sah von ihrem luftigen Sitz voll Andacht auf den Portier, der dieses Wunder vollbracht. Jetzt stand es bei ihr bombenfest, wenn sie mal groß war, wollte sie aber ganz bestimmt Portier werden.
Es war gut, daß das Blumenbrett Gitterstäbe hatte, sonst wäre Annemie schon längst auf den Hof geplumpst. Die kleine Neugierige kniete auf dem Blumenbrett, um besser sehen zu können, und streckte das Stubsnäschen durch die Eisenstäbe. Auch alle Puppen hatte sie an dem Gitter aufgestellt, denn da unten war es jetzt einfach herrlich.
Karle, der krummbeinige Portierjunge, ließ ein Papierschiff in dem Springbrunnensee schwimmen. Paule, sein Bruder, peitschte den Kreisel, daß er von einer Ecke des Hofes in die andere hopste. Amanda lief auf Rollschuhen einher, daß es sich wie ein Schnellzug anhörte. Und die übrigen Kinder umstanden die schwarze Grete, die geschwätzige Elster, die in einem Käfig an der Portierloge wohnte und so stolz tat, als ob sie selbst der Pförtner sei. Sobald einer das Haus betrat, rief sie mit krächzender Stimme höflich: »Wohin wünschen Sie, mein Herr?«, und gleich darauf weniger höflich: »Halt’ den Dieb – halt’ den Dieb!«
Ach, wer doch auch da unten sein dürfte! Mutti erlaubte es nicht, daß ihr Nesthäkchen auf dem Hof spielte, und das fand es dort doch tausendmal lustiger als im Tiergarten.
Plötzlich wurde die kleine Gesellschaft drunten noch lebhafter als zuvor. Das Interesse für die schwarze Grete war mit einemmal verflogen, all die blauen, grauen und braunen Kinderaugen wandten sich mit seligem Aufleuchten einem ziemlich zerlumpten, alten Manne zu, der den Hof betrat. Auf dem Rücken trug er einen großen Kasten, und in der Hand ein hölzernes Gestell.
»Der Leiermann – der Leiermann ist da!« klang es jubelnd vom Hof herauf.
Auch Annemie klatschte vor Freude in die Hände, und sämtliche Köchinnen machten ihre Küchenfenster auf und guckten heraus.
Der Leiermann stellte sein Gestell auf, setzte den Kasten darauf, drehte die Kurbel »Dudel-Dudel-Leierkasten« – und da begann das Konzert auch schon.
Erst ein lustiger Walzer, die Kinder drunten im Hof umschlangen sich paarweise und begannen zu tanzen. Geheimrats dicke Köchin wiegte sich bei ihrer Speise in den Hüften, die Auguste ließ ihr Plätteisen über die Wäsche tanzen, der blasse Rolf trommelte dazu an die Fensterscheibe, und selbst die schwarze Grete schlug zierlich mit den Flügeln den Takt. Annemie aber drehte ihre Puppen nach der schönen Musik und dachte voll Inbrunst: »Ach, wenn ich doch nicht die Annemie Braun, sondern ein Portierkind wäre, und da unten mittanzen könnte!«
Als der Leiermann geendet, flogen aus vielen Fenstern in Papier gewickelte Geldstücke herunter, die er dankend aufsammelte, wobei ihm die Kinder halfen.
Auch Annemie lief zu Mutti, die mit Fräulein die Wintersachen gegen Motten verwahrte. Da roch es ganz abscheulich nach Kampfer und Pfeffer und krabbelte in dem Näschen.
»Hatschi – hatschi,« nieste die Kleine, »Mutti, ach, bitte, schenke mir doch einen Sechser für den Leiermann unten – hatschi – hatschi.«
Mutti lachte über ihr niesendes Töchterchen und gab Nesthäkchen das gewünschte Geldstück.
Eifrig lief die Kleine damit zu ihrem Gärtchen zurück. Sie wickelte das Geld in Zeitungspapier und – hast du nicht gesehen – da sauste es durch die Luft, dem kleinen steinernen Nackedei im Springbrunnen gerade an den Kopf. Hops, ging die Reise weiter in den Springbrunnen hinein, daß das Wasser aufspritzte.
»Mein Geld, mein Geld ist ertrunken!« schrie Annemie herab zu den dudelnden Polkaklängen.
Der krummbeinige Portierkarle hörte mit tanzen auf, fischte das Geld aus dem flachen See und legte es auf den Leierkasten.
»Schönen Dank auch, kleines Fräulein!« rief der Leiermann herauf und nahm sogar seinen verbeulten Hut ab. Dann spielte er einen feinen Galopp.
Hoppla – wie die Böcklein sprangen die Jören unten auf dem Hof durcheinander – hoppla – noch viel ausgelassener hopsten oben die Puppenjören.
