Peter Altenberg

Neues Altes


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hat es naturgemäß Religionsstifter gegeben für die Seelen. Der Körper war urkräftig, und die Seelen waren schwächlich. Da bedurfte es der Ärzte für die Seelen. Nun aber ist es umgekehrt: die Seelen sind erstarkt, und die Körper sind schwächlich geworden. Da bedarf es der Religionsstifter für die Körper!

      Keuschheit zum Beispiel war früher eine »psychologische« Forderung, heute wird es zu einer »physiologischen«! Einfachheit der Lebensweise war früher eine »psychologische Forderung«, heute ist es eine »physiologische« geworden!

      Früher beschenkte man Arme aus »psychologischen« Gründen. Heute könnte man fast bereits sagen: »Ich gab einem Armen 50 Heller, denn ich fühlte es, daß mir mein Nachtmahl dann besser munden würde und ich es leichter verdauen könnte —.«

      »Seelische Angelegenheiten« beginnen zugleich »physiologisch« aufgefaßt zu werden, also eine organische Verbindung von Selbstlosigkeit und Ichismus. Je mehr ich meinen Körper entwickle und schone, desto mehr kann ich seelisch für andere leisten! Ich bin von mir befreit! Für andere! Liebenswürdigkeit, Menschenfreundlichkeit ist Sache des Verdauungsapparats.

      Mörder müssen Blähungen haben. Man kann nämlich auch unscheinbar morden; es muß nicht immer Messer und Kugel sein. Auch Worte können morden und jegliche Ungezogenheit! Frauen müßten daher besonders vorsichtig sein in bezug auf ihren gesamten Verdauungsapparat. Sie können leicht »seelisch morden«, wenn sie unverdauliches Zeug essen, das sie belästigt und beschwert. Ich will von einer der wichtigsten Sphären im »physiologischen Organismus« gar nichts auch nur andeuten, in der man entweder zum »Übermenschen« oder zum »Mandrill« wird! Aber der kommende Religionsstifter wird die Verbrechen, die »Höllen«, ausschließlich in der »physiologischen« Sphäre erkennen, wenn auch der »Alkoholgenuß« nur selbstverständlich den Prügelknaben vorstellt, der blöderweise für alle anderen Sünden herhalten soll! »Falscher Ehrgeiz« zum Beispiel ist ein »physiologischer« Mörder in uns, ein Krebs der Seele, eigentlich aber des Leibes! Die Würmer werden mich fressen, früher aber muß ich noch Baron werden! Sie sollen einen Baron also annagen! Man verlästert immer die Dekadenz. Aber wann werden die Menschen endlich nicht mehr essen, als sie benötigen, nicht mehr trinken, als sie benötigen?!? Bis sie es nicht mehr vertragen vor Schwäche! Dadurch aber werden sie dann allmählich wieder ganz stark werden!

      Das ist der Werdegang! Zuerst völlern, auf seine überschüssigen Kräfte hin! Dann sparsam leben, wegen seiner unterschüssigen Lebenskräfte. Und dann infolgedessen gesunden, reich werden und es bleiben! Dekadenz ist der organische Übergang zur Aszendenz! Zuerst vergeuden die Menschen ihre Kräfte, weil sie zu viel davon haben. Dann sparen sie damit, weil sie zu wenig haben. Und schließlich haben sie wieder angesammelt und sparen wegen schlimmer Erfahrungen! Es gibt keinen anderen Weg!

      Es wäre denn, daß ein »physiologischer« Religionsstifter die persönliche Macht ausübte, daß die Verschwender an Lebenskräften zu sparen begännen, ehe es unbedingt notwendig wäre! Dann könnte er »gottähnliche Menschen« züchten auf Erden! »Erkenntnisse aus Not« sind eigentlich dennoch lächerlich, sie haben keine »Verführungskraft«. »Erkenntnisse« aus »Erkenntnis« allein haben Triebkraft. Sie zeitigen Blüten und Früchte am Baume der Erkenntnis! Der ganze mögliche Fortschritt also: Erkenntnisse haben und sie durchsetzen, ohne »physiologisch« dazu bereits genötigt zu sein! Zum Beispiel also, Krankenkost essen, ohne es nötig zu haben, keusch leben, ohne es nötig zu haben, zehn Stunden schlafen, ohne es nötig zu haben! Mit diesem gewonnenen Überschuß an Lebenskräften es versuchen, ein »höherer, besserer Mensch« zu werden!

       Inhaltsverzeichnis

      Die fünfjährige Marie Ch. mußte um 6 Uhr morgens, bei 10 Grad Kälte, nur mit einem Hemd bekleidet, den Fußboden des Vorhauses reiben. Ein Adeliger, ein Geschäftsmann wollte ich sagen, der zufällig in das Haus trat, machte die polizeiliche Anzeige. Alle ärmlichen Bewohner des weiten alten Hauses atmeten auf. Sie selbst hätten sich vor der Furie von Mutter nicht getraut, es zu tun.

      Der Richter zu der Mutter: »— — — und was ist es mit den blutigen Striemen auf dem Leibe dieses schwächlichen todbleichen Geschöpfes?!«

      »Dös Menscherl hat eh zu viel Blut — — —.«

      Der Richter war empört und verurteilte sie zu 8 Tagen. Nach diesen acht Tagen wird sie also jedenfalls das »vollblütige Menscherl« nicht mehr den Boden des Vorhauses reiben lassen, da dort »Adelige« vorbeigehen und die Anzeige machen könnten. Im trauten Gemache, einen Knebel im Munde, gibt es verschwiegenere Martern für irgend etwas. Nun hat aber höchstwahrscheinlich diese »Mutter« eine Entschuldigung. Denn sie nahm das Mäderl von Bauersleuten weg am Lande, die es zwar sehr fürsorglich behandelten, aber immerhin 6 bis 10 Kronen monatlich erhielten. Grund genug, ein Kind als »unerträgliche Last« zu empfinden für durch Armut in einem ununterbrochenen Zustande von »reizbarer Schwäche« befindliche Nervensysteme. Grauen befällt den Allweisen erst in dem gar nicht seltenen Falle, wo Pflegeeltern ein abgöttisch geliebtes, edel gehegtes Kindchen ohne einen Kreuzer Entschädigung à tout prix behalten wollen, und die »Eltern« es nicht gestatten, sondern es nach Hause nehmen, um es der gerechten Strafe, geboren worden zu sein, unter unermeßlichen Qualen zu unterziehen, bis der Frevel seiner Geburt mit dem Tode gesühnt ist!

      Richter: »Ihr Kind hat es doch dort so gut gehabt, und Sie selbst haben in zwei engen Stuben acht Kinder zu ernähren?!«

      »Wo acht hungern, kann das neunte auch mithungern, soll sie’s besser haben als mir, warum?!«

      Richter: »Der Bauer, der Ziehvater, hat erklärt, er setze es zur Erbin ein — — —.«

      »Nix, dös Kind g’hört zu seine Eltern, zu seine Geschwister — — —.«

      Das Kind wurde später zu Tode gemartert.

      Ich stelle einen einfachen logischen Gesetzesantrag: »Kinder, die nachweislich es bei Zieheltern, die keinerlei Entschädigung dafür verlangen, gut haben, dürfen den Eltern, falls sie in bedrängten Verhältnissen leben, unter keiner Bedingung wieder ausgefolgt werden

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