Tove Jansson

Reisen mit leichtem Gepäck


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Stunde später passierte tatsächlich etwas: Die Benzinleitung ging ab, und so was lässt sich nicht im Handumdrehen reparieren.

      »Weißt du was«, sagte Elis, seine Stimme klang fast andächtig.

      »Diese Insel ist wunderbar. Sie liegt so weit weg, dass nichts Gefährliches herkommen kann. Und das Wasser ist ganz sauber.«

      »Glaubst du, ja«, versetzte Tom, er ging weiter hinaus auf den Felsvorsprung und begann Steinchen ins Wasser zu werfen. Es gab absolut nichts zu tun, außer zu warten und die Zeit sinn- und nutzlos verstreichen zu lassen. Ha, was für eine wunderbare Insel der Seligen. Oh nein! Finstere Gedanken zogen auf, verschwanden und kehrten wieder; ein ganzer Sommer überschattet von ständiger Betrübnis und Bewachung, nie richtig allein sein zu dürfen, und dazu endlose idiotische Beerdigungen und Abfallhaufen … Und als ob die täglichen Sorgen nicht genug wären, bekam man gleich die der zukünftigen Tage dazu serviert, wo alles viel, viel schlimmer werden würde, das war einfach nicht gerecht!

      Und jetzt kam Elis mit weit aufgerissenen Augen angerannt und rief: »Eine Insel, vergessen im Weltmeer! Fantastisch! Hier ist es so sauber. Hier ist es so verlassen und leer!«

      »Fantastisch kannst du selber sein«, sagte Tom. »Und allzu leer kommt es mir nicht vor, wenn man bedenkt, was für ein Eiderjahr wir dieses Jahr haben.« Mit einem Schulterzucken fügte er hinzu: »Allerdings werden wohl nicht allzu viele flügge werden, wenn man bedenkt, wie du hier herumgetrampelt bist!«

      »Wie meinst du das?«

      »Naja, ich meine bloß, wenn man eine brütende Eiderente aufschreckt, kehrt sie nicht wieder ins Nest zurück. Eiderenten sind sehr empfindliche Vögel.«

      Elis sagte nichts. Es war ziemlich komisch, ihn dabei zu beobachten, wie er jetzt durchs Krähenbeerreisig stakste, ein langsamer Schritt nach dem andern, die Ellbogen dicht am Körper und den mageren Hals vorgeschoben. Jetzt konnte er mal selbst erleben, wie es ist, wenn jemand einem ein schlechtes Gewissen macht. Tom lief hinter ihm her. Bald darauf blieb Elis stehen und starrte in ein Nest mit fünf Jungen, sie waren sehr klein und dunkelflauschig und verhielten sich regungslos.

      »Was wird jetzt aus ihnen?«, flüsterte er.

      »Na, darüber brauchst du nicht nachzudenken. Du sollst nur daran denken, dass du auf »einer Insel, vergessen im Weltmeer« bist, war es nicht so? Vielleicht wird es dich interessieren, dass eine Schäre wie diese hier tatsächlich vergessen werden kann. Es ist sehr schwierig, wieder hierherzufinden.«

      Elis sah ihn nur an.

      »Du glaubst mir nicht? Aber so was ist schon vorgekommen.« Tom setzte sich hin und stützte den Kopf in die Hand. »Ich will dir ja keine Angst machen«, fuhr er fort, »aber an manchen Ufern hat man schon Skelette gefunden. Da kann man nichts machen, am besten man vergisst es einfach. Aber trotzdem, stell dir vor, wie die dasaßen und gewartet und gewartet haben und niemand ist gekommen.«

      »Aber dein Vater hat ja eine Seekarte dabei«, wandte Elis ein.

      »Hat er das? Wenn ich es mir jetzt überlege, ist die Seekarte daheim liegen geblieben … Oje, das ist gar nicht gut.« Tom seufzte und warf Elis durch die Finger einen hastigen Blick zu, am liebsten hätte er laut gelacht. Hier hast du deine Katastrophen. Und ich hab noch üblere auf Lager, wart’s nur ab.

      Elis setzte sich hinter einen großen Stein. Und die Sonne wanderte weiter gen Nachmittag, die Kriebelmücken sangen und die Seevögel kehrten friedlich zu ihren Nestern zurück.

      Als Tom hungrig wurde, kam ihm eine gute Idee, er stöberte Elis auf und teilte mit, jetzt sei es schlimm um sie bestellt, sie hätten nichts zu essen – genau wie all die bedauernswerten Menschen überall auf der Welt. »Du kannst natürlich Krähenbeeren essen«, sagte er, »nur kriegt man davon manchmal schrecklich Bauchweh. Falls du Durst hast, ist direkt hinter dir eine Wasserlache, aber die ist wahrscheinlich salzig und so abgestanden, dass sogar die Asseln darin gestorben sind.« Er setzte noch eins drauf: »Dann musst du ihre Leichen eben zwischen den Zähnen durchsieben«, begriff aber sofort, dass dies eine unvorsichtige Übertreibung war, damit war er zu persönlich und stillos geworden. Elis betrachtete ihn lange und durchdringend, dann wandte er sich ab.

