waren die Tage länger, die Sonne schien und es war draußen angenehm warm. Heather zog es nun in die Natur hinaus. Sie fragte Prudence schüchtern, ob es ihr wohl erlaubt sei, ein wenig spazieren zu gehen.
»Wenn du keine Dummheiten machst, habe ich nichts dagegen«, stellte diese klar. Es war offensichtlich, was sie damit meinte. »Und du musst selbstverständlich deine Pflichten im Haus erfüllen. Agatha ist recht zufrieden, du scheinst zu lernen und auch ein Händchen fürs Praktische zu haben. Das lob ich mir.«
Heather war erstaunt, denn so freundlich hatte Prudence sie bislang noch nicht behandelt. Als sie Hanley-Hall verließ, war sie nicht mehr so bedrückt wie in den zurückliegenden Wochen. Und der schöne Frühsommertag tat sein Übriges dazu, Heathers Stimmung zu heben. Unbewusst steuerte sie den kleinen Birkenhain an und dahinter die Stelle, von der aus man aufs Meer sehen konnte. Mittlerweile grünte und blühte es überall. Der Wind brachte den süßen Duft von Strandnelken und Ginster mit sich, es summte und brummte von munteren Insekten und das Zwitschern der Vögel war wie eine Symphony der Lebensfreude.
Heather hatte ganz vergessen, wie schön die Welt war. In den vergangenen Wochen hatte sie das Gefühl gehabt, in Hanley-Hall lebendig begraben zu sein. Nun wich der Druck, der ständig auf ihr lastete. Und sie fühlte sich wieder so lebendig und unbeschwert wie lange nicht mehr.
Sie spazierte eine ganze Weile durch die Natur, folgte einem schmalen Weg, der sie immer weiter fort von Hanley-Hall führte. Heather hatte daran gedacht, nach Ivy Grove zu wandern, denn die Sehnsucht in ihrem Herzen wollte einfach nicht verstummen. Doch sie wusste, dass ihre Verwandten ihr dies sehr übel genommen hätten. Und sie war zudem nicht einmal sicher, ob Timothy sich überhaupt noch dort aufhielt. Sie wollte sich nicht lächerlich machen.
Schließlich endete der Weg in einem Wald. Heather blickte sich um und stellte fest, dass der Abend bereits kam. Sie war länger unterwegs gewesen als geplant. Rasch kehrte sie um und machte sich auf den Heimweg. Sie wollte Prudence nicht gleich wieder gegen sich aufbringen, nachdem diese ihr endlich erlaubt hatte, Hanley-Hall zu verlassen. Das junge Mädchen legte ein flottes Tempo vor, doch bald schien klar, dass sie ihr Ziel nicht vor der Dunkelheit erreichen würde. Bei dieser Gewissheit sank ihr das Herz. Als sie den Birkenhain passierte, war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden, Nebelfeen stiegen aus dem Moor. Nirgends war mehr eine Seele, die Torfstecher hatten längst Feierabend gemacht.
Das verlassene Häuschen stand stumm in der zunehmenden Dämmerung. Heather musste an das denken, was Agatha ihr erzählt hatte. Dass Ted Tomkins genau hier der Geisterlady begegnet war. Und dass diese Begegnung ihn so sehr erschüttert hatte, dass er sein Haus und alles, was bis dahin Teil seines Lebens gewesen war, ohne Zögern hinter sich gelassen hatte.
Ein Geräusch ließ das junge Mädchen herumfahren. Doch da war nichts. Es raschelte im Unterholz, ein Vogel schrie klagend. Der Wind frischte auf und griff mit kalten, unsichtbaren Händen in ihr Haar. Heather hatte plötzlich das unwirkliche Gefühl, sich in einem ihrer Albträume zu befinden.
Je dunkler es wurde, desto mehr verschwamm die Umgebung. Schatten spielten dem jungen Mädchen Streiche, leise Geräusche, deren Ursprung sie nicht kannte, ließen sie zusammenzucken.
Heather sah bereits die Lichter von Hanley-Hall in der Ferne, als es geschah. Unvermittelt stand jemand auf dem Weg vor ihr. Wie aus dem Boden gewachsen. Stumm und abwartend. Es war eine Frau, in Begleitung zweier großer, schwarzer Hunde.
Heather schrak so heftig zusammen, dass sie stolperte und fiel. Sie blickte auf die Unheimliche, die noch immer reglos vor ihr stand. Und sie sah die Hunde. Sie belungerten sie, starrten sie an. Auch in ihren Augen schien ein höllisches Feuer zu brennen. Heather sah es und verlor vor Angst das Bewusstsein …
Das junge Mädchen hörte nicht mehr den Hufschlag, der sich näherte. Und sie merkte auch nicht, dass die Geisterlady langsam auf sie zuschwebte. Wenige Augenblicke später zügelte Timothy seinen Rappen neben der Bewusstlosen und sprang aus dem Sattel.
