Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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kamen augenblicklich wieder heraus und sahen erschreckt herum, schußfertige Winchester in der Hand. Wir konnten aber nichts weiter sehen als den Dampfer, auf dem wir waren, und dessen Umrisse verschwanden, als wollte er sich in nichts auflösen, dazu ringsum einen nebligen Wasserstreifen, vielleicht zwei Fuß breit. Der Rest der Welt war nirgends, soweit unsere Augen und Ohren in Betracht kamen. Einfach nirgends, dahin, verschwunden; verweht, ohne ein Flüstern oder einen Schatten hinter sich zu lassen. Ich ging nach vorn und befahl, die Kette kurz zu hieven, damit wir im Notfall sofort ankerauf gehen und das Boot in Fahrt setzen könnten. ›Werden sie angreifen?‹ flüsterte eine erschreckte Stimme. ›Wir werden in dem Nebel alle abgeschlachtet werden‹, murmelte ein anderer. Es war sehr seltsam, den Gegensatz im Ausdruck der Weißen und der schwarzen Besatzung zu sehen, welch letztere in diesem Teil des Stromes ebenso fremd war wie wir, wenn ihre Heimat auch nur achthundert Meilen weit weg lag. Die Weißen, natürlich ziemlich außer Fassung, hatten überdies noch das merkwürdige Aussehen, als wären sie über den unziemlichen Lärm entrüstet. Die anderen zeigten einen klugen, unbefangen interessierten Ausdruck, doch in der Hauptsache waren ihre Gesichter ruhig, sogar die der beiden, die grinsend an der Kette zogen. Einige wechselten kurze, grunzende Sätze, die die Sache zu ihrer Zufriedenheit zu erledigen schienen. Ihr Häuptling, ein junger Schwarzer mit breiter Brust, in dunkle, blaugestreifte Gewänder gehüllt, die Nüstern stolz gebläht und das Haar in künstliche Locken gedreht, stand nahe bei mir. ›Aha‹, sagte ich, einfach um höflich zu sein. ›Fang sie‹, zischte er mit einem blutdürstigen Aufblitzen der Augen und einem Schnappen der scharfen Zähne. ›Fang sie! Gib sie uns!‹ – ›Euch, was?‹ fragte ich. ›Was würdet ihr mit ihnen tun?‹ – ›Essen‹, sagte er kurz, stützte seine Ellbogen auf das Geländer und sah in würdiger und tief nachdenklicher Haltung in den Nebel hinaus. Ich wäre fraglos äußerst entsetzt gewesen, wäre es mir nicht rechtzeitig eingefallen, daß er und seine Leute sehr hungrig sein mußten; daß ihr Hunger zumindest den letzten Monat ständig gewachsen sein mußte. Sie waren für sechs Monate angeworben worden (ich glaube nicht, daß irgendeiner von ihnen einen klaren Zeitbegriff hatte, wie wir ihn am Ende zahlloser Zeitalter haben. Sie gehörten immer noch dem Urbeginn der Zeiten an, hatten keine ererbten Erfahrungen, die ihnen nützlich hätten sein können), und wenn nur ein Stück Papier, entsprechend irgendeinem dummen Gesetz von der Küste unterschrieben war, so fiel es niemand mehr ein, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wovon die Leute wohl lebten. Gewiß hatten sie einen Vorrat halb verfaulten Flußpferdfleisches mit sich gebracht, der aber keinesfalls länger hätte vorhalten können, auch wenn die Pilger nicht mit großem Lärm eine beträchtliche Menge davon über Bord geworfen hätten. Das Vorgehen sah recht gewalttätig aus, war aber tatsächlich doch nur eine Handlung berechtigter Notwehr. Man kann nicht im Wachen, im Schlafen und beim Essen totes Flußpferd riechen und dabei auch noch sein Leben fest in der Hand halten, was ohnedies schwer genug ist. Überdies hatte man ihnen wöchentlich drei Stücke Messingdraht gegeben, jedes etwa zwanzig Zentimeter lang; die Abmachung war, daß sie sich dafür in den Dörfern längs des Stromes Lebensmittel eintauschen sollten. Ihr habt ja gesehen, wie das klappte. Entweder es waren keine Dörfer da, oder die Leute waren feindlich, oder der Direktor, der, wie die anderen auch, von Konserven lebte, mit dann und wann einem alten Ziegenbock dazwischen, der Direktor also wünschte nicht wegen eines mehr oder weniger nebensächlichen Grundes den Dampfer zu stoppen. Wenn sie also nicht den Draht selbst schluckten oder Haken daraus machten, um Fische damit zu fangen, so sehe ich heute noch nicht, wozu ihnen ihr außergewöhnliches Gehalt gedient haben mag. Es wurde übrigens mit der Regelmäßigkeit gezahlt, wie sie einer großen und ehrenwerten Gesellschaft ansteht. Im übrigen war das einzig Eßbare – wenn es auch nicht besonders eßbar aussah –, das ich in ihrem Besitz bemerkte, eine kleine Menge einer Masse wie halbgarer Teig, von schmutziger Lavendelfarbe; sie bewahrten es in Blätter eingehüllt auf und schluckten dann und wann ein kleines Stück davon, aber so klein, daß man glauben konnte, sie wollten weit eher den Anschein wahren, als wirklich etwas für ihre Ernährung tun. Warum sie nicht im Namen aller nagenden Hungerteufel auf uns losgingen – sie waren dreißig gegen fünf – und auf einmal richtig Schluß machten, das verwundert mich heute noch, wenn ich