»Sie sind im Wohnzimmer«, erklärte der Arzt. Als er und Fee den Schrei gehört hatten, hatten sie alles stehen und liegen gelassen und eilten Marla zu Hilfe. Tatjana, Danny und Felix folgten ihnen.
Sie fanden die junge Malerin mit ihrem Freund im Wohnzimmer. Pascal kniete neben Marla, die zusammengekrümmt am Boden lag. Die Leiter, auf der sie gestanden hatte, war umgefallen.
»Ich hätte sie nicht hinauflassen dürfen«, gab er sich selbst die Schuld und sah voller Angst in die Runde. »Aber als ich sie zurückhalten wollte, hat sie mich nur ausgelacht.«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, erwiderte Felix. »Diese Art Frauen sind in dieser Familie keine Seltenheit.« Er schickte einen Blick in die Runde.
Doch anders als sonst hatte in diesem Moment niemand Sinn für seine Scherze. Daniel kniete auf der anderen Seite von Marla und beugte sich tief über sie.
»Kannst du mich hören?«, fragte er.
»Ja. Es geht schon wieder.« Tapfer, wie sie war, wollte sie sich auf den Ellbogen abstützen.
Mit sanfter Gewalt drückte Dr. Norden sie zurück auf den Boden. Nicht nur die Wunde an ihrer Stirn gab Anlass zur Sorge. Er hatte auch Angst um das Baby.
»Du bleibst schön liegen«, befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Hast du Schmerzen im Bauch?«
Diesmal schüttelte die junge Bäckerin den Kopf.
»Nein. Aber mein Bein tut weh.«
Verdreht, wie es war, nahm das nicht wunder.
»Sieht so aus, als ob das operiert werden müsste. Du musst auf jeden Fall in die Klinik«, sprach Daniel ein Machtwort und suchte in seinen Taschen nach seinem Handy.
Doch Danny war ihm schon zuvor gekommen.
»Gib dir keine Mühe. Ich war schneller«, erklärte er und deutete auf den Apparat in seiner rechten Hand. »Der Rettungswagen ist in fünf Minuten hier.«
»Ich fahre mit.« Pascal harrte noch immer neben seiner Freundin aus und streichelte unablässig ihre Hand.
Doch davon wollte Marla nichts wissen.
»Auf keinen Fall. Du musst unseren Helfern sagen, was in der Wohnung zu tun ist«, widersprach sie. »Schließlich will ich in einer Woche einziehen.«
Pascal schüttelte den Kopf.
»Ist das denn die Möglichkeit? Selbst auf dem Boden ist die Prinzessin noch in der Lage, Befehle zu erteilen.«
Trotz seiner Sorge um Marla lachte Daniel.
»Diese Hartnäckigkeit mag hin und wieder unangenehm sein, hat aber durchaus ihre Vorteile«, erwiderte er. »Marla ist eine zähe Kämpferin. Sie gibt so schnell nicht auf.« Er blinzelte der jungen Bäckerin aufmunternd zu, als auch schon das Martinshorn des Krankenwagens zu hören war, der Marla Brandt in die Behnisch-Klinik bringen sollte.
*
»Die Aufnahmen vom Schädel sind unauffällig. Möglicherweise haben Sie ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma. Da macht mir das Bein schon mehr Sorgen. Wir haben es mit einer komplizierten Schienbeinfraktur zu tun«, erklärte Dr. Matthias Weigand, der an diesem Sonntag Dienst in der Notaufnahme hatte. »Die sollten wir so schnell wie möglich operieren.«
»Und was ist mit dem Kind?« Daniel Norden hatte den Krankentransport begleitet und gemeinsam mit Matthias die Röntgenbilder studiert, während ein Gynäkologe Marla untersucht hatte.
»Der Muttermund ist geschlossen, und dem Kind scheint es gut zu gehen«, teilte Dr. Schneider seine Erkenntnisse mit seinen Kollegen.
»Mit deinem Kind ist alles in Ordnung«, wandte sich Daniel an Marla, die auf der Liege lag und den Stimmen der Ärzte lauschte. »Das ist doch schon mal eine gute Nachricht.«
»Aber was ist mit der Operation? Schadet die Narkose meinem Baby nicht?« Nach dem ersten Schock hatte sich Marla schnell mit dem Gedanken vertraut gemacht, Mutter zu werden. Pascals Begeisterung über die Schwangerschaft war ein weiterer Grund dafür, dass ihre Liebe im selben Maß wuchs wie das Kind in ihrem Leib.
