fühlen bei uns.«
»Aber ich wollte eigentlich fürs Erste hierbleiben. Es ist lieb gemeint von euch, allerdings …« Heather verstummte, als Reginald ihre Bemerkung mit einer knappen Handbewegung abtat und klarstellte: »Du kannst nicht allein hier wohnen, du bist ja nicht einmal großjährig. Nein, das geht nicht. Bis du erwachsen bist, muss da jemand sein, der sich um dich kümmert.«
»Ich habe eine Gesellschafterin und …«
»Verwandte, Familie, keine Angestellten!«, fiel er ihr schon wieder ins Wort. »Mein liebes Kind, du scheinst noch reichlich naiv zu sein. Ich nehme an, deine Eltern haben dich behütet und alles von dir ferngehalten, was im Leben so vorkommt.«
Heather hob nur die Schultern und schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn sie konnte es Reginald ja doch nicht recht machen. Nun mischte sich Prudence wieder in das Gespräch ein. Offenbar war sie praktisch veranlagt und neigte nicht zu sentimentalen Anwandlungen.
»Ich schlage vor, wir warten die Testamentseröffnung ab«, meinte sie. »Wenn die Vermögensverhältnisse offen liegen, kannst du entscheiden, was du möchtest, mein Kind. Solltest du lieber in London bleiben, werden wir dich zu nichts zwingen. Wir sind nur hergekommen, um dir zu helfen und dir beizustehen.« Ihr Mann nickte, und es schien Heather so, als ob die beiden es wirklich gut mit ihr meinten. Sie zeigte sich also mit dem Vorschlag einverstanden und überließ es Reginald, einen Termin beim Testamentsvollstrecker ihrer Eltern zu vereinbaren.
Dass Reginald und Prudence in einem der Gästezimmer einzogen, war für das junge Mädchen selbstverständlich. Schließlich waren sie völlig selbstlos darauf bedacht, ihr zu helfen. Ihre anfängliche Abneigung gegen die Verwandten verdrängte sie und sagte sich, dass ein guter Mensch nicht unbedingt auch ein ansprechendes Äußeres haben musste …
In der ersten Nacht, die Reginald und Prudence unter ihrem Dach verbrachten, hatte Heather einen intensiven Albtraum. Sie hatte bis zum Tod ihrer Eltern einen gesunden Schlaf, nun wachte sie aber öfter nachts auf und konnte dann nur schwer wieder zur Ruhe kommen. Wenn sie träumte, dann meist von der schönen und sorglosen Zeit ihrer Kindheit, als sie noch nicht geahnt hatte, wie bald diese enden würde.
Dieser Traum aber war anders. Sie wanderte über eine kahle, vom Vollmond beschienene Moorlandschaft. In der Ferne glitzerte das Meer, der Himmel war samtschwarz und ungezählte Sterne flimmerten am Firmament. Ein leichter Wind umschmeichelte Heather, griff in ihr Haar und bauschte das Nachthemd, das sie trug. Verwundert blieb sie stehen und schaute sich um. Wo war sie? Sie kannte diese Landschaft nicht, war nie hier gewesen. Und doch schien sie ihr nun seltsam vertraut.
Es war ganz still, bis auf das leise Rauschen des Windes und die Geräusche der Natur. Ein Rascheln im Unterholz, der Ruf einer Eule. Heather empfand die Umgebung nicht als unangenehm, auch wenn sie den Sinn dieses Traums nicht verstehen konnte. Sie beschloss, noch ein Stück weit dem Weg zu folgen, auf dem sie stand. Vielleicht führte der sie ja zu einem Platz, den sie kannte. Als sie sich wieder in Bewegung setzte, hörte sie in der Ferne ein Jaulen oder Heulen. Es war sehr leise und klang zugleich hohl und bedrückend. War dies ein Wolf?
Als kleines Mädchen hatte Heather mit ihrer Erzieherin einmal den Londoner Zoo besucht und bei dieser Gelegenheit auch ein solches Raubtier aus der Nähe gesehen. Der Wolf hatte aber nicht geheult und er hatte eher traurig als gefährlich ausgesehen. Vermutlich wäre er lieber durch die Wildnis gestreift, statt sich in einem Käfig von vielen Menschen anstarren zu lassen.
Dieses Heulen nun klang unheimlich. Und als es sich wiederholte, beschleunigte Heather ihren Schritt, denn sie wollte dem Tier, das solche Laute von sich gab, lieber nicht über den Weg laufen. Sie beeilte sich, um vorwärts zu kommen. Doch wie das in Träumen nun mal so ist; sie bewegte sich kaum vom Fleck, während das Heulen immer näher kam, immer lauter wurde. Heather war nun überzeugt, es nicht mit einem Wolf zu tun zu haben. Das Heulen war hohl und grausig wie aus den tiefsten Tiefen der Hölle. So, als habe es ein Höllenhund ausgestoßen!
