Gerhard Totschinger

Viva l'Italia


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ist er Privatier. Das Schneiderhandwerk hat er mit Freuden ausgeübt – auch für prominente Kunden wie den Grafen Zorzi, guter Geist der jungen Biennale, oder für den Sohn des Komponisten Ermanno Wolf-Ferrari, er war Maler. Und weil er keine Lehrlinge mehr bekam, weil das Handwerk schon in den frühen Sechzigerjahren da und dort dem Tourismus weichen musste, hat er aufgegeben und sich mit dem väterlichen Erbe ein Haus mit kleinem Hotel gekauft.

      Dort habe ich immer wieder gewohnt, am Campo Santa Maria Formosa, und habe mich nach und nach mit dem Hausherrn, dem Nachtportier, mit allen hier angefreundet. Wenn ich abends zurückkam vom Bummel, von der Trattoria oder Cantina, oder zumeist von der Piazza, so hat immer irgendein Alberto oder Massimo gewartet, oder Ruggero selbst. Die Flasche Wein stand stets schon bereit – und dann wurde geredet. So habe ich vieles von der Geschichte Venedigs erfahren, das in keinem Reiseführer zu finden ist, habe auch Fragen beantwortet und habe, auch nicht unwichtig, viel gelacht.

      Eines Tages kam ich wieder an und spürte im Verhalten meiner Hotelgastgeber eine getragene Feierlichkeit. Ich war pünktlich angekommen, direkt in das Hotel gegangen, ohne Bar-Intermezzo oder Umwege. Ruggero selbst geleitete mich die üblichen zwei Stiegen hinauf, mir folgte der jugendliche Boy mit meinem Gepäck.

      Dann machten wir vor demselben kleinen Zimmer Halt wie immer – und Ruggero blickte mich erwartungsvoll an. Sicher, dachte ich, haben sie neu tapeziert oder das Bad hat jetzt goldene Fliesen oder was auch immer. Wir gingen nicht weiter, alle drei. Ruggero gab mir den Zimmerschlüssel, auch wie immer, aber da war ein neuer, schwerer Anhänger dran, und als ich aufsperrte, stand ich in der Tat in einem komplett neu ausstaffierten Raum. Da waren nicht nur die Tapeten tatsächlich neu, auch die Vorhänge der beiden Fenster, da und dort machte sich an der Decke etwas Stuck bemerkbar, wie man ihn nicht nur in Venedig, in Plastik gegossen, kaufen kann. Aber das störte mich nicht, es hat sogar ganz schön ausgesehen. Mein Freund hat eben Geschmack, als einstiger Tailleur.

      »Bravo«, sagte ich, »da habt ihr viel Arbeit gehabt!«

      Ruggero lächelte und wies auf meinen Schlüsselanhänger. Er war aus Messing, schwer und groß, nicht leicht zu verlieren und auf ihm stand eingraviert: Salone di Gerardo.

      Da war ich gerührt. Und so bezahlte ich nun im Monat, was ich sonst für eine einzige Nacht bezahlt hatte. Also kam ich noch öfter hier an, saß noch öfter Stunden nach meiner Heimkehr mit einem der Herren bei Wein und habe noch mehr von Venedig erfahren.

      Ruggeros Lieblingsthema ist die Philosophie. Gerade die Deutschen und die Österreicher haben es ihm angetan, allesamt: Husserl, Heidegger, Popper, natürlich auch Freud und Adler. Er spricht nicht Deutsch und so muss er sich manches Zitat und viele Fachausdrücke übersetzen, oder übersetzen lassen. Also habe ich ihm erklärt, was mit »Lebenswelt« gemeint ist, und er hat meine Bildungslücken in der Philosophie geschlossen, teilweise.

      Blick aus meinem Fenster auf den Campo Santa Maria Formosa

      Damals, das ist alles lange her, war er ein sogenanntes Bild von einem Mann.

      In den besten Jahren, so zwischen fünfzig und fünfundfünfzig. Eines Nachts, es war spät und der ersten Flasche war eine zweite gefolgt, hat er düster vor sich hin gestarrt und blieb still. Nach einigen Minuten habe ich ihn gefragt, ob etwas geschehen sei, ob vielleicht ich ihn geärgert hätte.

      Ich war von dem Geständnis überrascht, das hätte ich nun überhaupt nicht gedacht. Und eben waren wir doch noch bei Husserl …?

      »Ruggero, also, ich weiß nicht, gerade du …?«

      Die Antwort folgte auf Italienisch, wie das ganze Gespräch ja in seiner, nicht in meiner Muttersprache geführt wurde. Aber ich gebe sie hier lieber in deutscher Übersetzung wieder:

      »Ich muss immer wieder nachdenken, wie ich aus meinem Haus herauskomme oder wieder hineinkomme, ohne dass meine Frau es bemerkt.«

      Das war nicht als Pointe gedacht, war kein Herrenwitzlein, er hat es absolut ernst gemeint.