Kurz zögerte er, denn die Geisterlady stand zwischen ihm und dem geliebten Mädchen. Dann aber forderte er sie auf, zur Seite zu gehen. Die Erscheinung reagierte zunächst nicht.
Timothy wunderte sich darüber, dass sie den Boden nicht berührte. Sie wirkte fast durchscheinend, nur in ihren Augen schimmerte ein seltsames Licht. Er fürchtete sich nicht direkt, war eher fasziniert und überrascht. Dass diese Erscheinung, die ihn als Jungen bereits beschäftigt hatte, tatsächlich existierte, war erstaunlich, doch für ihn nun zweitrangig. Sie hielt ihn davon ab, zu Heather zu gelangen. Und das konnte und wollte er nicht hinnehmen.
»Lassen Sie mich zu ihr«, bat er ruhig.
»Timothy Humbert, Sie stammen aus einer Familie, der sehr viel Unrecht angetan wurde«, klang nun eine hohle, kaum menschlich zu bezeichnende Stimme an sein Ohr.
Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, da fuhr die Geisterlady fort: »Auch ich stamme aus diesem Geschlecht. Die Hanleys haben mir übel mitgespielt. Wachen Sie gut über dieses Mädchen, denn ein grausames Schicksal wartet auf sie!«
»Was … soll das bedeuten?«, fragte der junge Mann ratlos.
Doch die Erscheinung schien nicht gewillt zu sein, ihm weitere Auskünfte zu geben. Sie verblasste und war im nächsten Moment bereits verschwunden.
Timothys ganze Aufmerksamkeit galt nun dem geliebten Mädchen. Er beugte sich über Heather, strich sacht über ihre Stirn und flüsterte ihren Namen. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder zu sich kam. Zuerst spiegelte sich noch der Schrecken, den sie durchlitten hatte, in ihrem Blick. Dann aber erkannte sie Timothy und ein feines Lächeln glitt über ihre ebenmäßige Züge.
»Timothy, was tun Sie hier?«, fragte sie leise und beglückt.
»Ich bin ausgeritten, da fand ich Sie. Wie geht es Ihnen, Heather, können Sie aufstehen?«
»Ja, ich denke schon.« Sie kam ein wenig mühsam auf die Beine, denn ihre Knie zitterten. »Haben Sie die Geisterlady auch gesehen? Sie war da, nicht wahr? Oder habe ich es mir nur eingebildet?«, fragte sie unsicher.
»Sie war hier. Ich glaube, sie will Ihnen nichts Böses, Heather. Sie müssen sich nicht vor ihr fürchten.«
»Wie kommen Sie auf den Gedanken? Sie ist so unheimlich!«
Der junge Mann dachte kurz daran, ihr alles zu erzählen, was dieser Geist ihm gesagt hatte. Aber da näherte sich ihnen ein Einspänner, der von Reginald Hanley gelenkt wurde. Er hielt eine Kutscherlampe hoch, um besser sehen zu können, und steuerte direkt auf sie zu. Seine Miene war eisig.
»Onkel Reginald, ich …«, setzte Heather an, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Steig ein, kleine Lady. So dankst du es also meiner Frau, dass sie dir Freiheiten lässt. Nun gut, damit ist ein für alle Mal Schluss. Und Sie, Sir, sehe ich Sie noch einmal in Heathers Nähe, dann gnade Ihnen Gott!« Er schwang sich wieder in die Kutsche und trieb das Pferd wütend an.
Gleich darauf war der Spuk vorbei und Timothy wieder allein. Er blickte hinüber zu Hanley-Hall und fühlte sich dabei recht unbehaglich. Offenbar hatte Reginald eine Menge zu verbergen. Doch es sollte ihm nicht gelingen, seine schandhaften Pläne ungehindert in die Tat umzusetzen. Heather war ihm die längste Zeit ausgesetzt, dafür wollte Timothy sorgen. Er würde sie retten, sie von diesen Leuten befreien. Zunächst musste er herausfinden, wer die Geisterlady war. Denn er wurde den Verdacht nicht los, dass ihre Worte der Schlüssel zu allem waren. Zu Heathers Freiheit wie zu ihrem gemeinsamen Glück!
*
Prudence stand wie ein dunkler Racheengel in der Halle von Hanley-Hall, als ihr Mann Heather nach Hause brachte. Das junge Mädchen versuchte, ihr zu erklären, was geschehen war, doch dazu ließ die Hausherrin ihr keine Gelegenheit. Sie versetzte Heather eine schallende Ohrfeige und herrschte diese dann an: »Du undankbares Ding! Nachdem wir dich in unser Haus geholt und wie eine Tochter behandelt haben, hast du nichts anderes im Sinn, als unseren guten Namen in den Dreck zu ziehen! Wie eine Straßendirne suchst du dir deine Freier!«
»Das ist nicht wahr!« Heather wurde dunkelrot vor Scham, Tränen strömten aus ihren Augen und ihre