Dieser Gedanke versetzte ihr einen gehörigen Schrecken. Sie fing nun an zu laufen, um der Bestie zu entkommen.
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, sodass Heather kaum atmen konnte. Sie wusste plötzlich, dass sie um ihr Leben rannte. Wenn das Monster sie erreichte, war es aus. Das schaurige Heulen war nun ganz nah. Heathers Herz klopfte zum Zerspringen, die Panik schüttelte sie und verhinderte es, dass sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Im nächsten Moment aber war alles anders.
Ohne Vorwarnung prallte das junge Mädchen gegen eine Person und fiel der Länge nach hin. Ein paar Sekunden lang lag Heather da und starrte ins Leere. Der Aufruhr in ihrem Innern legte sich nur langsam. Als sie wieder halbwegs klar denken konnte, hob sie den Blick und schaute die Person an, die sie zu Fall gebracht hatte. Was sie sah, verwirrte sie aber noch mehr.
Da stand eine vornehme Dame aus einer längst vergangenen Zeit vor ihr. Sie war groß und schlank, trug ein kostbares Gewand, dazu einen Hut mit Schleier. Zu beiden Seiten saßen enorm große schwarze Doggen und musterte Heather gelassen.
»Wer sind Sie?«, flüsterte das Mädchen im Schlaf.
Die Dame reagierte nicht. Sie stand nur da und blickte auf Heather. Nach einer Weile hörte diese eine Stimme, die aber nur in ihrem Kopf zu sein schien. Sie war freundlich und angenehm, doch was sie sagte, versetzte Heather in Angst und Schrecken.
»Komm nicht nach Dartmoor, Heather Somersby. Hier wartet nur der Tod auf dich!« Und dann flog sie nach vorn, ihre Hand schoss vor und legte sich wie ein Schraubstock um Heathers Hals. Der Griff war eisern und unbarmherzig.
Das junge Mädchen wehrte sich verbissen, Heather schlug um sich, sie versuchte mit aller Gewalt, sich zu befreien, umsonst! Schon begannen rote Kreise, sich vor ihren Augen zu drehen, der Luftmangel sorgte dafür, dass sie das Bewusstsein verlor. Heather war sicher, sie würde diesen grausamen Angriff nicht überleben. Sie war kaum noch bei sich, als sie noch einmal die warnenden Worte hörte. Im nächsten Augenblick erwachte Heather.
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass dies tatsächlich nur ein Traum gewesen war, dass sie lebte und in Sicherheit war. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die wattige Dunkelheit der späten Nacht, ohne begreifen zu können, was dieser grausige Albtraum zu bedeuten hatte.
Und noch immer klang ihr die Warnung in den Ohren: »Komm nicht nach Dartmoor, Heather Somersby, hier wartet nur der Tod auf dich …«
*
Die Testamentseröffnung fand zwei Tage später statt. Reginald hatte alles arrangiert und auch dafür gesorgt, dass der bestellte Vermögensverwalter ins Haus kam, Heather sich nicht in seine Kanzlei begeben musste. Sie war ihm dafür dankbar, denn sie fühlte sich nicht gut. Die Albträume, die sich jede Nacht wiederholten und immer intensiver und beängstigender wurden, setzten ihr sehr zu.
Miss Pringle hatte vorgeschlagen, den Arzt zu konsultieren, aber davon wollte Heather nichts wissen. Sie mochte sich vor ihren Verwandten keine Blöße geben, denn diese schienen sie sowieso für ein wenig kindlich und naiv zu halten.
Der letzte Wille von George Somersby war keine Überraschung. Er vermachte seinen gesamten Besitz seiner Frau, deren Erbe nun folgerichtig auf die Tochter überging. Allerdings hatte es den Anschein, dass die Somersbys weitaus weniger vermögend waren, als Heather angenommen hatte.
Von ihrem Erbe konnte sie nur eine Weile bescheiden leben, ein Haus in Mayfair und Personal damit zu erhalten, schien aber schlichtweg unmöglich zu sein. Das junge Mädchen war bestürzt. Auf diese Weise zerschlugen sich all ihre Träume. Und sie war nun offenbar gezwungen, sich den Hanleys anzuschließen. Bevor sie aber mit ihren Verwandten sprach, schüttete sie zunächst Miss Pringle ihr Herz aus. Die Gesellschafterin war ebenso fassungslos wie Heather.
»Aber das ist doch nicht möglich«, erwiderte sie spontan, nachdem das Mädchen sie ins Bild gesetzt hatte. »Ihr Vater war sehr erfolgreich und verdiente gut. Ich bin überzeugt, dass er zudem Vorsorge getroffen hat. Es muss ein Vermögen geben. Gewiss hat dieser angebliche Vermögensverwalter einen Fehler gemacht.«
»Das glaube ich nicht. Er hat mir alle Aufstellungen gezeigt, die dem Testament meines Vaters beilagen. Es stimmt