Andrea Drumbl

Narziss und Narzisse


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gewünscht hatte. Hinten gab es tatsächlich einen hübschen Garten mit Bäumen und sogar mit einem kleinen Bach mitten durch die Wiese hindurch. Querfeldein und -aus roch es sauer nach frisch umgegrabener Erde, Farn und Unkraut. Es war erholsam hier. Und so ruhig. Ein friedlicher Ausgleich zur Großstadt, die mit diesem Allerheiligen-Nebel in der Luft immer auch ein bisschen grau und unheimlich war.

      Im Wochenendhaus, wie sie es beide nannten, weil sie nur ganz bestimmte Tage dort sein konnten und die restliche Zeit in ihrer Mietwohnung stadteinwärts lebten, hatten die beiden als junges Paar ihre Flitterwochen und später dann glückliche Stunden zu zweit verbracht. In diesem Haus war an einem Frühlingstag Judith gezeugt und ein wenig mehr als neun Monate später dann auf die Welt gebracht worden, nachdem das Paar über ein Jahrzehnt kinderlos geblieben war. Gisela hatte auf eine Hausgeburt bestanden, als Judith im Winter geboren werden sollte. In den Monaten danach waren sie die meiste Zeit im Wochenendhaus gewesen, denn das sei für das Kind besser, hatte Jakob gemeint, und Gisela hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt.

      Jetzt küsste Jakob seine Frau auf den Mund und versprach ihr den Leuchter mit den wunderschönen bunten Perlen wie in Tausendundeiner Nacht. Den versprach er ihr hoch und heilig, damit sie dann in ihren Träumen auf seinem magischen Licht, das er warf, wie auf einem fliegenden Teppich mitten in den Himmel hineinsegeln konnte. Mit ihrem wunderschönen braunen Haar als Segeltuch.

      Das war vor Giselas Kranksein, vor dieser vernichtenden Depression, die nach der Geburt über sie herfiel wie eine Erschütterung und in der sie sich mehr und mehr von Jakob abwandte, weil sie seinen Anblick nicht mehr ertrug. Den Kampf dagegen hatten sie beide verloren.

      Früher, noch vor Nurits Geburt, hatten Jakob und manchmal auch Judith Gisela und dem Kind in ihrem Bauch alle Tage jeden Tag Sonnen vom Himmel gepflückt und den Sonnenglanz zu ihr und zu dem Kind in ihrem Bauch geschickt. Das war ein ungeheurer Liebesbeweis gewesen, und Gisela hatte sich immer zutiefst gerührt und glücklich gefühlt. Aber das hatte sich im Laufe der Zeit verändert, als Gisela so plötzlich nach der Geburt immer trauriger und unglücklicher mit sich und ihrem Leben wurde. Es überkam sie ganz plötzlich, es war grässlich, mit einem Mal nicht mehr der vergnügte Mensch zu sein, der sie früher einmal war.

      Zwei Monate später dann, als Gisela frühmorgens an jenem Tag in diesem unseligen August an das rosenrote Kinderbettchen trat, um nach ihrem kleinen Baby zu schauen, fand sie Nurit leblos auf ihrem Pölsterchen liegend. In größter Panik riss Gisela an ihr, zerrte an ihr, packte sie, rüttelte sie und schrie sie an, schrie ihr mitten ins kleine Gesicht, bis sie keine Kraft mehr hatte. Bis Jakob aus dem Nebenzimmer kam und seine Frau aus ihrer Erstarrung ins Leben zurückholte. Er war es dann auch, der alles in die Wege leitete, was der Tod seines Kindes mit sich brachte. An diesem Tag machte sich zum ersten Mal ein stechender Schmerz in seiner Herzgegend bemerkbar.

      Zehn Tage später fand dann die schlichte Beerdigung des Kindes am Friedhof stadtauswärts statt, der Judith und Gisela fernblieben, weil Gisela den Anblick des kleinen Kindersarges nicht ertrug und Jakob nicht wollte, dass Judith zugegen war, wenn man den kleinen Kindersarg in die Erde grub.

      Und trotzdem sang die Luft im Wind, als man den kleinen Sarg so unbarmherzig in die Erde grub.

      Daraufhin wurde Gisela allmählich wirr im Kopf.

      Draußen dämmerte jetzt gerade der Abend herauf, und Glocken schlugen ihren lauten Glockenschlag. Letzte Sonnenstrahlen, spätes Licht. Wolken zogen auf. Dann wurde es auch wieder Nacht. In der Luft spürte sie den Herbst. Er kam früh in diesem Jahr. Im Baum und im Gebüsch vor Giselas Fenster draußen raschelte das Laub, raschelten die Blätter und berührten sich sacht im Wind.

