dann, ob ich ihm erlauben würde, meine Schädelmaße zu nehmen. Ich bejahte ziemlich überrascht, worauf er ein Ding, ähnlich einem Zirkel, hervorzog und die Maße rückwärts, vorne, seitlich und überall nahm und sorgfältig aufschrieb. Er war ein unrasierter kleiner Mann in einem fadenscheinigen Rock, mit Pantoffeln an den Füßen, und ich hielt ihn für einen harmlosen Narren. ›Ich bitte immer um die Erlaubnis, der Wissenschaft zuliebe, die Schädel der Leute zu messen, die dort hinausgehen‹, sagte er. – ›Auch wenn sie zurückkommen?‹ fragte ich. – ›Oh, dann sehe ich sie niemals‹, meinte er, ›und überdies gehen ja die Veränderungen innerlich vor sich, müssen Sie wissen.‹ Er lächelte, als hätte er einen kleinen Scherz gemacht. ›So, Sie gehen also dort hinaus! Famos! Auch interessant!‹ Er sah mich forschend an und machte noch eine Notiz. ›Kein Fall von Irrsinn in Ihrer Familie?‹ fragte er in trockenem Geschäftston. Ich war recht ärgerlich: ›Geschieht auch diese Frage der Wissenschaft zuliebe?‹ – ›Es wäre‹, gab er zurück, ohne meine Erregung zu beachten, ›für die Wissenschaft sehr wichtig, an Ort und Stelle die seelischen Veränderungen in den Leuten zu beobachten, aber…‹ – ›Sind Sie Irrenarzt?‹ unterbrach ich ihn. – ›Jeder Doktor sollte das sein – ein wenig‹, gab der originelle Kauz unbeirrt zurück. ›Ich habe da eine kleine Theorie, die ihr Herren, die ihr dort hinausgeht, mir zu beweisen helfen müßt. Das ist mein Anteil an den Vorteilen, die mein Land aus dem Besitz so herrlicher Ländereien ziehen soll. Den bloßen Wohlstand überlasse ich anderen. Entschuldigen Sie meine Fragen, aber Sie sind der erste Engländer, den ich beobachten kann…‹ Ich beeilte mich, ihm zu versichern, daß ich in keiner Weise typisch wäre. ›Wäre ich das‹, meinte ich, ›dann unterhielte ich mich nicht so mit Ihnen‹. – ›Was Sie sagen, ist recht tiefsinnig und wahrscheinlich auch falsch‹, meinte er lachend. Vermeiden Sie jede Erregung mehr noch als grelle Sonne. Adieu! Wie sagt ihr Engländer? Good-bye. Ach ja, good-bye. Adieu. In den Tropen muß man vor allem anderen Ruhe bewahren…‹ Er hob warnend den Zeigefinger ›Du calme, du calme. Adieu.‹
Es blieb noch eines zu tun: meiner ausgezeichneten Tante Lebewohl zu sagen. Ich fand sie frohlockend. Sie bot mir eine Tasse Tee an die letzte anständige Tasse Tee für viele Tage – in einem Zimmer, das äußerst ansprechend, gerade so aussah, wie man es vom Wohnzimmer einer Dame gerne erwartet, hatten wir am Feuer einen guten, langen Plausch. Im Laufe dieser Herzensergüsse wurde es mir offenbar, daß ich der Gemahlin des hohen Würdenträgers und Gott weiß wie vielen Leuten sonst noch als ein begnadeter Ausnahmemensch dargestellt worden war, geradezu als ein Haupttreffer für die Gesellschaft, als ein Mann kurzum, wie er einem nicht alle Tage in die Finger läuft. Großer Gott im Himmel! Und dabei sollte ich den Befehl über einen Fünf-Pfennig-Flußdampfer übernehmen, mit einem Kinderpfeifchen daran. Darüber hinaus sollte ich scheinbar auch noch ein Arbeiter sein, ihr versteht mich schon, vom Schlage der Arbeiter im Weinberge, und etwas wie ein Sendbote des Lichts. Nicht viel weniger als ein Apostel. Gerade damals war eine Unmenge solchen Zeugs in Druck und Rede losgelassen worden, und die ausgezeichnete Frau hatte mitten im Strom des sie umgebenden Unsinns den Boden unter den Füßen verloren. Sie sprach davon, man müßte ›die unwissenden Millionen von ihren schlimmen Wegen abbringen‹, bis mir, Hand aufs Herz, ganz ungemütlich wurde. Ich wagte eine Andeutung, daß die Gesellschaft ein rein geschäftliches Unternehmen sei.
›Du vergißt, lieber Charlie, daß der Arbeiter seines Lohnes wert ist‹, erwiderte sie strahlend. Es ist merkwürdig, wie weit entfernt die Frauen von der Wahrheit sind. Sie leben in einer Welt ihrer eigenen Schöpfung, dergleichen es nie gegeben hat und auch nie geben kann. Denn diese Welt wäre zu schön, und wollten sie sie wirklich in den Raum stellen, so würde sie vor dem ersten Sonnenuntergang in Stücke gehen. Die eine oder die andere der verwünschten Tatsachen, die wir Männer vom Tage der Schöpfung an ruhig in den Kauf genommen haben, würde aufstehen und alles umstürzen.
