Jakob Wassermann

Melusine


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      Mely sah ihm entsetzt in die Augen, – so sehr fassungslos, daß Fräulein von Erdmann eine mitleidige Handbewegung machte. Dann stand sie auf und sagte mit erstickter Stimme: „Frau Bender –.“ Es war ein Hilferuf. Aber ohne sich umzublicken, eilte sie aus dem Zimmer.

      Im Korridor saß die Hauskatze auf einem Stuhl und putzte sich. Dann begegnete Mely Vidl Falk, der an seiner Thür stehen blieb, um sie vorbeizulassen. Er grüßte, doch beachtete sie ihn nicht, und er schaute ihr nach mit einem zweifelnden und verwunderten Blick.

      In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und blieb unbeweglich sitzen. Sie sah hinaus in die dunkle Novembernacht, auf die regenglänzende Straße und auf die sturmgepeitschten Bäume des Gartens. Sie schauerte zusammen und dachte: wenn ich doch meinen Shawl hätte. Dabei hätte sie nur aufstehen und zum Sofa gehen brauchen, wo er lag. Wie schön haben es andere Mädchen, sinnirte sie; sie verlieben sich und verheiraten sich. Dann sind sie glücklich. Aber sie sehnte sich durchaus nicht nach dem, was man Liebe nennt, – ganz im Gegenteil. Dies Gefühl hatte sie bisher in so abschreckender Gestalt auftreten sehen, daß sie nur Geringschätzung dafür hatte. Nur der Wunsch, beschützt zu werden, lebte in ihr, und dann zwei Empfindungen: die der Verlassenheit und eine nagende Reue.

      Es klopfte und Frau Bender trat ein. „Warum machen Sie denn kein Licht, Fräulein Mirbeth?“ rief sie erschrocken. Sie sah nur einen regungslosen Schatten am Fenster und ging darauf zu. Sie nahm Melys Hand und sagte herzlich: „Es thut mir so leid, Sie können mir’s gar nicht glauben. Nein, so gemein, so gemein! Regen Sie sich nur nicht auf. Ich habe ihm schon gekündigt, und morgen wird er ausziehen. Jetzt kommen Sie mit und trinken noch ein Glas Punsch mit mir und Helene.“

      Mely schüttelte den Kopf. „Nein, ach nein, heute nicht.“ Dann sagte sie leise und preßte die Hand der vor ihr Stehenden: „Frau Bender, es ist schrecklich, daß er das gesagt hat. O, ich schäme mich so sehr, ich schäme mich. Alle Leute glauben es, ich weiß. Aber es ist mir egal, alles ist mir jetzt gleich. Raten Sie mir, Frau Bender, was soll ich thun? Ich – –“ Sie stockte, und trotz der Dunkelheit wandte sie sich ab.

      Frau Bender tröstete in ihrer weichen, hinreißenden Art. Sie mußte nicht nach Worten suchen, sondern sie flossen natürlich und eindringlich von ihren Lippen. Doch Mely wurde dadurch nicht beruhigt. Je mehr die kleine Frau sprach, desto erregter wurde Mely. Die Leiden, die sie in sich verschlossen halten mußte, drückten ihr das Herz ab; denn sie hatte den Trieb, sich mitzuteilen. Frau Bender irrte auf ihr eigenes Leben ab, ja, sie verlor sich in Jugenderinnerungen. Sie vergaß, wo sie war, und berichtete mit feuriger Hingabe von ihrem Elternhaus, von ihrer Heirat und von der Flucht ihres Mannes nach Amerika. Schließlich erging sie sich in so heftigen Klagen, daß sich nun Mely genötigt sah, zu trösten und zu ermutigen. „Kommen Sie, Frau Bender, wir wollen vorgehen. Ich will noch bei Ihnen bleiben,“ sagte sie, ihren Vorsatz vergessend.

      „Ja, ja, trinken wir, ich werde einen famosen Punsch brauen,“ entgegnete die kleine zapplige Dame, plötzlich heiter werdend.

      Als sie im Korridor vor der Thüre des Fräuleins von Erdmann vorbeigingen, hörten sie pathetische Worte: „Ja, lieber Doktor, das ist der blutige Hohn meines Lebens! Er schleicht hinter mir her und wird mich verschlingen. Bitte, – nein, bleiben Sie noch, Sie wissen ja, wie Sie mich beglücken, mit diesen Genieaugen, Sie Abscheulicher!“

      Die Lauscherinnen verschlossen beide den Mund mit den Händen, um nicht herauszuplatzen. Dann flohen sie auf den Zehen.

      Mely lachte viel und übermäßig in den zwei Stunden, die sie noch mit den Damen vom Haus verbrachte. Ja, sie trieb zum Schluß Narrenspossen, und sie schien alles vergessen zu haben, was über sie ergangen war. Sie war begeistert für diese gewinnende, gutherzige Frau Bender und diese zutrauliche, kluge Helene. Bessere Menschen giebt es gar nicht, dachte sie sich.

