Hoffnung, wenn auch nicht ohne Angst, war sie dorthin gegangen, um ihr Kind wieder einmal in den Armen halten zu können. Das letzte Mal war es vor einem Jahr gewesen, und da war Dagmar noch zutraulich gewesen.
Melanie musste wohl sehr viel dazu beigetragen haben, ihr das Kind zu entfremden. Oder brauchte man gar nicht viel dazu zu tun?
Sie wollte nicht ungerecht sein. Dagmar hatte es wirklich an nichts gefehlt, während sie selbst nicht einmal das Geld für die Fahrt aufbrachte, um ihr Kind zu besuchen.
Es war ihr wie ein Fingerzeig Gottes erschienen, als sie die Anzeige von der Sternseeklinik in der Zeitung las, denn sie war ausgebildete Krankenschwester, hatte aber das letzte Jahr bei einem Arzt als Sprechstundenhilfe gearbeitet, weil sie glaubte, dort mehr verdienen zu können.
Es war ein Fehlschlag gewesen. Sie war bei kargem Lohn weidlich ausgenutzt worden, bis sie endlich den Mut fand, sich nach einer neuen Stellung umzusehen.
An Mut hatte es ihr stets gemangelt und auch an Selbstvertrauen. Sie hatte immer einen Menschen gebraucht, bei dem sie Halt suchen konnte, und den glaubte sie damals in Walter Pohl gefunden zu haben. Und er, dem sie ihre ganze Liebe geschenkt hatte, ließ sie einfach sitzen, als sie ein Kind erwartete. Nicht nur des Kindes wegen, sondern auch deshalb, weil ihre Eltern ihr nicht so viel hinterlassen hatten, wie er wohl vermutet hatte.
Den größten Teil des Geldes hatte sie ihm gegeben, damit er eine Wohnung für sie kaufen konnte, und mit dem Geld war er verschwunden.
Zwei Jahre hatte sie das Kind und sich recht und schlecht durchs Leben gebracht. Dann war auch das letzte Geld verbraucht. Und da hatte sie in ihrer Not Zuflucht bei ihrer Kusine Melanie gesucht, die in guten Verhältnissen lebte.
Ja, das Kind hatten die Siemons aufgenommen, aber für sie war kein Platz in ihrem Haus gewesen. Ursula hatte das auch nicht erwartet. Sie war Melanie und ihrem Mann so dankbar, dass sie Dagmar zu sich nahmen.
Sie hatte eine Stellung in der Klinik ihrer Heimatstadt gefunden. Aber da sie zart und anfällig war, hatte sie den strengen Dienst nicht durchgehalten.
All dies ging ihr durch den Sinn, als ein Auto neben ihr hielt.
Eine freundliche Stimme fragte: »Kann ich Sie mitnehmen? Wollen Sie nach Erlenried?«
Ursula hob den Kopf. Vor ihren Augen verschwamm alles. Sie konnte das Gesicht der Fremden nur undeutlich erkennen, so erschöpft war sie.
»Ich will zur Sternseeklinik«, flüsterte sie.
»Dann steigen Sie ein. Ich nehme Sie mit.«
Die Stimme war mütterlich, das Gesicht gütig. Ursula sank in einen weichen Sitz.
»Ich heiße Margret Pahl«, sagte die Dame.
»Ursula Amren«, flüsterte sie.
»Um diese Zeit fährt leider kein Bus«, erklärte Margret Pahl. »Aber die Sternseeklinik liegt fast an meinem Weg. Wollen Sie Ihr Kind besuchen?«
»Mein Kind!« Ursula schluchzte es heraus, sodass Margret Pahl stutzte, als Ursula dann überstürzt fortfuhr: »Nein, ich will dort eine Stellung antreten. Als Krankenschwester«, fügte sie gepresst hinzu.
Da stimmt doch etwas nicht, dachte Margret Pahl. Aber sie stellte keine Fragen, sondern begann von sich zu sprechen.«
»Ich habe ein Töchterheim in der Nähe der Sternseeklinik. Eine sehr hübsche Gegend. Ich bin dort aufgewachsen.«
»Kennen Sie Dr. Allard?«, fragte Ursula, die sich nun langsam wieder beruhigte.
»Aber gewiss. Auch Dr. Fernand, dessen Verlobte bei mir wohnt. Sie brauchen nicht ängstlich zu sein. Sie hätten keine bessere Wahl treffen können. Dr. Allard ist übrigens Vater geworden. Seine Frau ist reizend. Sie werden sich bestimmt wohlfühlen.«
Margret Pahl meinte, dass Ursula Zuspruch brauchte, weil sie der neuen Stellung sorgenvoll entgegenblickte. Sie machte einen so hilflosen Eindruck.
