Robert Musil

Gesammelte Werke


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nur aufbringt, wenn uns etwas sehr wichtig ist.

      Aber man lasse sich dadurch nicht täuschen: die großen Zeiten der Türen sind vorbei! Es ist sehr romantisch, jemand zuzurufen, daß man ihn zur Tür hinauswerfen werde, aber wer hat je wirklich jemand hinausfliegen sehen? Dem Schreiber dieser Zeilen ist das nur ein einziges Mal im Leben zu beobachten geglückt, und das geschah bei einer Bauernrauferei. Da flogen aber bezeichnenderweise gleich der Hinausgeworfene und der Hinauswerfer zum Wirtshaus hinaus, und wenn auch draußen der Befugte den Minderbefugten auf der Erde verdrosch, so hatte der Vorgang doch gar nichts von jener großartigen Einseitigkeit, die seinen Reiz ausmacht, sondern die Kompetenzen ließen sich nicht recht unterscheiden. Man schlägt auch niemand mehr die Tür vor der Nase zu, sondern nimmt schon die telephonische Anmeldung seines Besuchs nicht entgegen, und vor seiner eigenen Tür zu kehren, ist eine unverständliche Zumutung geworden. Das sind längst unvollziehbare Redensarten; freundliche Einbildungen, die uns vielleicht mit Wehmut beschleichen, wenn wir alte Tore betrachten. Historisches Dunkel um das Loch, das der Zimmermann vorläufig noch in der Gegenwart gelassen hat.

      Pension Nimmermehr

[9. August 1928]

      Es gab einmal eine deutsche Pension in Rom. Deutsche Pension, das war damals ein bestimmter Begriff in Italien, wenn er auch sehr verschiedene Sonderwesen umschloß. Mit Entsetzen denke ich heute noch an die Pension Wacker zurück, wo ich ein anderesmal gewohnt habe; alles war dort zum Weinen einwandfrei. Aber in der Pension, von der ich hier spreche, war es nicht so. Als ich ins Büro trat und zum ersten Male nach dem Herrn des Hauses fragte, antwortete mir seine Mutter: «Oh, der kann jetzt nit komme; der ischt grad über seine Hühnerauge!» Ich will ihn Herrn Nimmermehr nennen. Seine Mutter, Frau Nimmermehr also, war eine von einem gewaltigen Mieder umspannte Matrone, deren Fleisch mit den Jahren ein wenig eingegangen war, so daß ihr Korsett rings um sie einen unregelmäßigen Rand in die Luft zeichnete, der mit einer Bluse überzogen war; irgendwie erinnerte das an einen umgekippten, verlorengegangenen Regenschirm, wie man solche zuweilen an verlassenen Orten findet. Ihr Haar wurde zwischen Ostern und Oktober, das heißt außerhalb der Reisezeit, soweit ich das feststellen konnte, nicht frisiert; während der Saison schien es weiß zu sein. Eine weitere Eigentümlichkeit war es, daß ihr Rock einen außerordentlich langen Schlitz besaß, der in der heißen Zeit immer von oben bis unten offenstand. Vielleicht war das kühler; vielleicht war es aber auch eine Besonderheit des Hauses, denn auch Laura, das Stubenmädchen, das bei Tisch bediente, legte zu diesem Zweck zwar eine saubere Bluse an, die hinten zu schließen war, aber während der Zeit, die ich in Rom verbrachte, waren von allen Haken immer nur die zwei untersten geschlossen, so daß darüber das Hemd und weiterhin Lauras schöner Rücken zu sehen war wie in einem Kelch. Trotzdem waren es vorzügliche Wirte, die Nimmermehrs; die altmodisch luxuriösen Zimmer wurden gut gehalten, und was sie kochten, hatte Grazie. Während des Speisens stand Herr Nimmermehr persönlich als Maître d’hôtel neben der Anrichte und leitete die Bedienung, obgleich diese nur aus Laura bestand. Vorwurfsvoll hörte ich ihn einmal zu ihr sagen: «Herr Meier mußte sich selbst einen Löffel und das Salz holen!» – Laura tuschelte erschrocken: «Hat er etwas gesagt?» – Und Herr Nimmermehr legte die Würde eines königlichen Speisenchefs in die leise Zurückweisung: «Herr Meier sagt nie etwas!» – Zu solcher Höhe des Berufs konnte er sich erheben. Er war, soweit ich mich erinnere, groß, mager und kahl, hatte einen wässerigen Blick und Bartfäden, die sich langsam auf und nieder bewegten, wenn er sich mit der Schüssel zu einem Gast neigte, um diesen auf etwas besonders Gutes aufmerksam zu machen. Sie hatten einfach ihre Eigenheiten, die Nimmermehrs; ich glaube übrigens, daß sie das gar nicht wußten, sondern für deutsche Sehnsucht nach dem Süden hielten.