      Verzweiflung überkam Gisela, und in dieser ihrer größten Not fragte sie immerzu nach ihrem Kind. Immer fragte sie nach »ihrem Kindchen«, das ihres war mit diesem besitzanzeigenden, mit diesem besitzergreifenden Anspruch dabei, als wollte sie ihm dadurch das Leben zurückgeben, das es so früh verloren hatte. Irgendwann schlief sie dann trotzdem ein. Doch es brüllten Tiere in ihrem Kopf. Und wie sie aufblickte, war plötzlich ein Mann im Zimmer, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Lächelnd kam er auf sie zu. Sie sagte nichts, bewegte sich nicht, sie wollte nicht, dass ihr dieser Mann so nahe war, so sehr nahe war, viel zu nahe. Und doch regte sich etwas in ihr, als der fremde Mann zu ihr kam und auf sie einredete mit einer Zigarette im Mund. Etwas Kleines regte sich da in ihr, etwas Unscheinbares, Unbewusstes, etwas Ungewusstes. Es regte sich. Und dann wieder nicht. Er redete auf sie ein, und beim Sprechen hielt er seine Zigarette verächtlich zwischen den Lippen wie eine Beschimpfung. Plötzlich war es nicht mehr sie, die in diesem Zimmer war, sondern Judith mit Nurit, ihrem Kindchen, als Puppe in der Hand. Für Sekunden war die Szene wie erstarrt: der fremde Mann mit seiner Zigarette in seinem Mund, das kleine Mädchen in ängstlicher Erstarrung, dem fremden Mann so voll und ganz und ganz und gar schutzlos ausgeliefert und mit der Puppe in ihrem Arm. Da griff er ganz unerwartet und viel zu schnell für ein kleines Mädchen nach der Puppe und riss sie an sich. Dem Mädchen traten Tränen in die Augen, als es sah, wie er so dastand, mit der Puppe in seiner grobschlächtigen Hand. Ob er ihr die Puppe wegnehmen wird, fragte es in unschuldiger Verzweiflung. Natürlich, sagte er und grinste dabei so schaurig schrecklich wie ein verwester Totenschädel. Das Mädchen begriff nicht, warum, und es empfand nur mehr eine große Trauer um das, was man ihm genommen hatte, und wollte nur mehr weinen, Rotz und Wasser in die Bluse ihrer Mutter weinen, schluchzen und schreien, was denn das für eine Ungerechtigkeit war, was für eine Gemeinheit. Da traf dann so unmittelbar, so ganz und gar unmittelbar seine grobschlächtige Hand, zur Faust geballt, auf ihren kleinen Mädchenmund, traf seine Hand als Faust derart fest ihren kleinen Mädchenmund, dass sie taumelig schwankend und taumelig wankend hintenüberfiel, in Ohnmacht fiel. Es brüllten Tiere in ihrem kleinen geschundenen Mädchenkopf, viele wilde Tiere brüllten da in ihrem Kopf, trampelten ihr Bewusstsein nieder und schlugen Trommeln in ihrem Kopf, Trommeln zu einem wahnsinnig zuckenden Tanz in ihrem Kopf, bis Gisela aus dem Fiebertraum erwachte und nach dem kleinen Mädchen suchte, nach ihrem Kind, das sie am Tag der Sommersonnenwende zur Mittagszeit unter größten Schmerzen und mit verhaltenen Schreien geboren hatte. Aber es waren viel zu viele Schatten über ihrem Leben, es waren zu viele Schatten in ihrem Schoß. Langsam, ganz langsam zogen sich die Schatten zusammen. Allmählich verletzte es sehr. Da war der Tod dann überall. Und ihr war lebensmüdeübel. Weil der Kindstod eben lebenslänglich war.

      Ein Tropfen zerrann in ihrem Mund.

      Weil es ihre Schuld alleine war. Weil sie in ihrer Schuld so schuldig war. Weil es ihre Schuld war, ihre Schuld, ihre große, große, überlebensgroße Schuld. Einfach nur, weil sie war und ihr Kindchen nicht mehr war, sang es Sturm in ihrem Kopf, sang es: Kleines du, geh zur Ruh, mach meine Augen zu, und sang dann: übe mit mir das Sterben und brich den Augenblick auf, zerbrich die Stunden auf Morgen, es muss mein Leben sein, es muss mein Sterben mitten im Leben sein, es muss mitten im Leben sein, mitten im Leben, mittendrin, dann versprich mir die Sterne vom Himmel, erlösche sie und zerbrich sie an meinem Grab und stoße meinen Kopf ins feuchte nasse Gras, lass mich die Erde atmen, die Luft ist unter freiem Himmel wie geschliffenes Kristall, und Blutgeschmack staut sich im Mund, Blutgeruch liegt in der Luft, ich will die Stille hören, hörst du, ich will die Stille hören in dieser blutig braunen Nacht.

      Aber wo hatte sie diese Melodie schon mal gehört und wo diese Worte gelesen, fragte sie sich, dann fiel es ihr wieder ein: Sie hatte das Gedicht als junge Frau in ihr Tagebuch geschrieben, als sie in jenem hochsommerheißen Juli in ihrem ersten einsamen und so todunglücklichen Liebeskummer verzweifelt am letzten Rest Hoffnung gehangen hatte, der ihr vom Leben noch geblieben war. Damals hatte sie gedacht, eine Welt würde für sie zusammenbrechen, und es bleibe ihr nur mehr das Sterben. Oder das Schreiben. In dieser Zeit hatte sie begonnen, Gedichte über die Liebe und deren Schmerz in ihr Tagebuch zu schreiben, unter anderem eben auch diese Zeilen, die ihr jetzt in ihrem Fieber wieder in den Sinn kamen. Was war sie doch für ein unglücklicher junger Mensch gewesen, bis ihr Jakob im Leben begegnet war, der sie aus ihrer Lethargie herausgeholt und ihr gezeigt hatte, was im Leben wirklich wichtig war. Mit ihm hatte sie angefangen, körperliche Lust zu empfinden und zu genießen, mit ihm hatte sie begonnen, endlich wieder glücklich zu sein. Trotzdem hatte es Jahre gedauert, bis sie sich dazu entschließen konnten, gemeinsam ein Kind zu gebären, und mit diesem Entschluss hatte sich so ziemlich alles geändert in ihrem Leben. Nichts war mehr