daran denke. Sie waren großmächtige Männer, ohne sonderliche Fähigkeit, die Folgen abzuwägen, mutig und stark auch jetzt noch, wenn auch ihre Haut nicht mehr glänzte und ihre Muskeln nicht mehr hart waren. Und ich sah, daß irgendeine Hemmung, eines der menschlichen Geheimnisse, die jeder Wahrscheinlichkeit Trotz bieten, hier ins Spiel gekommen war. Ich betrachtete sie mit sehr rasch wachsendem Interesse, aber nicht etwa, weil ich annahm, ich könnte über kurz oder lang von ihnen gegessen werden; obwohl ich zugebe, daß ich gerade damals – in neuem Licht sozusagen – zu merken begann, wie unglücklich die Pilger aussahen, und hoffte, jawohl, hoffte, daß mein eigenes Aussehen nicht so – wie soll ich mich ausdrücken – so wenig appetitlich wäre: ein Anflug phantastischer Eitelkeit, der sich gut in die Traumstimmung einfügte, die damals alle meine Tage erfüllte. Vielleicht hatte ich auch ein bißchen Fieber. Man kann nicht ständig mit dem Finger auf dem Puls leben. Ich hatte oft ›ein bißchen Fieber‹ oder ein bißchen was anderes; es waren die spielerischen Tatzenhiebe der Wildnis, die kleinen Scharmützel vor der großen Entscheidungsschlacht, die zur rechten Zeit stattfand. Ja, ich beobachtete die Leute, wie man jedes menschliche Wesen beobachtet, neugierig, ihre Impulse, Beweggründe, Fähigkeiten und Schwächen feststellen zu können, wenn sie durch eine zwingende, physische Notwendigkeit auf die Probe gestellt werden. Hemmung! Welche mögliche Hemmung konnte es sein? War es Aberglaube, Ekel, Geduld, Angst oder ein urwüchsiges Ehrgefühl? Keine Furcht kann sich stärker erweisen als der Hunger, keine Geduld kann ihn besiegen, Ekel kann überhaupt nicht bestehen, wo Hunger ist; und was nun den Aberglauben, den Glauben und das angeht, was man Grundsätze nennt, so sind sie alle weniger als Spreu im Winde. Kennt ihr nicht die Höllenqualen langsamen Hungerns, die unerträgliche Pein, die schwarze Gedanken und eine völlig hemmungslose Grausamkeit erzeugt? Nun gut, ich kenne sie. Es braucht die ganze Kraft eines Mannes, um mit dem Hunger anständig fertig zu werden. Es ist tatsächlich einfacher, mit jedem Verluste, mit Entehrung und Seelenverdammnis fertig zu werden, als mit diesem schleichenden Hunger. Traurig, aber wahr. Und die Kerle hatten ja sicher keinen erdenklichen Grund für irgendein Bedenken. Hemmung! Ebensogut hätte ich eine Hemmung bei einer Hyäne erwartet, die zwischen den Leichen auf einem Schlachtfelde auf Beute ausgeht. Doch da stand die Tatsache vor mir, die überraschende Tatsache, sichtbar, wie der Schaum auf dem tiefen Meer, noch geheimnisvoller, wenn ich es recht bedachte, als die merkwürdige, unbegreifliche Klage in dem wilden Schrei, der von der Uferbank, hinter dem weißen Nebelvorhang hervor, über uns weggeklungen war.

      Zwei Pilger stritten in hastigem Flüsterton darüber, von welchem Ufer der Schrei gekommen war. ›Links!‹ – ›Nein, nein; wie können Sie bloß! Rechts – rechts natürlich!‹ – ›Das ist sehr ernst‹, sagte die Stimme des Direktors hinter mir. ›Es täte mir sehr leid, wenn Herrn Kurtz irgend etwas geschehen sollte, bevor wir hinaufkommen.‹ Ich sah ihn an und hatte nicht den geringsten Zweifel, daß er es aufrichtig meinte. Er war gerade der Mann, der wünschen konnte, den Anschein zu wahren. Das war seine Hemmung. Als er aber eine Andeutung murmelte, wir sollten sofort weiterfahren, nahm ich mir nicht einmal die Mühe, ihm zu antworten. Ich wußte und er wußte, daß es unmöglich war. Sobald wir unseren Halt auf dem Flußgrund aufgaben, mußten wir in der Luft sein – im Nichts. Wir würden nicht mehr sagen können, wohin wir fuhren – ob stromauf, -abwärts oder querüber – bis wir gegen eine Uferbank oder sonst was rannten. Und auch dann würden wir zunächst nicht wissen, was es war. Natürlich rührte ich mich nicht vom Fleck. Ich hatte keine Lust zu scheitern. Man hätte sich auch keinen niederträchtigeren Platz für einen Schiffbruch vorstellen können. Ob wir nun sofort ertranken oder nicht, so war uns doch ein schneller Tod in der einen oder anderen Gestalt gewiß. ›Ich ermächtige Sie, alles zu wagen‹, sagte der Direktor nach einem kurzen Schweigen. ›Ich lehne es ab, irgend etwas zu wagen‹, gab ich kurz zurück; und das war gerade die Antwort, die er erwartet hatte, wenn ihn auch der Ton überraschen mochte. ›Nun, ich muß mich auf Ihr Urteil verlassen, Sie sind der Kapitän‹, sagte er mit betonter Höflichkeit. Ich wandte ihm zum Zeichen meiner Wertschätzung den Rücken zu und sah in den Nebel hinaus. Wie lange würde er anhalten? Es war der denkbar trostloseste Anblick. Die Reise zu diesem Kurtz, der in dem verteufelten Urwald Elfenbein zusammenraffte, war von ebenso vielen Gefahren umlauert, als wäre der Mann eine verzauberte Prinzessin gewesen, die in einem Märchenschlosse schlief. ›Glauben