Egyd Gstattner

Alles Irre unterwegs


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gab. Er sah hinab, und es war ihm, als dämmerte es bereits. Er sah hinab, und es war ihm, als sei er unbrauchbar und ohnmächtig. Im Fliegen bedachte Obererlacher mit einem Mal die Elendigkeit seines sicheren Triumphes, und erstmals in seinem bislang so erfolgreichen und selbstverständlichen Leben verwendete Obererlacher zu seiner eigenen Verblüffung die Vorzukunft: Wenn ich gelandet sein werde, wird es wieder kalt sein. Wenn ich gelandet sein werde, wird es wieder eisig sein. Wenn ich gelandet sein werde, wird es wieder finster sein. Wenn ich gelandet sein werde, werden sich die Gebirge über mir wieder zutun. Wenn der 6. Jänner zu Ende gegangen sein wird, wird der 7. Jänner sein: Ein eiskalter, trüber, grauer, kurzer Tag, der aus einer elendslangen Frostnacht hervorgegangen ist und in eine elendslange Frostnacht hineingehen wird. Die Bischofshofner bleiben in Bischofshofen festgefroren, ich werde weitergetrieben von Schanze zu Schanze, von Schlucht zu Schlucht, von Finsternis zu Finsternis, von Winter zu Winter.

      Als es soweit war, in der letzten Flugphase mit dem Drosseln zu beginnen, vom Luftteppich zu rutschen und in den Abgrund hineinzutauchen, spürte Raimund Obererlacher mit einem Mal, daß er in diesem düsteren Nebelloch nicht landen wollte, und weil er ohnehin so gut in der Luft lag und in der Luft einfach alles richtig machte, faßte er sich ein Herz und flog weiter, ließ den Trainer zurück, den Betreuerstab, den Sponsor, die Sprungrichter, das Publikum, die Fernsehkameras, die wichtigtuerischen Reporter und Journalisten mit ihren Mikrophonen und vor Papperlapapp überquellenden Notizblöcken, die ganze zynische Frostschutzmittelbranche und auch die geschmacklosen Vierschanzentourneeheiligendreikönige im Auslauf. Als ob ein guter Stern ihn leitete und ihm den Weg wies, flog Obererlacher über das Bischofshofner Schisprungstadion hinweg, über Bischofshofen selbst, über Oberndorf, Garmisch und Innsbruck, Mailand, Monaco, Marseille, er ließ die Pyrenäen hinter sich, die schon Franz Werfel und Walter Benjamin hinter sich gelassen hatten, Madrid, die königliche Stadt und den Prado mit Goya, El Greco, Hieronymus Bosch, Velasquez und Murillo, das wunderbare Lissabon, Cascais, Benfica, den Tejo und die Rua dos Douradores, Faro an der Costa de la Luz, wahrhaftig den entzückendsten Zipfel des europäischen Festlandes, den ewigen Frühling von Lanzarote, Fuerteventura und Gran Canaria ließ er unter sich, ehe Raimund Obererlacher des Fliegens müde im kleinen Badeort Playa de las Américas im Süden der Insel Teneriffa landete und unter dem enthusiastischen Applaus der Tenerifferinnen und Teneriffer in den weißen Küstensand genau vor dem Hotel La Siesta einen bombensicheren Telemark hinlegte. Raimund Obererlacher schnallte seine Sprungschier ab, zog sich seinen knallgelben Sprunganzug und seine Thermohandschuhe aus, atmete tief durch, als sei sein bisheriges Schluchtenleben bloß ein schlimmer Traum gewesen, widmete schon in der Badehose diesen seinen letzten Sprung rückwirkend dem Land, den Menschen und der Nation, ließ sich vom afrikanischen Kellner an der Poolbar einen Longdrink mit Kirsche und Strohstern servieren, schmierte sich mit Sonnenöl ein, setzte sich samt Mietsombrero in den Klappstuhl in die warme Sonne, vergrub seine Zehen im Sand und blinzelte hinaus zum unendlichen Horizont des karibisch blauen Atlantiks.

      In der Bischofshofner Enge und im Bischofshofner Frost und in der Bischofshofner Finsternis gingen gleichzeitig die Bischofshofnerinnen und Bischofshofner dem Erfrieren nahe, verzagt und frustriert, wenn auch nicht sehr viel mehr frustriert als gewöhnlich, nach Hause in die erstickungsfreundliche Kachelofenwärme, nur der ultragrüne Frosch aus Nagasaki hüpfte ein bißchen vor Freude und aus Unverstand. Die bislang so selbstsicheren und eiskalt kalkulierenden Veranstalter der Vierschanzentournee und insbesondere die Veranstalter des Abschlußspringens in Bischofshofen aber verstanden den Wink, nahmen sich ein Herz und sagten noch am Abend jenes denkwürdigen 6. Jänner die Vierschanzentourneen für alle Zukunft ab. Weitere Maßnahmen sollen folgen.