       Inhaltsverzeichnis

      Am andern Morgen, es war ein Samstag, erhielt Mely ein Billet vom Oberst. Mit zitternden Händen erbrach sie das Couvert. „Liebe Melusine,“ schrieb er. „Ich bitte Dich heute zum Abendessen, da ich mittags durch den Direktor Skolny verhindert bin. Ich erwarte von Dir, daß Du auch weiterhin ein gutes Kind sein wirst. Beifolgendes Epheublatt erhielt ich einst aus Genf. Erinnerst Du Dich? Herzlichen Gruß. Wolfgang.“

      Der Regen fiel in Strömen, und in den Zimmern hatte man zum ersten Mal geheizt. Als um elf Uhr die kleine Dele, Frau Benders sechsjähriges Töchterchen, aus der Schule kam, hatte sie Wangen rot wie Kirschen.

      „Na, du siehst schön zerzaust aus,“ sagte Mely, nahm sie bei den Armen und küßte sie ab.

      „Ja, die dummen Buben laufen uns immer nach und lassen uns net in Ruh’,“ entgegnete das Kind und schob die Unterlippe noch weiter heraus, als sie von Natur schon vorhing. „Ich werd’s jetzt meiner Lehrerin sagen.“

      „Recht so, Schatz,“ pflichtete Mely bei, die mit dem Mädchen völlig zum Kind wurde. Dele sagte auch du zu ihr.

      „Ich möchte nur wissen, was sie von uns wollen,“ fuhr die Kleine fort. Sie runzelte klug die Stirn. „Du,“ sprang sie plötzlich ab, „heut früh hat die Puzzi Junge bekommen, hast es gesehen?“

      Mely verneinte. Dele zog einen Zettel aus der Tasche, der mit den steilen, zurückgebogenen Schriftzügen Helenes beschrieben war. Es stand darauf: Die Geburt von vier gesunden Jungen zeigen hocherfreut an: Frau Puzzi, Kater Jonas. Mely lachte.

      „Wundernette Katzerln sind’s,“ sagte Dele und setzte sich der großen Kameradin auf den Schoß. „Viere. Ich war dabei. Ich hab’s ganz genau gesehn.“ Sie kicherte geheimnisvoll und fragte dann flüsternd: „Du (sie begann fast triumphirend jeden Satz mit diesem du), kommt zu den Katzen auch der Storch?“

      „Natürlich,“ gab Mely zur Antwort.

      „Gell, zu denen kommt der Katzenstorch?“

      Als Mely laut lachte, wußte das Kind nicht, was es vor Verlegenheit anfangen sollte, und feuerrot werdend, gab es dem durch diese Fragen verblüfften jungen Mädchen einen schallenden Kuß.

      Gegen Mittag wurde vor der Korridorthüre ein ungestümes Bellen laut. „Jetzt kommt Pitt!“ rief Mely freudig und sprang hinaus, um dem Hund zu öffnen. Es war ein Foxterrier, der dem Oberst gehörte, aber fast nur Mely gehorchte. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß. Pitt wollte gar nicht aufhören, mit seinem Schwanzrestchen hin- und herzupendeln. –

      Drei Tage vergingen. Mely hatte alles unterlassen, um ihre Lage irgendwie zu klären. Nicht einmal nachgedacht hatte sie darüber. „Nicht daran denken“ war in solchen Fällen ihr ganzes Nachdenken, und immerfort war sie geschäftig, um sich zu betäuben. Unstät, beklommen und furchtsam verbrachte sie diese Tage.

      Am Mittwoch schrieb der Oberst wieder, aber an Frau Bender. Er schrieb, daß sich Fräulein Mirbeth von ihm losgesagt habe, und daß er ihr dies mitteile, um spätere Gelddifferenzen zu vermeiden; für diesen Monat wolle er noch bezahlen, doch lehne er für die Zukunft jede Verbindlichkeit im Voraus ab.

      Als Mely dies erfuhr, lächelte sie verächtlich, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich zum Tod elend. Nun steh’ ich da und habe niemand auf der Welt, dachte sie. Kein Mensch wird sich um mich kümmern, und ich werde zu Grund gehen. Diese Frau Bender macht schon ein recht langes Gesicht. Ja, so sind eben die Leute. Dies alles dachte sie in einem Augenblick, während Frau Bender mit dem Brief vor ihr stand und sie etwas dumm anlächelte. „Losgesagt – losgesagt,“ murmelte sie finster. „Ich bin halt nimmer hinüber, das ist alles.“ Eine dumpfe Wut wachte in ihr auf. „Sehn Sie, Frau Bender, so werd’ ich behandelt,“ sagte sie weich, als ob sie Vertrauen und Glauben suche. Aber dabei überlegte sie im Innern: lauter Feinde sind das. Diese Frau, dann Helene, ja sogar das Kind, – lauter Feinde. Einem Funken gleich fiel ein verzweifelter Entschluß in ihre Seele. Ich werde schon etwas thun, schloß sie ihre Betrachtungen. Heute nachmittag, – oder nein, morgen ...

      Dies