      Vor einigen Monaten haben wir wieder diskutiert, nach langen Jahren.

      G: »Meinst du nicht auch, dass Denken alleine nicht genügt? Man erkennt denkend etwas, deutet es, und jetzt geht es erst los, man hat das Ergebnis in seinem Alltag umzusetzen. So sucht man, diese Denkergebnisse in schriftliche Formen, in Aussagen zu bringen und das erst recht, wenn man davon lebt, dass man solche Ergebnisse in Büchern zusammenfasst, erfasst. Und von den eigenen Erfahrungen lernt man am allerbesten, von allem, das man selber erlebt, selber getan hat. Du bist ein Philosoph und deutest die Welt und ich schaffe mir meine eigene Welt, mit meinen Büchern, meinen Inszenierungen.«

      Ruggero (mit gütig-nachsichtigem Lächeln): »Ja, ich weiß, du verehrst meinen Landsmann Giambattista Vico, der hat das ja als einen Kernsatz seiner Philosophie formuliert. Also – wir sind soeben dabei, umzusetzen, lassen den Erkenntnissen Taten folgen. Seit Dezember 2011 ist Italien im Wandel, wieder einmal und Gott sei Dank. In den letzten Jahren, vielen Jahren, hat es eine Demütigung bedeutet, im Ausland unterwegs zu sein. Jetzt haben wir wieder Würde, wir finden wieder zu unserem Stil, wir sind innerhalb kurzer Zeit in einem ganz anderen Zustand.

      G: »In so kurzer Zeit …?«

      R: »Man hat gewartet, viele haben gewartet, voll Sehnsucht, andere haben gekämpft, wie meine Freunde und ich. Berlusconi und die Seinen haben sich ja aufgeführt wie Despoten, haben nur an sich gedacht, er vor allem, nur an sich. Naja, das hat eben eine Weile ganz gut funktioniert und man hat gedacht, es hätte Zukunft.«

      G: »Aber ihr habt den Irrtum und seine Folgen spät erkannt und lange geduldet, ja, ihr habt das alles geschätzt und schließlich gewählt, immer wieder.«

      R: »Jedes Volk gerät in Momente, sagt Umberto Eco, da es seinen Verstand verliert. Und dabei denkt er an Mussolini, an Hitler, und er denkt auch an die Wahlen, die Berlusconi an die Macht gebracht haben.«

      G: »Du hast Hoffnung, du meinst ihr schafft es? Aus eigener Kraft?«

      R: »Da war noch vor kurzer Zeit ein Mann, ein grotesker, skurriler, nein besser: Ein burlesker Mann, der mit ausladenden Gesten, kosmetischen Operationen, sich als der Capitano in der Commedia dell’Arte gab. Die ihn gewählt haben, die vielen – ich kenne auch einige – haben das zum Teil eindrucksvoll gefunden und den Mann für einen wirklichen Capitano gehalten, mit seiner Angeberei und diesen Bunga Bunga Schweinereien. Cavaliere, haha, lächerlich, zudem – wer auf sich hält, ist Commendatore, oder noch besser, gar nichts. Siehst du, das ist Italien – die Sehnsucht nach einem starken Mann. Nachdem die Lateranverträge unterzeichnet waren, nach rund sechzig Jahren Krach zwischen dem Papst und Italien, hat Pius XI. gesagt, es sei wohl nötig gewesen, dass die Vorsehung einen Boten sende, und er hat Mussolini gemeint. Hast du das gewusst?«

      Mit Gottfried Kumpf in Venedig

      G: »Nein, habe ich nicht, aber ich habe immer wieder gehört und gelesen, dass sie Mussolini den Mann der ›Provvidenza‹ genannt haben, der Vorsehung, also daher kommt das!«

      R: »Gut, und wir hätten uns also hinsetzen können, über den Mann lachen und warten. Aber wir haben zu lange gewartet. Mittlerweile ist die Wirtschaft kaputt, die Stimmung war jahrelang grauenhaft und die Jugend hat keine Arbeitsplätze.«

      G: »Und da hast du Hoffnung, Ruggero?«

      R: »Habe ich. Ich bin vor acht Jahren schon Mitglied von >Libertà e Giustizia< geworden, wir haben immerhin hier in Venedig vieles ausrichten können. Und wir arbeiten zusammen mit anderen Vereinigungen, hier zum Beispiel mit >Pro Rialto<, wir helfen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, wir übernehmen Schulgeld, Ausbildungskosten. Und jetzt nehmen wir eine Grappa.«