Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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wildem Wein umklettert, für das Ilse sofort eingenommen war. Aus dem zweifenstrigen Zimmer genoß man den Blick auf die altersgraue Burg Hohentübingen mit ihren gewaltigen Quadermauern, Türmen und Zinnen. Das danebenliegende einfenstrige Zimmer ging nach der anderen Seite hinaus, in das Burggärtchen, vom Silberband des Neckars umschlungen. So ergab es sich ganz von selbst, daß die beiden Cousinen das große Zimmer bezogen, und Annemarie das kleine mit dem Neckarausblick. Und schon am ersten Tage meinte Doktors Nesthäkchen mit seinem glücklichen Temperament, an allem etwas Gutes herauszufinden, daß es eigentlich viel besser sei, daß sie nicht alle drei in einem Zimmer hausten. Marlene war ihr nämlich zu ordentlich, oder, wie Annemarie es ausdrückte, zu »pedantisch«. So konnte sie wenigstens unbekümmert ihre Siebensachen auspacken und einräumen, wie es ihr beliebte, ohne von der »Gouvernante Marlene« dabei kontrolliert zu werden. Während Marlene ihre mit rosa Bändchen gebundene Wäsche, wie mit dem Zirkel abgemessen, in die Kommodenkästen fein säuberlich schichtete, und Ilse, die eigentlich von Natur aus etwas liederlich war, sich redlich Mühe gab, es ihrem Vorbild nachzutun, war Annemarie längst mit allem fix und fertig. Am Fenster stand sie und schaute lachend in das Gärtchen hinab, in dem zwei allerliebste Kinder, ein braunlockiger Bub und ein flachshaariges Dirnlein, sich gerade tapfer verprügelten.

      »Still bischt!« rief das vielleicht um zwei Jahre ältere Mädel und hielt dem schreienden kleinen Bruder energisch den weit aufgerissenen Mund zu.

      »Garscht’ges Mädle, wart’, ich sag’s dem Mutterli«, heulte der Kleine, kaum daß er wieder Atem schöpfen konnte.

      Verschmitzt griff die junge Horcherin oben am weinumrankten Fenster nach ihrem Täschchen, und hui – da ging ein Bonbonregen auf die erschreckt innehaltenden kleinen Kämpfer herab.

      »Lueg, Vronli, ‘sch regnet Zuckerle.« Mit hellem Jubellaut erwachte der Bub aus seiner Erstarrung. Der süße Regen wurde in der Mütze, den Händchen und dem Schürzchen jauchzend aufgefangen.

      »Kaschperle, das musch der heilige Nikolaus gewesche sein.« Ein wenig scheu blickte die größere Schwester zum Himmel empor, aus dem es plötzlich »Zuckerle« regnete.

      Droben am Fenster, verborgen von den Weinranken, stand der heilige Nikolaus und lachte wie ein Kobold.

      Die Freundinnen kamen verwundert aus dem Nebenzimmer herbei. »Annemie, was gibt es denn?« Neugierig spähten sie ihr über die Schulter in das Gärtchen hinab. Dort saß ein brauner Bub und ein flachshaariges Dirnlein, in seliger Gemeinschaft Bonbons lutschend. Aller Streit, aller Hader war vergessen.

      »Dasch ischt dasch Vronli und dasch Kaschperle, unsere Wirtschkinder. Und hier stell’ ich euch den heiligen Nikolausch vor, der Zuckerle regne lascht.« Doktors ausgelassenes Nesthäkchen sprach, seitdem es in Schwaben war, nur noch in Schschlauten, selbst da, wo der schwäbische Dialekt es gar nicht erforderte.

      »Annemarie, was stellst du auf – bist du denn überhaupt schon mit Auspacken und Einräumen fertig?« Marlene blickte erstaunt auf den leeren Koffer.

      »Ischt schon alles auf’sch beschte erledigt«, behauptete Annemarie stolz.

      »Wenn du noch irgendwo ein Plätzchen übrig hast, darf ich dir ein Paar Stiefel in Pension geben, Annemarie?« fragte Ilse. »Wir sind mit unserm Platz ziemlich beschränkt.«

      »Beschränkt seid ihr – o weh – und mit solchen Mädels muß ich zusammen hausen. Aber gebt nur her, was ihr nicht unterbringen könnt.« Bereitwillig öffnete Annemarie Kästen, Schübe und Schrank. »Hier ist noch massenhaft Platz – bei mir kann Schutt abgeladen werden.«

      »Ja, so sieht es hier auch aus!« entfuhr es Marlene entsetzt. »Um’s Himmels willen, Annemie, das nennst du Ordnung? In deinen Kästen liegt ja alles wie Kraut und Rüben durcheinander, als ob ein Erdbeben stattgefunden hat.«

      »Ach, und die Bücher liegen auf den dünnen weißen Blusen, hier hat sich ein Halbschuh in den Kleiderschrank verlaufen – hahaha, und deine Hüte hast du sogar in den Stiefelschrank gesperrt.« Selbst der Ilse kam das Durcheinander denn doch zu bunt vor.