»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich mitnehmen«, bemerkte Ursula leise, »aber meinetwegen brauchen Sie keinen Umweg zu machen. Setzen Sie mich einfach ab.«
»I wo!«, lächelte Margret Pohl. »Für mich sind es nur ein paar Minuten. Zu Fuß ist es doch ein ganz hübsches Stück, und gar so erschöpft sollten Sie dort doch nicht ankommen.«
»Ich bin nur ein bisschen schnell gelaufen«, sagte Ursula. »Ich dachte, es würde vielleicht anfangen zu regnen.«
Die Ausrede war ein bisschen weit hergeholt, denn nur wenige Wolken waren am Himmel.
Sie sieht aus, als hätte sie lange nichts gegessen und dazu noch großen Kummer, dachte Margret Pohl, die eine gute Menschenkenntnis besaß.
»Kommen Sie von weiter her?«, fragte sie beiläufig.
Ursula nickte. »Aus Braunschweig«, erwiderte sie leise.
»Wie sind Sie denn da auf die Sternseeklinik gekommen?«, fragte Margret Pahl verwundert.
»Ich habe eine Annonce in der Zeitung gelesen. Ich habe darauf geschrieben und bekam die Zusage für eine Probezeit.«
»Dr. Allard wird froh sein, wenn er eine zuverlässige Kraft findet. Wer geht denn schon freiwillig in eine so abgelegene Gegend. Ja, wenn man sie kennt, dann möchte man gar nicht wieder weg, aber die jungen Mädchen wünschen sich mehr Abwechslung, und die älteren haben meist ihr Zuhause und eine Wohnung, die sie nicht aufgeben wollen. Ich hoffe sehr, dass es Ihnen gefallen wird. Da sind wir nämlich schon.«
Sie hielt vor dem schmiedeeisernen Tor. Freundlich lächelnd reichte sie Ursula die Hand.
»Vielleicht besuchen Sie mich einmal im Margaretenheim, wenn Sie sich eingelebt haben. Ich würde mich freuen, Frau Amren.«
Sie ahnte nicht, wie viel Mut sie Ursula mit diesen herzlichen Worten gab.
»Vielen Dank. Ich werde Sie gern besuchen, Frau Pahl«, sagte Ursula. »Ich hoffe nur, dass Dr. Allard mit mir zufrieden ist.«
»Nur keine Bange. Einen netteren Chef kann man Ihnen nicht wünschen.«
*
Augenblicklich war Dr. Nicolas Allard nicht der Chef der Sternseeklinik, sondern nur glücklicher Vater und Ehemann.
Zärtlich betrachtete er seinen kleinen, drei Wochen alten Sohn.
»Mon petit«, sagte er zärtlich.
Sabine war so gerührt, dass sie ihm gleich einen Kuss geben musste.
Nicolas Allard legte seinen Arm um seine Frau.
»Geht es dir gut, mein Liebling?«, erkundigte er sich.
»Das fragst du mich heute schon zum dritten Mal, Nico. Ja, es geht mir gut. Es fehlt mir nichts zu meinem Glück.«
»Dann kann ich ja beruhigt an die Arbeit gehen. Hoffentlich erscheint die neue Krankenschwester heute. Schwester Selma kommt mit Dorle allein nicht aus.«
»Und hoffentlich ist es nicht wieder eine, die uns gleich weggeheiratet wird«, äußerte Sabine seufzend. Ihr Blick schweifte zum Fenster hinaus, und erschrocken drehte sie sich um. »Du, der Krankenwagen kommt!«
Er drückte ihr schnell einen Kuss auf die weichen Lippen.
»Da muss ich mich sputen«, erklärte er, warf seinem Söhnchen rasch noch einen Blick zu und verschwand.
»Siehst du, Spätzlein, dein Papi muss schon wieder fort«, sagte Sabine, das Händchen ihres Sohnes streichelnd. »Aber wir haben es doch gut. Wenn dir mal etwas fehlt, haben wir den besten Arzt im Haus.«
»Spätzlein«, der auf den Namen Alexander getauft werden sollte, weil Nicolas dagegen war, noch einen zweiten seines Namens in der Familie zu haben, nahm die Worte seiner jungen, schönen Mama nicht zur Kenntnis. Er schlief.
Sein Vater hatte es so eilig, in die Klinik zu kommen, dass er die junge Frau nicht bemerkte, die hinter dem Krankenwagen auftauchte.