Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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empfohlen. Oh, sagen Sie nicht nein, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.‹ Mir ging ein Licht auf. Die einflußreichen Bekannten meiner lieben Tante brachten auf diesen Mann eine unerwartete Wirkung hervor. Fast wäre ich in ein Gelächter ausgebrochen. ›Lesen Sie die Geheimkorrespondenz der Gesellschaft?‹ fragte ich. Er konnte nichts darauf erwidern. Es war ungeheuer lustig. ›Wenn Herr Kurtz Generaldirektor ist‹, fuhr ich streng fort, ›werden Sie keine Gelegenheit mehr dazu haben.‹

      Er blies plötzlich die Kerze aus, und wir gingen hinaus. Der Mond war aufgegangen. Schwarze Gestalten gingen lautlos herum und gossen Wasser auf die zischende Glut; Dampf wallte im Mondlicht auf, der geprügelte Neger stöhnte irgendwo. ›Was für einen Lärm das Vieh macht‹, sagte der rührige Mann mit dem Schnurrbart, der neben uns auftauchte. ›Recht ist ihm geschehen. Vergehen – Strafe – Punktum! – erbarmungslos. Das ist der einzige Weg. Das wird in Zukunft alle Brände verhüten. Ich habe eben dem Direktor gesagt ….‹ Er bemerkte meinen Gefährten und wurde sofort kleinlaut. ›Noch nicht zu Bett‹, sagte er mit kriecherischer Herzlichkeit. ›Es ist so natürlich! – Gefahr – Aufregung.‹ Damit verschwand er. Ich ging zum Flußufer hinunter, und der andere folgte mir. Ich hörte ein böses Zischen an meinem Ohr. ›Diese Dummköpfe – mögen sie zum Teufel gehen!‹ Man konnte die Pilger in Gruppen zusammenstehen und mit eifrigen Gebärden sprechen sehen. Viele hatten noch ihre Stäbe in den Händen. Ich glaube wirklich, sie nahmen diese Stäbe mit ins Bett. Jenseits der Umzäunung ragte der Wald gespenstisch im Mondlicht auf, und über die leise Bewegung, die schwachen Laute des jämmerlichen Gartenplatzes weg drang einem die Stille des Landes draußen gerade ins Herz: sein Geheimnis, seine Größe, die packende Tatsächlichkeit seines verborgenen Lebens. Der geprügelte Neger stöhnte leise irgendwo in der Nähe und stieß dann einen tiefen Seufzer aus, der mich zu schleunigem Weitergehen veranlaßte. Ich fühlte, wie sich eine Hand unter meinen Arm schob.

      ›Mein lieber Herr‹, sagte der Bursche, ›ich möchte nicht mißverstanden werden und besonders nicht von Ihnen, der Sie ja Herrn Kurtz sehen werden, lange bevor mir das Vergnügen beschieden sein wird. Ich möchte nicht, daß er einen falschen Begriff von meiner Sinnesart bekommt…‹

      Ich ließ ihn weitermachen, diesen Mephisto aus Pappendeckel, und hatte dabei den Eindruck, daß ich, wenn ich nur wollte, meinen Zeigefinger glatt durch ihn durchstecken und dabei auf nichts als vielleicht ein wenig losen Unrat stoßen würde. Ihr seht schon, er hatte sich ausgedacht, nach und nach unter dem gegenwärtigen Manne stellvertretender Direktor zu werden, und ich konnte wohl sehen, daß die Ankunft dieses Kurtz sie beide nicht wenig beunruhigt hatte. Er sprach überstürzt, und ich machte keinen Versuch, ihm Einhalt zu tun. Ich lehnte mit den Schultern gegen das Wrack meines Dampfers, der wie der Kadaver irgendeines großen Flußtieres auf das Ufer heraufgezogen war. Der Geruch von Schlamm, von Urschlamm, bei Gott, war in meinen Nüstern, die tiefe Stille des Urwaldes breitete sich vor meinen Augen; Lichtflecke tanzten auf der schwarzen Wasserfläche. Der Mond hatte alles mit einem leisen Silberglanz überzogen – das hohe Gras, den Schlamm, die Mauern wuchernden Pflanzenwuchses, die höher als eine Tempelmauer emporragten; und auch den großen Strom selbst, den ich da und dort aufblitzen sah, während er lautlos, breit dahinfloß. All dies war groß, erwartungsvoll, stumm, während der Mann über sich selbst schwatzte. Ich fragte mich, ob die Ruhe auf dem Antlitz der Unendlichkeit, die uns anblickte, als Bitte oder als Drohung gemeint war. Wer waren wir, die wir hier eingedrungen waren? Konnten wir das ungefüge Ding handhaben oder würde es uns handhaben? Ich fühlte plötzlich, wie groß, wie unheimlich groß das Ding war, das nicht sprechen konnte und vielleicht ebensowenig hören. Was war dort drin? Ich konnte sehen, daß ein wenig Elfenbein von da herauskam, und hatte gehört, daß Herr Kurtz dort drin war. Ich hatte sogar reichlich genug davon gehört – weiß Gott! Und doch hatte ich mir noch kein rechtes Bild machen können. Nicht mehr, als hätte man mir gesagt, ein Engel oder ein Teufel sei dort drin. Ich glaubte es einfach, so wie einer von euch etwa glauben könnte, daß der Mars bewohnt ist. Ich habe einmal einen schottischen Segelmacher gekannt, der sicher, einfach totsicher wußte, daß Leute auf dem Mars wohnten. Fragte man ihn, wie sie seiner Meinung nach aussähen und sich benähmen, dann wurde er verlegen und murmelte irgend etwas von ›auf allen vieren gehen‹. Zeigte man daraufhin auch nur das leiseste Lächeln, so trug er einem, obwohl über Sechzig, einen Boxkampf an. Ich wäre natürlich nicht so weit gegangen, für Kurtz einen Kampf zu wagen, aber doch ging ich fast bis zu einer Lüge. Ihr wißt ja, daß ich jede Lüge hasse, verabscheue und unerträglich finde. Nicht etwa, weil ich geradsinniger bin als die meisten von uns, sondern einfach, weil sie mich erschreckt. Ich wittere darin einen Hauch von Tod und Verwesung – von eben dem, was ich in der Welt am meisten verabscheue und zu vergessen wünsche. Es macht mir Übelkeit, als kriegte ich etwas Verdorbenes zwischen die Zähne. Eine Temperamentsfrage, nehme ich an. Nun also, ich ging hart bis zu einer Lüge, indem ich den jungen Narren, soviel wie er nur Lust hatte, an meine Beziehungen in Europa glauben ließ. Im Handumdrehen wurde ich genauso zum Heuchler wie der Rest der Pilger. Und das alles einfach aus dem Grunde, weil ich das dunkle Gefühl hatte, als könnte es für jenen Herrn Kurtz, von dem ich mir damals noch kein Bild machen konnte, von Nutzen sein. Er war für mich nur ein Wort. Ich sah den Mann hinter dem Namen nicht besser, als ihr es tut. Seht ihr ihn? Seht ihr die Geschichte? Seht ihr irgend etwas? Mir kommt es vor, als versuchte ich euch einen Traum zu erzählen, versuchte es vergebens, denn niemals kann die Erzählung eines Traumes das Traumhafte wiedergeben. Dieses Gefühl, aus widersinniger Überraschung und bestürzter Gegenwehr gemischt, das Bewußtsein, von dem Unglaublichen gefangen zu sein, das ja das Wesentliche an allen Träumen ist …«