      »Das versteht ihr nicht, Kinder. Genialität vermag euer hausbackener Sinn nicht zu fassen. Studentinnen müssen Schneid haben und dürfen keine ledernen Philister sein. Das gehört nun mal zum freien Studentenleben.« Unbekümmert schwang sich Annemarie auf den Tisch und sah mit baumelnden Füßen und eingeschlagenen Armen zu, wie Marlene sachgemäß in das Chaos eingriff, um einigermaßen Ordnung hineinzubringen.

      »Heilige Ordnung, segensreiche Himmelstochter, die das Gleiche frei und leicht und freudig bindet« – deklamierte Doktors Nesthäkchen von seinem erhöhten Platz herab voller Pathos, auf die Wäsche zusammenbindende Freundin weisend. »Uns trennt sie, die segensreiche Himmelstochter. Ich bin glücklich, daß ich nicht dein Zimmergenosse bin, Marlene, sondern dich jederzeit, wenn mir dein Ordnungssinn zu sehr ausartet, an die Luft setzen kann.«

      Die Freundin nahm diese wenig gastfreundlichen Worte nicht weiter übel.

      »Vorläufig artet deine Liederlichkeit aus, Annemie. Deine Mutter hat mir ihr Küken auf die Seele gebunden –.«

      »Nur wegen meiner Unbedachtsamkeit, von Ordnung war nicht die Rede.«

      »Ja, glaubst du, daß es deiner Mutter hier in deiner Räuberhöhle gefallen würde, Annemie?« mischte sich jetzt auch Ilse, die inzwischen die Hüte von den Stiefeln gesondert hatte, in die Verhandlung.

      »Nee, ganz gewiß nicht«, gab Annemarie ehrlich zu. »Schaudern würde es sie. Aber sie kennt auch keine Studentenbuden. Bei den Jünglingen sieht es sicher nicht besser aus. Im Gegenteil, da kommt noch die Tabakspfeife, das Rapier und das Zerevis dazu.«

      »Wir bleiben Mädchen, ob wir nun studieren oder nicht, unsere Weiblichkeit darf darunter nicht leiden«, sagte Marlene ernster.

      »Die geborene Gouvernante – total hops! Komm her, du weibliches Wesen, hier hast du meine große Wirtschaftsschürze, die ich nur dir zu Ehren mitgenommen. Als Zeichen deiner Würde lege ich dieses Zepter in deine Hände, Marlene«, lachte die unverbesserliche Annemarie.

      »Wer die Wirtschaftswoche hat, benutzt die Schürze«, entschied Marlene. »Abwechselnd hat eine jede eine Woche lang für unsern Junggesellenhaushalt zu sorgen.«

      »Annemie auch?« Ilse schien nicht sehr zuversichtlich. »Ich halte es für geratener, wenn wir Annemie nicht in den Schürzenbund mit aufnehmen, sonst serviert sie uns, nach den heutigen Erfahrungen, abends am Ende sauern Hering mit Schokoladensoße!«

      »I wo, mit Stiefelwichse!« Annemarie, der Faulpelz, war durchaus mit Ilses Vorschlag einverstanden.

      Aber nicht Marlene. »Abgelehnt! – Annemie muß zur Ordnung und zum hausfraulichen Sinn von uns erzogen werden. Das ist ebenso wichtig für sie, wie Kolleg zu hören.«

      »Unser Kolleg beginnt erst morgen. Ich hab’ heute schon gerade genug Vorlesungen von euch zu hören bekommen und ziehe es vor, mich mit dem Vronli und Kaschperle unten im Garten weiter zu unterhalten. Wenn ihr aus der Wüschte hier eine Oase geschaffen habt, dürft ihr nachkommen.« Sie wollte zur Tür hinaus.

      Aber Ilse hatte bereits den Weg verstellt. »Jawoll, das könnte dir so passen, uns deine Arbeit aufzubuckeln und selbst auf der Bärenhaut zu liegen. Willst du das ebenso machen, wenn du mal verheiratet bist? Der arme Mann!«

      »Dein Mitleid ist ganz überflüssig, Ilse. Ich habe mich feierlich dem Zölibat ergeben. Also kann ich so liederlich und so faul sein wie ich will. Viel Vergnügen zu eurer Herkulesarbeit!« Lachend war sie zur Tür hinaus.

      »Eine wundervolle Mitgabe fürs Leben ist doch diese unbekümmerte Heiterkeit, wie Annemie sie besitzt.« Nachdenklich sah Marlene hinter der Davoneilenden her.

      Schon schallte Annemaries helle Stimme vom Gärtchen herauf.

      »Grüß Gott, Frau Kirchmäuser, schön haben Sie’s hier. Und unsere Bude ist ganz famos.«

      »Bei Ihne daheim ischt’s gewisch auch arg schön«, meinte die Wirtin freundlich.

      »Gewisch nit«, beteuerte Doktors Nesthäkchen. »Berlin