      Inzwischen hatte das Meer eine wärmere Färbung angenommen. Die Stunden vergingen, Axel hätte schon längst da sein sollen. Und es gab nichts zu tun, außer Elis Angst zu machen. Warum war Axel nicht gekommen, was dachte er sich dabei, seinen Sohn so zu beunruhigen und einen ganzen Tag auf diese Art zu vermasseln! In Tom begann es zu kribbeln, überall, das war nicht zum Aushalten.

      »Elis!«, schrie er. »Wo bist du! Komm kurz her!«

      Elis kam und sah Tom mit gesenktem Kopf an.

      »Hör mal«, begann Tom, »ich muss dir was sagen. Dieses Wetter, das ist nicht natürlich. Es braut sich zu einem Sturm zusammen.«

      »Es ist ganz ruhig«, wandte Elis ein, offensichtlich misstrauisch.

      »Das Auge des Sturms, typisch«, erklärte Tom. »Aber du kennst dich ja nicht mit dem Meer aus. So was kann ganz plötzlich kommen, päng, und schon schwappen die Wellen über die ganze Schäre.«

      »Und was ist mit dem Leuchtturm?«

      »Der ist abgeschlossen. In den kommen wir nicht rein.« Da er schon in Fahrt war, fuhr er fort: »Und nachts kommen die Schlangen …«

      »Das erfindest du bloß.«

      »Vielleicht erfinde ich es und vielleicht nicht. Und was ist dann das, was du selbst immer machst?«

      Elis sagte langsam: »Du kannst mich nicht leiden.«

      Das Schlimmste war, dass sie nichts zu tun hatten. Tom nahm das Fahrtenmesser und begab sich in den Windbruch, um Tannenreisig zu schneiden, Tannenreisig für eine Hütte, so wie er sie auf Ausflügen sonst immer für Oswald baute. Er schnitt und schnitzte und rackerte sich ab, und der Schweiß lief ihm über den Nacken und alles war eigentlich völlig unnötig, aber er ertrug es nicht, unablässig von Elis beobachtet zu werden, und es war schon fast Abend und das Boot war noch nicht gekommen … Und jetzt fragte Elis, ob das, was er da mache, Notsignale seien.

      »Nein! Als ob wir Streichhölzer hätten!« Tom hievte die Dachkonstruktion hoch und rammte sie in das Tannengestrüpp. Das hier ist ja idiotisch, alles ist idiotisch, und das Boot, das nicht kommt … Vielleicht macht das Leuchtfeuer Schwierigkeiten – nein, dann hätte er sofort gewendet. Es muss etwas anderes sein, etwas Ernstes … Und plötzlich krachte das ganze Dach wieder herunter! Tom fuhr herum und rief heftig: »Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, bevor ein Sturm ausbricht! Alles wird dunkel … Und man hört ein komisches Geräusch, das immer näher kommt – und die Vögel verstummen total …« Das hier ging unter die Haut, ganz offensichtlich. Er fuhr fort: »Manchmal steigt das Wasser vor einem Unwetter, aber manchmal sinkt es auch. Katastrophal ist das! Du hast ja gesehen, wie tief es gesunken ist! Überall nur grüner Schleim. Und wenn das Wasser dann wie eine Wand anrückt, kann sich niemand und nichts festhalten, gar nichts!«

      »Warum tust du das?«, flüsterte Elis.

      »Was meinst du?«

      »Warum kannst du mich nicht leiden?«

      »Und warum streitest du mit mir! Ich hab das alles jetzt satt, das macht keinen Spaß mehr! Leg dich irgendwo hin zum Schlafen!«

      »Aber deine Schlangen! Ich hab Angst!«

      »Schon gut, schon gut, es gibt keine Schlangen«, rief Tom ungeduldig aus, »auf so kleinen Schären gibt es die nie. Ich bin müde! Ich hab’s versucht, ich hab alles Mögliche versucht, aber das mit dir wird einfach nicht besser, du redest bloß komisches Zeug und bringst einen dazu, genauso komisch zu werden wie du selbst! Und mein Papa ist noch nicht da und dabei hätte er schon längst da sein müssen!«

      »Ich hab Angst«, wiederholte Elis. »Tu was … du kannst doch einfach alles!« Plötzlich krallte er sich an Toms Pullover und wiederholte immer wieder, er habe Angst – »du hast mir Angst gemacht«, rief er, »tu was, irgendwas, du kannst doch alles!«

      Tom