Otto Weininger

Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung


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¼ W.

      Dann wird sein bestes sexuelles Komplement nach diesem Gesetze jenes Individuum ω sein, welches sexuell folgendermaßen zu definieren ist:

ω { ¼ M,
also
¾ W.

      Man erkennt bereits in dieser Fassung den Wert größerer Allgemeinheit vor der gewöhnlichen Anschauung. Daß Mann und Weib, als sexuelle Typen, einander anziehen, ist hierin eben nur als Spezialfall enthalten, als jener Fall, in welchem ein imaginäres Individuum X { 1 . M0 . W sein Komplement in einem ebenso imaginären Y { 0 . M1 . W findet.

       Niemand wird zögern, die Tatsache des bestimmten sexuellen Geschmackes zuzugeben; damit ist aber auch die Berechtigung der Frage nach den Gesetzen dieses Geschmackes anerkannt, nach dem Funktionalzusammenhang, in welchem die sexuelle Vorliebe mit den übrigen körperlichen und psychischen Qualitäten eines Wesens steht. Das Gesetz, welches hier aufgestellt wurde, hat von vornherein nicht das geringste Unwahrscheinliche an sich: es steht ihm weder in der gewöhnlichen noch in der wissenschaftlich geeichten Erfahrung das geringste entgegen. Aber es ist an und für sich auch gewiß nicht »selbstverständlich«. Es könnte ja — denkbar wäre es, da das Gesetz selbst bis jetzt nicht weiter ableitbar ist — auch lauten: mμ - m{ω} = Const., d. h. die Differenz im Gehalte an M eine konstante Größe sein, nicht die Summe, also der männlichste Mann von seinem Komplemente, welches dann gerade in der Mitte zwischen M und W läge, ebensoweit entfernt stehen wie der weiblichste Mann von dem seinen, das wir in diesem Falle in der extremen Weiblichkeit zu erblicken hätten. Denkbar wäre das, wie gesagt, doch ist es darum nicht in der Realität verwirklicht. Folgen wir also, in der Erkenntnis, daß wir ein empirisches Gesetz vor uns haben, dem wissenschaftlichen Gebote der Bescheidung, so werden wir vorderhand nicht von einer »Kraft« sprechen, welche die zwei Individuen wie zwei Hampelmännchen gegeneinander laufen läßt, sondern in dem Gesetze nur den Ausdruck eines Verhältnisses erblicken, das in jeder stärksten sexuellen Anziehung in ganz gleicher Weise zu konstatieren ist; es kann nur eine »Invariante« (Ostwald), eine »Multiponible« (Avenarius) aufzeigen, und das ist in diesem Falle die stets gleich bleibende Summe des Männlichen wie die des Weiblichen in den beiden einander mit größter Stärke anziehenden Lebewesen.

      Vom »ästhetischen«, vom »Schönheits«-Moment muß hier ganz abgesehen werden. Denn wie oft kommt es vor, daß der eine von einer bestimmten Frau ganz entzückt ist, ganz außer sich über deren »außerordentliche«, »berückende« Schönheit, und der andere »gern wissen möchte«, was an der Betreffenden »denn nur gefunden werden könne«, da sie eben nicht auch sein sexuelles Komplement ist. Ohne hier den Standpunkt irgend einer normativen Ästhetik einnehmen oder für einen Relativismus der Wertungen Beispiele sammeln zu wollen, kann man es aussprechen, daß sicherlich nicht nur vom rein ästhetischen Standpunkte Indifferentes, sondern selbst Unschönes vom verliebten Menschen schön gefunden wird, wobei unter »rein-ästhetisch« nicht ein Absolut-Schönes, sondern nur das Schöne, d. h. das nach Abzug aller »sexuellen Apperzeptionen« ästhetisch Gefallende verstanden werden soll.

      Das Gesetz selbst habe ich in mehreren hundert Fällen (um die niederste Zahl zu nennen) bestätigt gefunden, und alle Ausnahmen erwiesen sich als scheinbare. Fast ein jedes Liebespaar, dem man auf der Straße begegnet, liefert eine neue Bestätigung. Die Ausnahmen waren insoferne lehrreich, als sie die Spur der anderen Gesetze der Sexualität verstärkten und zu deren Erforschung aufforderten. Übrigens habe ich auch selbst eine Anzahl von Versuchen in folgender Weise angestellt, daß ich mit einer Kollektion von Photographien rein-ästhetisch untadeliger Frauen, deren jede einem bestimmten Gehalte an W entsprach, eine Enquête veranstaltete, indem ich sie einer Reihe von Bekannten, »zur Auswahl der Schönsten«, wie ich hinterlistig sagte, vorlegte. Die Antwort, die ich bekam, war regelmäßig dieselbe, die ich im voraus erwartete. Von anderen, die bereits wußten, worum es sich handelte, habe ich mich in der Weise prüfen lassen, daß sie mir Bilder vorlegten, und ich aus diesen die für sie Schönste herausfinden mußte. Dies ist mir immer gelungen. Anderen habe ich, ohne daß sie mir vorher unfreiwillige Stichproben davon geliefert hatten, ihr Ideal vom anderen Geschlechte zuweilen mit annähernder Vollständigkeit beschreiben können, jedenfalls oft viel genauer, als sie selbst es anzugeben vermochten; manchmal wurden sie jedoch auch auf das, was ihnen mißfiel — was die Menschen im allgemeinen viel eher kennen als das, was ihnen gefällt — erst aufmerksam, als ich es ihnen sagte.

