Jakob Wassermann

Der Wendekreis: Novellen


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       Jakob Wassermann

      Der Wendekreis: Novellen

      Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020

       [email protected]

      EAN 4064066118525

      Inhaltsverzeichnis

       Cover

       Titelblatt

       Text

      Ich gestehe, daß mir alle diese Vorgänge trotz ihrer Unheimlichkeit zunächst wenig Interesse einflößten. Sie waren als Begleiterscheinung eines solchen Verbrechens typisch. Der Vater ein unbeugsamer Starrkopf, beleidigt in seinem bäuerlichen Ehrgefühl, in echt bäuerlichem Dünkel keine Instanz über sich anerkennend, der Sohn ein Lump, dessen vorzeitiges und gewaltsames Ende man kaum recht bedauern konnte; die Mutter haltlos zwischen beiden schwankend; es war die übliche Konstellation, und die Gerechtigkeit konnte ihren Lauf nehmen, ohne daß sie auf hemmende Dunkelheiten stieß.

      Nach und nach aber, bei genauem Einblick in die Vergangenheit und die

       Art des Adam Urbas, wurde meine Aufmerksamkeit nachhaltiger gefesselt.

       Es war als gingest du an einer Mauer entlang, die aussieht wie alle

       andern Mauern in der Welt; plötzlich gewahrst du, erst kaum bemerkbar,

       dann immer deutlicher, gewisse Zeichen und Runen, die zu prüfen ein

       Etwas dich zwingt; du kommst nicht mehr los, du beginnst Gruppe um

       Gruppe zu entziffern, und schließlich wird dir eine unerwartete

       Mitteilung über das verschlossene Gebiet, das hinter dieser Mauer liegt.

      Die Urbassche Ehe war dreizehn Jahre kinderlos gewesen. Die Frau hatte es als unabwendbares Schicksal getragen, der Mann aber hatte sich aufgelehnt gegen den Spruch der Natur. Er war der Letzte eines uralten Bauerngeschlechts; in fränkischen Chroniken des vierzehnten Jahrhunderts schon werden die Urbas genannt. Ihn dünkte es wie Schmach, daß er keinen Leibeserben haben sollte. Wozu war das Schaffen und Sparen, Säen und Ernten? Wozu das Haus mit den gefüllten Truhen, das Vieh im Stall, das Getreide in der Scheune, wozu Acker und Wiese, Mühle, Fluß und Wald?

      Er äußerte sich nicht; gegen sein Weib nicht, gegen andere Menschen nicht. Er verzog keine Miene, wenn die andeutende Rede darauf fiel. Kein hartes Wort das Jahr über, keine Erkundigung.

      Aber einmal im Monat geschah es, daß er den Blick auf der Frau ruhen ließ. Es ging höhere Gewalt aus von dem Blick. Er wurde dabei nicht von einer bestimmten Absicht gelenkt; es gewann Macht über ihn und brach hervor. Auf dem Feld konnte es sein: er hörte auf, die Garbe zu binden und schaute sie an; beim Abendessen: er ließ den Löffel in die Schüssel fallen und schaute sie an; in der Nacht: die Bäuerin erwachte, er lag da, auf den Arm gestützt und schaute sie an. Auf dem Platz vor der Kirche: sie stand im Gespräch mit andern Weibern, plötzlich verstummte sie, denn er stand drei Schritte vor ihr und schaute sie an. Ohne Zorn, ohne Drohung, ohne Vorwurf, nur prüfend, aus umbuschten Augen still und lang.

      Einmal im Monat geschah es und war mit Sicherheit zu erwarten. Anfangs ging es der Bäuerin nicht nah. Sie hielt es für eine Schrulle. Sie gab sich keine Rechenschaft, worauf es abzielte. Sie lachte; sie zwang sich zu einem muntern Wort. Später duckte sie sich, flüchtete mit Sinn und Auge; aber es kamen Stunden und schließlich Tage, wo sie in Grübeleien verfiel und die Frage, die sie an den Bauern nicht zu richten wagte, an seinen geisternden Schatten richtete.

      Können Menschen nicht miteinander reden? grübelte sie; wozu hat einer die Zunge im Maul, daß er nicht sagt, was er begehrt? Sie beschloß, den Mann anzuhalten. Doch wenn es so weit war und sie vor ihn hintrat, entfiel ihr der Mut. Verschuldung wuchs, um Aufschluß drängte eine Stimme, Aufschluß kam nicht, sie fühlte sich nicht schuldig, etwas war schuldig, aber das Etwas war in ihr.