      Ich habe mir alle diese Kleinigkeiten aufgeschrieben, weil ich schon damals das Gefühl hatte: es kehrt nicht wieder. Ich will damit beileibe nicht behaupten, daß es besonders selten und kostbar gewesen sei; eher schon, es war besonders gleichzeitig. Wenn zwanzig Uhren an einer Wand hängen, und man blickt sie plötzlich an, so hat jedes Pendel eine andere Lage; sie alle sind gleichzeitig, jedes zeigt eine andere Zeit, und irgendwo muß doch auch noch die wirkliche Zeit sein, die man nicht sieht: das ist unheimlich. Alle, die wir damals in der Pension Nimmermehr wohnten, hatten dazu unsere besonderen Gründe; wir hatten alle irgendetwas außer der Zeit in Rom zu tun, aber da man in der Sommerhitze täglich nur ein kleines Maß davon tun konnte, so kamen wir immer wieder in unserem Heim zusammen. Da war zum Beispiel der kleine alte Schweizer Herr; er war da, um die Angelegenheit einer noch kleineren protestantischen Sekte zu betreiben, die ausgerechnet gerade im papistischen Rom ein evangelisches Gotteshaus bauen wollte. Er trug trotz der brennenden Sonne immer einen schwarzen Anzug, und am zweiten Westenknopf von oben war die Uhrkette befestigt, an der ein schwarzes Medaillon hing, in das ein goldenes Kreuz eingelassen war. Sein Bart saß links und rechts von ihm; so dünn sproß er aus dem Kinn, daß man ihn erst in einiger Entfernung davon bemerkte, gegen die Backen zu verlor dieser Bart sich ganz, und die Oberlippe war von Natur bartlos. Die Kopfhaare dieses alten Herrn waren blondgrau und unheimlich weich, und seine Gesichtsfarbe hätte wohl rosig sein können, aber da sie weiß war, war sie gleich so weiß wie frisch gefallener Schnee, in dem eine goldene Brille liegt. Dieser alte Herr sagte einmal, als wir uns alle im Salon unterhielten, zu Mme. Gervais: «Wissen Sie, was Ihnen fehlt? Es fehlt Ihnen ein König in Frankreich!» – Ich wunderte mich und wollte Mme. Gervais zu Hilfe kommen: «Aber Sie sind doch Schweizer und selbst Republikaner!» warf ich ein. Doch da wuchs der kleine Mann über seine goldenen Brillenränder hinaus und erwiderte uns: «Oh, das ist eine andere Sache! Wir sind es seit sechshundert Jahren und nicht seit fünfundvierzig!»

      So der Schweizer, der in Rom eine protestantische Kirche baute.

      Mme. Gervais, mit ihrem lieblichen Lächeln erwiderte: «Wenn die Diplomaten und die Zeitungen nicht wären, würden wir den ewigen Frieden haben.» – «Excellent, vraiment excellent!» – nickte der alte Herr wieder befriedigt, mit einem Kichern, das so fein und unnatürlich klang, als hätte er eine junge Ziege im Hals; er mußte ein Bein vom Boden heben, um sich in seinem Fauteuil zu Mme. Gervais zurückwenden zu können.

      So kluge Antworten gab aber auch nur Frau Gervais. Das Profil ihres zarten Tituskopfes auf dem schlanken Hals mit einem köstlichen Ohr geschmückt, hob sich im Speisesaal von dem Fenster ab, vor dem sie saß, als ich sie zum ersten Male sah, wie ein geschnittener rosa Stein von himmelblauem Samt. Mit vollendeten Händen, die Arme mit Messer und Gabel korrekt an sich gezogen, rasierte sie einem Pfirsich, den sie aufgespießt hatte, die Haut vom Leibe. Ihre Lieblingsworte waren: Ignoble, mal élevé, grand luxe und très maniaque. Auch Digestion und digestif sagte sie oft. Mme. Gervais konnte erzählen wie sie, die Katholikin, einmal in Paris in der protestantischen Kirche war. Am Geburtstag des Empereur. «Und ich versichere Sie,» fügte sie hinzu, «es war viel würdiger als bei uns. Viel einfacher. Keine so unvornehme Komödie.» – So war Mme. Gervais.

      Sie schwärmte für die deutsch-französische Verständigung, weil ihr Gatte Hotelier war. Richtiger gesagt, er stand in der Hotelkarriere; man muß alles durchmachen, Speisesaal, Bar, Zimmerdienst, Büro. «Wie ein Ingenieur am Schraubstock arbeiten muß,» erklärte sie. Sie war aufgeklärt. Sie empörte sich bei der Erinnerung daran, wie ein Negerprinz, ein vollendeter Gentleman, in einem Pariser Hotel von Amerikanern boykottiert worden war. – «So machte er bloß, so!» – zeigte sie und brachte ein entzückend verächtliches Rümpfen der Lippe hervor. Die klassischen, vornehmen Ideale der Humanität, Internationalität und der Menschenwürde bildeten in ihr mit der Hotelkarriere eine vollendete Einheit. Allerdings flocht sie auch gerne ein, daß sie als Mädchen mit ihren Eltern Automobilreisen gemacht habe, daß sie mit dem oder jenem Attaché oder Legationssekretär da und dort gewesen seien oder daß schon ihre Bekannte, die Marquise Soundso, das oder jenes gesagt habe. Aber sie machte es nicht weniger vornehm, wenn sie aus der Hotellaufbahn erzählte, daß ein Freund ihres Mannes in einem Haus mit Trinkgeldverbot achthundert Mark im Monat an Trinkgeldern verdient habe, während ihr Mann in einem Haus ohne Verbot nur sechshundert Mark einnahm. Sie hatte immer frische Blumen an sich und reiste mit einem Dutzend kleiner Deckchen, mit deren Hilfe sie aus jedem Pensionszimmer eine kleine Heimat machte. Dort empfing sie ihren Mann, wenn er dienstfrei war, und hatte mit Laura ein Abkommen getroffen, daß ihr diese die Strümpfe wasche, sowie sie sie auszog. Sie war eigentlich eine tapfere Frau. Ich bemerkte einmal, daß ihr kleiner Mund auch fleischig wirken könne, obgleich