      Ich glaube, daß der Leser bei einiger Übung es bald zu der gleichen Fertigkeit wird bringen können, die einige Bekannte aus einem engeren wissenschaftlichen Freundeskreis, von den hier vertretenen Ideen angeregt, bereits erlangt haben. Freilich wäre hiezu eine Erkenntnis der anderen Gesetze der sexuellen Anziehung sehr erwünscht. Als Proben auf das Verhältnis wirklicher komplementärer Ergänzung ließen sich eine Menge spezieller Konstanten namhaft machen. Man könnte z. B. auf den Gedanken geraten, die Summe der Haarlängen zweier Verliebter sei immer gleich groß. Doch wird dies schon aus den im zweiten Kapitel erörterten Gründen nicht immer zutreffen, indem nicht alle Organe eines und desselben Wesens gleich männlich oder gleich weiblich sind. Überdem würden solche heuristische Regeln bald sich vermehren und dann schnell zu der Kategorie der schlechten Witze herabsinken, weshalb ich hier von ihrer Anführung lieber absehen mag.

      Ich verhehle mir nicht, daß die Art, wie dieses Gesetz hier eingeführt wurde, etwas Dogmatisches hat, das ihm bei dem Mangel einer exakten Begründung um so schlechter ansteht. Mir konnte aber auch hier weniger daran liegen, mit fertigen Ergebnissen hervorzutreten, als zur Gewinnung solcher anzuregen, nachdem die Mittel, die mir zur genauen Überprüfung jener Sätze nach naturwissenschaftlicher Methode zur Verfügung standen, äußerst beschränkte waren. Wenn also auch im einzelnen vieles hypothetisch bleibt, so hoffe ich doch im folgenden mit Hinweisen auf merkwürdige Analogien, die bisher keine Beachtung gefunden haben, die einzelnen Balken des Gebäudes noch durcheinander stützen zu können: einer »rückwirkenden Verfestigung« vermögen vielleicht selbst die Prinzipien der analytischen Mechanik nicht zu entbehren.

      Eine höchst auffällige Bestätigung erfährt das aufgestellte Gesetz zunächst durch eine Gruppe von Tatsachen aus dem Pflanzenreiche, die man bisher in völliger Isolation betrachtet hat und denen demgemäß der Charakter der Seltsamkeit in hohem Grade anzuhaften schien. Wie jeder Botaniker sofort erraten haben wird, meine ich die von Persoon entdeckte, von Darwin zuerst beschriebene, von Hildebrand benannte Erscheinung der Ungleichgriffeligkeit oder Heterostylie. Sie besteht in folgendem: Viele dikotyle (und eine einzige monokotyle) Pflanzenspezies, z. B. Primulaceen und Geraniaceen, besonders aber viele Rubiaceen, lauter Pflanzen, auf deren Blüte sowohl Pollen als Narbe funktionsfähig sind, aber nur für Produkte fremder Blüten, die also in morphologischer Beziehung androgyn, in physiologischer Hinsicht jedoch diözisch erscheinen — diese alle haben die Eigentümlichkeit, ihre Narben und Staubbeutel auf verschiedenen Individuen zu verschiedener Höhe zu entwickeln. Das eine Exemplar bildet ausschließlich Blüten mit langem Griffel, daher hochstehender Narbe und niedrigen Antheren (Staubbeuteln): es ist nach meiner Auffassung das weiblichere. Das andere Exemplar hingegen bringt nur Blüten hervor mit tiefstehender Narbe und hochstehenden Antheren (weil langen Staubfäden): das männlichere. Neben diesen »dimorphen« Arten gibt es aber auch »trimorphe«, wie Lythrum salicaria, mit dreierlei Längenverhältnissen der Geschlechtsorgane: außer der Blütenform mit langgriffeligen und der mit kurzgriffeligen findet sich hier noch eine mit »mesostylen« Blüten, d. i. mittellangen Griffeln. Obwohl nur dimorphe und trimorphe Heterostylie den Weg in die Kompendien gefunden haben, ist auch damit die Mannigfaltigkeit nicht erschöpft. Darwin deutet an, daß, »wenn kleinere Verschiedenheiten berücksichtigt werden, fünf verschiedene Sitze von männlichen Organen zu unterscheiden seien«. Es besteht also auch die hier unleugbar vorkommende Diskontinuität, die Trennung der verschiedenen Grade von Maskulität und Muliebrität in verschiedene Stockwerke nicht allgemein zu Recht, auch in diesem