      Das wechselnde Tun während der lebendigen Jahreszeiten zwang die Tage immer wieder ins gleiche, aber für eine immer kürzer werdende Spanne. Die Angst vor des Bauern Blick, der auf sie eindrang, so oft das Blutzeugnis die Schuld vergrößerte, lähmte die Gedanken. Vom November bis zum Februar rückten die Steine und Balken des Hauses gefährlich aneinander, in den Stuben war schwerere Luft, der Himmel klebte an den Fensterscheiben, der Abend war ein nasser Sack um den Leib, das Linnen schleifte bleich über die Diele, die Kühe lagen in rosigem Dampf, und durch die Schneeschlucht heran zum Stall schwankte durch Irisringe breitgängig, die Laterne in der Hand, die hochschwangere Magd.

      Alles war Leib, alles war Angst. Achtundzwanzig Tage und Nächte waren ohne Einschnitt; Urbas saß am Ofen, die Pfeife zwischen den Zähnen; ging ins Wirtshaus und kehrte am Abend zurück; saß wieder am Ofen und studierte die Zeitung; erhob sich, wenn der Topf mit Kraut und Klößen hereingetragen wurde; sprach das Gebet; hörte still zu, wenn die andern redeten, und nichts Heimliches war in seinen Mienen, kein Groll, der sich sammelte, nur Schweigen.

      Dann aber kam die Stunde. Die Bäuerin spürte es schon in jeder Ader; die

       Haare fingen an zu knistern. Eine Tür ging auf, und er stand da; am

       Morgen, am späten Abend; war es nicht in der Stube, so war es in der

       Tenne; stand da mit dem unerforschlichen Blick. Kein Räuspern, kein

       Aufzucken, kein Wort, nur der Blick: warum nicht? warum alle und du

       nicht? warum liegt dein Acker brach?

      Zwölf Jahre waren so verflossen, da hatte die Kraft der Frau ein Ende. Ihr Gemüt umdüsterte sich. In den Nächten wälzte sie sich schlaflos. Durch die Finsternis brannten die Augen des Bauern, auch wenn er schlief. Hörte sie bei Tag seinen Schritt, so verkroch sie sich in einen Winkel der Scheune und kauerte zitternd, bis von allen Seiten das Rufen nach ihr erschallte. Die Zügel der Wirtschaft waren gelockert, das Gesinde wurde lässiger.

      Sie versagte sich ihm. Ihr graute vor seiner Umarmung. Ergab sie sich nicht, so hatte er nichts zu fordern, schien es ihr in der Verdunkelung ihrer Sinne. Sie wurde kalt an Haut und Blut; das Weib in ihr erstarrte. Da aber fing Urbas an, um sie zu werben. Es war wie nie zuvor. Sie hatte es nie kennen gelernt. Nicht mit Worten warb er, vielmehr in einem scheuen Dienst. Es lag oft etwas Beklommenes darin, als habe sie sich versteckt, und er müsse sie finden; als suche er und könne sie nicht finden. Er glich einem Tier, das leidet. Ein Jahr lang oder noch länger währte dies, und in der Zeit verlor sich die Angst der Bäuerin, denn sie merkte, daß sie nicht bloß eine an ihn hingeworfene Kreatur in seinen Augen war, der man zu fressen gibt und die man karessiert, wenn sie geschuftet hat, und einen Fußtritt verabreicht, wenn sie nicht leistet, was man von ihr verlangt, sondern daß sie noch was anderes für ihn bedeutete, der Ehrung und der Befragung Würdiges. Sie wandte sich ihm mit bereitwilligerem Herzen wieder zu; einen Monat darauf wurde sie schwanger.

      Als dies keinem Zweifel mehr unterlag, verwandelte sich ihr Wesen vollends. Mit jungen Schritten eilte sie durchs Haus, trieb die Säumigen heiter zur Arbeit, legte selbst überall Hand an, gesprächig, hell, aufgeblättert. Staunen war um sie. Auch Urbas wunderte sich. Sie mochte ihm, was bevorstand, nicht geradezu ankündigen; sie wünschte eine Form, in der es festlich und wie ein Geschenk wirken sollte. Am Gründonnerstag legte sie das Staatskleid an, dazu die langen schwarzen Kopfschleifen mit den silbernen Spangen, dann rief sie Urbas in die obere Stube, wo die Glasschränke standen mit dem alten Silber und Porzellan, Jahrhunderterbe. Gewichtig setzte sie sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände über dem Leib und sagte, was zu sagen war, kurz und simpel.

      Durch Urbas mächtigen Körper ging ein Ruck. Als sie von dieser Stunde sprach, neunzehn Jahre später sich dieses Geständnisses entsann und wie Urbas sich dabei verhalten, war ihr noch immer die