Nicht nur vom eisigen Wind schaudernd, steckte Gertrud Gudde die Hände tief in die Manteltaschen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Hielt man es länger aus, nur auf den Zehenspitzen zu stehen, so froren die Füße nicht so. Und sie mußte es lange aushalten, um acht Uhr erst machte der Fleischer seinen Laden auf.

      Eine Weile stand sie so, frierend; die nur mühsam vertriebene Müdigkeit kehrte zurück. Aber sie brachte keinen Schlaf, sondern nur trübe, finstere Gedanken. Sie suchte sich vorzustellen, was sie beim Fleischer bekommen würde: ein gutes Stück Kopf oder nur ein paar Abfallknochen, fast ohne Fleisch. Es war Glückssache – und meistens hatte sie kein Glück. Alle Menschen waren voreingenommen gegen einen Buckel. Aber man mußte es nehmen, wie es kam: Es war doch, so wenig es auch sein mochte, Fleisch ohne Karten, Abfallknochen, Zeug, das der Fleischer anders nicht verwerten konnte. Es gab den Steckrüben einen besseren Geschmack!

      »Was mag die Uhr wohl schon sein?« fragte die Frau vorn.

      »Fünf Minuten nach halb sechs!« antwortete Gertrud Gudde.

      »Und meine Füße sind schon jetzt wie Eis! Das halte ich nicht bis acht durch. Passen Sie ein bißchen auf meinen Platz auf? Ich habe achtzehn.«

      Gertrud stimmte zu, aber die Frau verhandelte noch mit der vor ihr. Es war zu schlimm, wenn man seinen Platz verlor, wenn man ganz umsonst früh aufgestanden war und gefroren hatte. Man mußte sich erst bei beiden Nachbarn sichern.

      Dann aber lief die Frau los, sie hatte nur Holzschuhe an, die Holzsohlen klappten laut auf dem Pflaster. Sie lief die Straße auf und ab, manchmal blieb sie stehen und schlug die Arme fest gegen den Leib. Aber niemand machte einen Witz, nur eine sagte gedankenvoll: »Wenn man Kräfte genug hat, es länger zu tun, wird man schön warm davon!«

      Dann schwiegen wieder alle.

      Nach einer Weile kam die Frau zurück. »So«, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen ganz anderen Klang. »Jetzt halte ich es wieder eine Weile aus. Wollen Sie auch? Ich sorge schon für Ihren Platz.«

      Aber Gertrud Gudde schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, sagte sie leise. Nicht, daß sie nicht fror, aber sie scheute sich, mit ihrer Mißgestalt vor den anderen herumzulaufen. Sie waren ja alle arme geschlagene Weiber, aber es gab doch immer welche, die in aller Armut noch über den Ärmeren spotteten.

      Und dann hatte sie wirklich Angst um ihren Platz, es standen jetzt schon so viele hinter ihr! Es war unmöglich, daß der Fleischer Knochen für alle hatte. Und jetzt war es erst sechs! Sie flehte, daß doch gegen acht ein Schutzmann vorüberkommen und die Leute schubweise in den Laden lassen würde. Sonst gab es einen Wirbel, wenn die Ladentür aufgemacht wurde, und sie wurde von den Stärkeren nach hinten gedrängt!

      Hinter ihr unterhielten sich jetzt zwei mit lauten, scharfen Stimmen über eine neue Bestimmung wegen des Urlaubs von der Front. »Es ist wahr«, sagte die eine, »du kannst es mir glauben: Für jeden Goldfuchs, den du hier in der Heimat ablieferst, kriegt dein Mann einen Tag Urlaub.«

      »So was werden sie doch nicht machen!« antwortete die andere. »Das wäre doch nur was für die Reichen! Im Schützengraben draußen sind doch wenigstens alle gleich!«

      »Für die Reichen, sagst du?« fragte die erste Stimme wieder erbittert. »Für die Schieber und Hamster, meinst du! Wer anständig war, hat sein Gold doch längst abgeliefert, als es hieß ›Gold gab ich für Eisen‹! Ja, Scheiße – die Anständigen sind wieder mal die Dummen! Aber es gibt ihrer noch genug, die Gold im Strumpf haben. Die kriegen ihren Mann, für zehn Tage, für vierzehn Tage, für drei Wochen … und in der Zeit fällt vielleicht grade dein Mann …«

      »Das machen sie nicht«, sagte wieder die andere, aber sie sagte es unsicher. »Das wäre doch keine Gerechtigkeit.«

      »Gerechtigkeit!« rief die andere fast rasend. »Red doch bloß nicht solchen Stuß! Gerechtigkeit! Wer mag denn so ein Wort in den Mund nehmen! Wo siehste denn Gerechtigkeit? Gold her – und du kannst mit deinem Mann ins Bett gehen. Kein Gold – ei du liebe Scheiße!«

      »Die Leute reden soviel …«, sagte die andere wieder zaghaft.

      »Gerechtigkeit …«, rief die andere, die sich gar nicht beruhigen konnte. »Neulich haben sie bei mir wieder einen Wisch durch die Tür gesteckt. Ich les sonst das Zeugs nicht – es ist alles bloß Quatsch. Daß wir unsere Ketten zerbrechen sollen und so – das sollen die, die so etwas drucken, uns erst mal vormachen! Wenn sie selber ihre Ketten zerbrochen hätten, brauchten sie die Zettel ja nicht heimlich durch die Tür zu stecken!«

      Ein paar lachten.

      »Habe ich nicht recht?« fragte die Frau friedlicher. »Das ist ja alles bloß Geschwätz! Aber den Wisch habe ich gelesen. Menu stand darüber.« (Sie sagte: Me-nuh.) »Das soll heißen, was es zu essen gab. Kaiserliches Hauptquartier, stand darüber, Homburg vor der Höhe – seit wann ist denn überhaupt Homburg vor der Höhe an der Front? Ich denk immer, das ist ’ne deutsche Stadt.«

      »Das verstehste nicht«,