Gerda galoppierte mit dem wilden Kurt das Blumenbrett entlang, da rief sie plötzlich: »Mein Schuhchen – mein Goldkäferschuhchen!«
Sie sowohl wie ihr Mütterchen spähten erschreckt durch das Eisengitter herab. Da sahen sie gerade noch ein kleines, goldbraunes Ding unten auf dem Rasen landen.
Ratlos sahen die beiden sich an.
Annemie fand zuerst die Sprache wieder.
»Das kommt davon, Gerda, wenn man so wild ist! Nun kannst du sehen, wie du dein hübsches Schuhchen wiederbekommst. Am Ende denkt der Leiermann noch, es ist Geld und wirft es in seine Büchse«, so schalt die kleine Puppenmama.
Die Puppe machte ein ganz zerknirschtes Gesicht, es zuckte weinerlich um ihre Mundwinkel.
Da tat Annemie ihr Nesthäkchen leid. Sie nahm es auf den Arm und sagte: »Komm, wir wollen Hanne bitten, daß sie dir das Schuhchen wieder holt.«
Aber die Küche war leer, Hanne mußte einholen gegangen sein. Auch Frida war nirgends zu erblicken.
Noch einen Augenblick überlegte Annemie zaudernd, dann stand sie an der Küchentür und – husch – husch – da war sie auch schon mit ihrer Gerda die Hintertreppe hinab.
Ihr Herz klopfte so laut, daß Gerda es hören konnte, denn die Kleine wußte sehr wohl, daß sie etwas Verbotenes tat. Aber sie beschwichtigte die Stimme ihres Gewissens, die sie warnte und ihr riet, umzukehren: »Ach was, ich bin ja gleich wieder oben – Fräulein merkt es überhaupt gar nicht bei ihren Motten!«
Als Annemie jedoch erstmal auf dem Hofe unter den ausgelassenen Kindern war, da hörte sie überhaupt nicht mehr auf die mahnende Stimme in ihrer kleinen Brust.
Nein, war das fidel hier unten, noch tausendmal lustiger, als es sich vom Blumenbrett aus angesehen hatte.
Längst hatte Gerda ihr Goldkäferschühchen wieder an und wäre am liebsten schnell wieder hinaufgelaufen, aber ihre kleine Mama dachte nicht daran. Die ließ sich laut jauchzend von dem kleinen steinernen Nackedei im Springbrunnen bespritzen, und auch Gerda bekam eine Dusche ab. Dann drehte sie sich mit dem krummbeinigen Karle im Polka. Drauf tanzte sie mit Paule sogar einen Two-step, und schließlich hopsten die nackten Beinchen von Doktors Nesthäkchen am übermütigsten unter all den anderen Kinderbeinen umher.
Amanda hatte Gerda auf den Arm genommen und strich bewundernd über ihr feines Kleid, und all die anderen kleinen Mädchen standen herum und blickten voll Neid auf die schöne Lockenpuppe. Aber Gerda konnte sich über die Bewunderung der fremden Kinder nicht freuen, sie hatte ein zu schlechtes Gewissen, weil Annemie gar nicht mehr daran dachte, umzukehren. Denn schließlich trug das entsprungene Goldkäferschuhchen doch die Schuld an ihrem Fortlaufen. Himmel, wenn man sie beide oben vermißte.
Der Leiermann hatte inzwischen seinen Kasten wieder aufgeschnallt und machte Miene, ein Haus weiterzugehen. Die Kinder liefen alle hinterdrein.
Annemie, die sich gerade mit der schwarzen Grete unterhielt und sich darüber totlachen wollte, daß diese »mein Herr« zu ihr sagte, überlegte keinen Augenblick. Sie faßte ihre Gerda an die Hand, trotzdem dieselbe durchaus nicht mit wollte, und lief hinter den fremden Kindern her.
Nicht an Muttis Verbot dachte das unartige Kind, nicht an ihre Angst und Sorge. Annemie dachte einzig und allein an den Leierkasten.
Währenddessen trat Fräulein oben in die Kinderstube und sagte: »So, Annemiechen, jetzt bin ich fertig, nun wollen wir uns anziehen und spazierengehen.«
Aber keine Annemie saß auf dem Blumenbrett.
Gewiß hatte sich der Kobold wieder irgendwo versteckt, und Fräulein sollte sie suchen. Aber weder unter dem Bett, noch hinter dem Spielschrank, ja, nicht einmal hinter dem Garderobenvorhang, der doch den beliebtesten Versteck bildete, war Annemie zu finden. Ob Fräulein auch noch so viel rief: »Annemiechen, Kind, es wird zu spät!« keine Annemie kam zum Vorschein.
Fräulein begann das Herz vor Angst zu schlagen. Vom Blumenbrett konnte das Kind nicht heruntergefallen sein, es war ja bis obenhin vergittert.