       Unvergeßliches Mürzzuschlag

      Nichts über Mürzzuschlag schreiben, dachte ich auf der Fahrt nach Mürzzuschlag, nur nichts über Mürzzuschlag schreiben. Im Vorjahr hatte ich nämlich einen Leseauftritt in Saalfelden kurzerhand literarisch wiederverwertet, nachgenützt und in meinen »Nachrichten aus der Provinz« publiziert; anläßlich eines Leseauftritts in Spittal an der Drau habe ich dann aber von der Spittaler Impressaria, die sehr gute Kontakte zur Saalfeldner Impressaria unterhält, vertraulich erfahren, daß mir die Saalfeldnerinnen und Saalfeldner wegen meiner Saalfeldner Indiskretion ziemlich böse seien, bei den Saalfeldnern hätte ich es mir verscherzt, in Saalfelden sei ich eine persona non grata. Und übrigens bitte nichts über Spittal an der Drau. Also habe ich mir vorgenommen, zukünftig etwas weltmännischer zu werden und in dieser meiner Weltmännlichkeit Mürzzuschlag Mürzzuschlag sein zu lassen.

      Soviel kann ich aber bei aller persönlicher Zurückhaltung und Diskretion doch erzählen, daß wenigstens meiner von mir literarisch leidgeprüften Frau Mürzzuschlag für immer unvergessen bleiben wird; nicht so sehr infolge unseres nachmittäglichen Bummels durch die City von Mürzzuschlag, anhand dessen wir feststellen konnten, daß es in Mürzzuschlag einen Schlecker gibt, einen Eduscho, einen Interspar, einen DM und eine Raika, so daß man sich gleich heimisch und aufgehoben fühlt und sich orientieren kann, nur daß der Mürzzuschlager Schlecker kleiner ist als der Schlecker bei uns daheim. Überhaupt ist Mürzzuschlag, wie die Mürzzuschlager Impressaria, selbst nur eine Nebenerwerbsmürzzuschlagerin mit Hauptwohnsitz in Wien, unumwunden zugab, infolge Krise und Konjunkturflaute, Betriebsschließungen und Firmeninsolvenzen erstmals seit dem Krieg unter die Zehntausendeinwohnermarke gefallen und genaugenommen eine sterbende Stadt. Gut, Brahms war seinerzeit hier auf Sommerfrische und hat Internationale Brahmstage hinterlassen, aber irgendwer war immer irgendwo auf Sommerfrische und hinterläßt irgendetwas Internationales. Brahms als Wirtschaftszweig ist langfristig etwas dürr. Wenn der Mürzzuschlager Schrumpfprozeß so weitergeht, wird es in Mürzzuschlag in ein paar Jahren womöglich überhaupt keinen Schlecker mehr geben, und es ließen sich durchaus noch andere Horrorszenarien der Bedeutungslosigkeit malen. Viele Mürzzuschlagerinnen und Mürzzuschlager sind daher bereits heute dem Alkohol von Billa und Spar zugetan. Noch aber sind nicht alle Lichter ausgegangen, denn nach mir selbst betreuten am selben Abend auch noch Wolfgang Bauer, Reinhard P. Gruber und Alfred Kolleritsch die Krisenregion in ihrer weltmännischen Manier.

      Meiner Frau also wird Mürzzuschlag vor allem deswegen unvergessen bleiben, weil sie in Mürzzuschlag Alfred Kolleritsch, der ihr während ihres Germanistikstudiums aufgestoßen war, vor allem, weil ihr die endlosen hyperhermetischen Kolleritschlyrikinterpretationen des Germanisten Berger aufgestoßen waren, erstmals leiben und leben sah und ihr Kolleritsch seinen Roman Die grüne Seite in einer grünen Schürze steckend mit den bedeutungsschweren Worten Am Tag, als das Kochen begann widmete. Denn während ich selbst bloß las und widmete und kassierte, lasen, widmeten und kassierten Bauer, Kolleritsch und Gruber nicht bloß, sondern kochten auch für die anwesenden Mürzzuschlager Feinspitze ein komplettes Menü. Wolfgang Bauer bereitete ein eher trauriges Blattsalatgestrüpp zu, Kolleritsch einen eher distinguierten Burgunderbraten mit eher jugendfreier Polenta, Gruber allerdings schließlich einen eher lustigen Bröselkoch mit heißem Schilcher und integrierten Schnapsvariationen. Zwischen und während und vor und nach den Gängen und zwischen und während und vor und nach den Lesungen wurde ein eher hinterlistiger Zweigelt kredenzt.

      Während ich als Erstlesender zumindest während meiner eigenen Lesung zwangsläufig noch notdürftig nüchtern war, tranken Bauer und Kolleritsch und Gruber vor und nach und zwischen dem Lesen, Bauer machte sich in einem Text übrigens über Spittal an der Drau lustig – ich erwähne das nur der Vollständigkeit halber –, sie lasen über das Trinken und tranken und lasen und tranken und lasen zur Begeisterung der Gäste, welche lauschten und tranken und lauschten und tranken, hervorragende Besoffenenliteratur. Während mir bei aller dionysischer Kulturgemütlichkeit doch immer wieder das am Nachmittag ausgelotete Mürzzuschlager Schicksal in den Sinn kam und aufstieß und ich zwischen den Achteln darüber nachgrübelte, wie und ob die Mürzzuschlagerinnen und Mürzzuschlager noch zu retten seien, hatten Bauer, Kolleritsch und Gruber jeglichen Gedanken an eine etwaige Errettung Mürzzuschlags womöglich infolge genauerer Ortskenntnis offenbar schon lange ad acta gelegt und tranken und tranken und tranken. Da freuten sich die Mürzzuschlager, sie klatschten dankbar und lachten und lallten und sangen im Chor Lieder von der Schönheit Mürzzuschlags, worauf wiederum Bauer, Kolleritsch und Gruber zurückklatschten, älter und gesetzter und weltmännischer geworden.