Diese Entwicklung war erfreulich, und allein deshalb wollte Dr. Norden ihr die Sorgen unbedingt nehmen. Dazu gehörte, dass er alles so genau wie möglich erklärte.
»Da du als schwangere Frau niemals als nüchtern giltst, ist der Einsatz einer Gesichtsmaske nicht möglich. Deshalb muss die Beatmung während der Narkose über einen Atemschlauch in der Luftröhre erfolgen. Als Folge kann es zu Heiserkeit in den Tagen nach der Narkose kommen. Zudem ist das Risiko einer Lungenentzündung leicht erhöht. Weitere schwangerschaftsbedingte Komplikationen sind bei einer Vollnarkose aber kaum zu erwarten«, versuchte er, ihr Mut zu machen. »Dein Kind wird von all dem vermutlich nichts mitbekommen.«
Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
Marla legte die Hand auf ihren Leib und streichelte darüber.
»Wenn’s weiter nichts ist. Das schaffen wir schon! Nicht wahr, mein Schatz?« Als sie lächelte, sah sie aus wie ein Engel.
»Ich freue mich, dass du der Zukunft jetzt positiv entgegen sehen kannst«, bemerkte Dr. Norden, als eine Schwester ans Bett trat und das Zeichen zum Aufbruch gab. Es wurde Zeit für die Operation.
»Inzwischen verstehe ich sogar, was Danny gemeint hat«, fuhr Marla fort, während Daniel neben ihrem Bett den Flur hinunter ging. »Wenn ich dran denke, dass ich noch so viele Monate drauf warten soll, bis ich den kleinen Spatz endlich in meinen Armen halten kann, werde ich ganz kribbelig.«
»Glaub mir, die Zeit wird schneller vergehen, als dir lieb ist.« Die Türen zum Vorraum des Operationssaals öffneten sich lautlos. »Besonders in den schlaflosen Nächten wirst du noch an mich und dieses Gespräch denken«, versprach Daniel und zwinkerte Marla zu, die gleich darauf auf den Eingriff vorbereitet wurde.
*
Auch Dr. Norden hatte sich dazu entschlossen, bei der Operation dabei zu sein, und schon eine Viertelstunde später war es so weit. Der Eingriff begann. Zunächst kamen die Operateure gut voran, als der Anästhesist Dr. Bergmann Unregelmäßigkeiten feststellte.
»Die Patientin hat einen Blutdruckabfall.« Seine Stimme war ruhig, doch jeder wusste, was das bedeuten konnte.
Daniel, der dem Orthopäden Konrad Metzler assistierte, sah den Kollegen über den Tisch hinweg an.
»Bei uns ist alles in Ordnung«, beantwortete Dr. Metzler seine stumme Frage. »Kollege Lammers, sehen Sie bitte mal nach dem Kind.«
Fees ungeliebter Kollege war in den OP gerufen worden, um die Vitalfunktionen des Ungeborenen zu überwachen. Sofort zog er das Ultraschallgerät zu sich und legte den Schallkopf auf. Kein Wort kam über seine Lippen. Im Operationssaal herrschte Schweigen, und nur das Operationsbesteck klapperte hin und wieder leise.
»Und? Alles in Ordnung?«, fragte Daniel nach einer Weile.
Volker Lammers zog eine Augenbraue hoch.
»Diese Ungeduld liegt offenbar in der Familie«, gab er eine Kostprobe seiner scharfen Zunge. Ehe Dr. Norden aber einen passenden Kommentar parat hatte, konzentrierte sich der Kinderarzt wieder auf den Monitor. »Hier stimmt was nicht. Der Herzschlag des Kindes ist arrhythmisch.«
»Der Blutdruck der Patientin stabilisiert sich wieder«, gab indes der Anästhesist Entwarnung.
Der Orthopäde wiegte den Kopf.
»Könnte mit der Narkose zusammenhängen«, machte er keinen Hehl aus seiner Vermutung. »Eine Schraube noch, dann bin ich hier fertig. Danach beruhigt sich das Herzchen bestimmt wieder.«
»Wie Sie meinen!« Dr. Lammers ärgerte sich ganz offensichtlich darüber, nicht so ernst genommen zu werden, wie er es sich wünschte, und beendete die Ultraschalluntersuchung.
Wenig später beendete auch Konrad Metzler seine Arbeit. Die Wunde wurde geschlossen und Marla noch im Operationssaal