Daraufhin wurde ich umarmt, gebeten, Flanell zu tragen, ganz bestimmt oft zu schreiben und so weiter; dann ging ich. In der Straße ich weiß nicht, warum – überkam mich das peinliche Gefühl, ich sei ein Hochstapler. Merkwürdig genug war es, daß ich, der ich doch sonst gewohnt war, innerhalb einer Frist von vierundzwanzig Stunden nach jedem beliebigen Punkt der Welt aufzubrechen, ohne mehr Hemmungen als andere Leute sie beim Überqueren einer Straße empfinden – daß also ich vor dieser doch recht alltäglichen Geschichte nicht gerade zauderte, aber doch ein gewisses Unbehagen empfand. Ich kann es euch nicht besser erklären, als indem ich sage, ich hatte ein oder zwei Sekunden lang das Gefühl, daß ich nicht ins Innere eines Kontinents, sondern geradezu ins Erdinnere aufbrechen sollte.
Ich reiste auf einem französischen Dampfer, der jeden gesegneten Hafen anlief, den sie dort draußen haben, und zwar, soviel ich sehen konnte, zu dem einzigen Zweck, um Soldaten und Zollbeamte zu landen. Ich betrachtete die Küste. Eine Küste betrachten, wie sie am Schiff vorbeigleitet, kommt dem Nachdenken über ein Rätsel gleich. Da liegt sie vor euch – lachend, drohend, einladend, großartig oder langweilig, häßlich, wild vielleicht, immer stumm, und doch leise lockend: ›Komm und sieh selbst.‹ Die Küste dort war fast ohne Merkmal, als wäre sie noch im Wachsen, und wirkte eintönig, öde. Der Rand eines ungeheuren Dschungels von so dunklem Grün, daß es fast schwarz aussah, und von einem Streifen weißer Brandung umsäumt, lief kerzengerade, wie mit dem Lineal gezogen, weit, weit einem grellblauen Meer entlang, dessen Glitzern ein kriechender Dunst verschleierte. Die Sonne war unerbittlich, das Land schien von Wasserdampf zu triefen. Da und dort tauchten grauweiße Flecken auf, jenseits des Brandungsstreifens zusammengedrängt, mit einer wehenden Flagge darüber. Ansiedlungen, die vielleicht einige Jahrhunderte alt waren und doch auf dem ungeheuren Hintergrund kaum größer als Stecknadelköpfe wirkten. Wir stampften dahin, hielten an, landeten Truppen; fuhren weiter, landeten Beamte, die Zoll einheben sollten, in einem Landstrich, der eine gottverlassene Wildnis schien, mit einem Wellblechdach und einer Flaggenstange darin; landeten Truppen – wohl um die Zollwächter zu schützen. Wie ich hörte, ertranken einige davon in der Brandung, – doch ob so oder so, niemand schien sich sonderlich darum zu kümmern. Die Leute wurden einfach ausgesetzt, und wir fuhren weiter. Alle Tage sah die Küste gleich aus, als hätten wir uns nicht vom Fleck gerührt; doch kamen wir an mancherlei Orten vorbei, Handelsniederlassungen – mit Namen wie Groß-Bassam, Klein-Popo, Namen, wie aus einer schmutzigen Posse entlehnt, die vor einem düsteren Vorhang in Szene ging. Die träge Muße eines Passagiers, meine Einsamkeit unter all den Leuten, mit denen ich keinerlei Berührungspunkte hatte, die völlig langweilige See, das eintönige Dunkel der Küste schienen mich weitab von der wirklichen Welt in einer schwermütigen und sinnlosen Selbsttäuschung gefangenzuhalten. Die Stimme der Brandung, die ich dann und wann hörte, war mir eine rechte Freude, wie die Rede eines Bruders. Sie war etwas Natürliches, das seinen Grund und seinen Sinn hatte. Dann und wann gab einem ein Boot vom Ufer her eine kurzwährende Berührung mit der Wirklichkeit. Es wurde von schwarzen Kerlen gerudert, und man konnte schon von weitem das Weiß in ihren Augen blitzen sehen. Sie brüllten und sangen. Ihre Leiber waren überströmt von Schweiß, ihre Gesichter waren wie groteske Masken; doch hatten sie Knochen und Muskeln, eine wilde Lebenskraft, eine ungeheure Bewegungsenergie, das alles wirkte so natürlich und wahr wie die Brandung längs der Küste. Sie brauchten keine Entschuldigung für ihr Dasein. Es war ein großer Trost, sie anzusehen. Für eine Zeitlang hatte ich dann wieder das Gefühl, in einer Welt kerniger Tatsachen zu leben; doch das Gefühl hielt nicht lange an. Irgend etwas tauchte plötzlich auf und verscheuchte es. Einmal, erinnere ich mich, kamen wir an ein Kriegsschiff, das weitab der Küste vor Anker lag. Es war nicht einmal eine Niederlassung zu sehen, und der Panzerkreuzer beschoß den Urwald. Es ergab sich, daß die Franzosen an dieser Stelle gerade einen ihrer Kriege im Gange hatten. Die Flagge hing schlaff wie ein Fetzen am Toppmast. Die Mündungen der langen Acht-Zoll-Geschütze standen ringsherum über den niedrigen Rumpf hinaus; die träge, ölige Dünung hob und senkte das Schiff langsam und ließ die dünnen Masten schwanken. In der leeren Unendlichkeit von Land, Himmel und Wasser lag der Kreuzer da, unverständlich, und feuerte in einen Erdteil hinein. Bumm, ging eines der achtzölligen Geschütze los; eine schmale Stichflamme blitzte auf und verging, ein weißes Rauchwölkchen verwehte, ein schlankes Geschoß heulte kurz auf – und nichts geschah. Nichts konnte geschehen. Es lag etwas wie Irrsinn in dem Beginnen, eine fürchterliche Komik in dem Anblick; und es wurde nicht besser, als jemand an Bord mir ernsthaft versicherte, irgendwo, außer Sicht, befände sich ein Lager der