      Er schwieg eine Weile.

      »… Nein, es ist unmöglich; es ist unmöglich, die Lebendigkeit irgendeines Abschnittes aus unserem Dasein wiederherzustellen, – das, was die Wahrheit, den Sinn und das innerste Wesen eines Erlebnisses ausmacht. Es ist unmöglich. Wir leben wie wir träumen – allein …«

      Wieder unterbrach er sich, als müßte er nachdenken, und fügte dann hinzu:

      »Natürlich seht ihr in dieser Geschichte jetzt schon mehr, als ich es damals tun konnte. Ihr seht mich, den ihr ja kennt …«

      Es war so stockdunkel geworden, daß wir Zuhörer einander kaum mehr sehen konnten. Seit langem schon war Marlow, der abseits saß, für uns nur noch eine Stimme gewesen. Niemand sprach ein Wort. Die anderen mochten eingeschlafen sein, doch ich war wach. Ich lauschte, lauschte und lauerte auf die Moral, auf das letzte Wort, auf die Erklärung für das leichte Unbehagen, das mir diese Geschichte erweckte, diese Geschichte, die sich allein, ohne Menschenlippen, aus der schweren Nachtluft des Flusses zu formen schien.

      »… Ja, ich ließ ihn weitermachen«, hob Marlow wieder an, »und bezüglich der Gewalten, die hinter mir standen, glauben, was er wollte. Das tat ich! Und doch war gar nichts hinter mir! Nichts, als das wracke, alte, verstümmelte Dampfboot, gegen das ich mich lehnte, während er fließend davon sprach, jeder Mann müsse ›trachten, vorwärtszukommen‹ – ›und wenn einer hier herauskommt, dann geschieht es nicht, um in den Mond zu sehen, wie Sie sich wohl denken können.‹ Herr Kurtz war ›ein Universalgenie‹, doch auch ein Genie mußte es wohl leichter finden, mit ›richtigen Werkzeugen – intelligenten Leuten‹ zu arbeiten. Er mache keine Ziegel – nun, dem stand eben ein ungewöhnliches Hindernis entgegen, wie ich mich überzeugen konnte. Und wenn er für den Manager Sekretärarbeit tat, so geschah das, weil ›kein vernünftiger Mensch unnötig das Vertrauen seiner Vorgesetzten zurückweist.‹ Ob ich das verstünde? Ich verstand es. Was ich sonst noch wünschte? Was mir wirklich fehlte, waren Nieten, bei Gott! um mit der Arbeit fortfahren, das Leck ausbessern zu können. Nieten brauchte ich. Drunten an der Küste standen Kisten voll davon. Kisten übereinandergetürmt, zerbrochen und zertrümmert. In dem Garten jener Station an dem Hügelhang stieß man bei jedem zweiten Schritt auf eine lose Niete. Nieten waren bis in den Todeshain gerollt. Man konnte sich die Taschen mit Nieten anfüllen, wenn man sich nur die Mühe nahm, sich zu bücken – hier aber, wo sie gebraucht wurden, war nicht eine einzige Niete zu finden. Wir hatten brauchbare Platten, aber nichts, um sie zu befestigen. Und jede Woche ging der Bote, ein einzelner Neger, den Postbeutel auf der Schulter und den Stab in der Hand, von der Station nach der Küste. Mehrmals in der Woche kam eine Küstenkarawane mit Tauschwaren herein. Schauerlich gestärkter Kaliko, daß einen das Schaudern ankam, wenn man ihn nur ansah,