Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke


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sich da­nach, sein un­s­te­tes Le­ben mit ei­nem ru­hi­ge­ren zu ver­tau­schen. Auf die­sem Stand­punk­te an­ge­langt, ge­dach­te er wie­der sei­ner Hei­mat­stadt.

      Als Kna­be hat­te er sie ver­las­sen, zum Leid­we­sen sei­nes Va­ters, des bra­ven Schus­ter­meis­ters Herz, um, statt für die Füße an­de­rer Leu­te zu sor­gen, sich mit den sei­ni­gen un­s­terb­li­chen Ruhm zu er­wer­ben. Jetzt sehn­te sich sein al­tern­des Herz nach der fried­li­chen Hei­mat zu­rück. Sein Va­ter war längst tot, aber eine Schwes­ter leb­te ihm noch; eine mus­ter­haf­te Schwes­ter. Als Herr Herz von dem Ver­lus­te sei­ner Gat­tin be­trof­fen ward, lang­te ein schwarz­ge­rän­der­tes Schrei­ben von Frl. Ina Herz an, voll schwes­ter­li­chen Be­dau­erns und from­mer Er­mah­nun­gen. Am Schluss mein­te die gute See­le: Da die klei­ne Rosa der müt­ter­li­chen Pfle­ge be­raubt sei, möge man ihr das Kind brin­gen; sie wol­le für das­sel­be sor­gen und ihm eine zwei­te Mut­ter sein. – Gerührt von so­viel Lie­be, be­schloss Herr Herz, nicht nur das Kind, son­dern auch sich selbst der Sorg­falt sei­ner gu­ten Schwes­ter an­zu­ver­trau­en. So be­gab er sich denn mit sei­ner Toch­ter in sei­ne Hei­mat­stadt zu­rück.

      An­fangs zwar war Fräu­lein Ina über die­se Wen­dung der Din­ge ein we­nig be­stürzt; aber ihre mu­ti­ge See­le fand sich selbst in die neue Le­bens­la­ge hin­ein. Die gan­ze Fa­mi­lie Herz ver­sam­mel­te sich trau­lich um einen Herd und leb­te in Ein­tracht von dem klei­nen Ver­mö­gen des Fräu­lein Ina, denn Herr Herz hat­te aus sei­ner lan­gen Künst­ler­lauf­bahn nur stei­fe Bei­ne und grei­se Haa­re ge­ret­tet. »Er­tanz­tes Geld«, mein­te er – und er hat­te sei­ner­zeit viel er­tanzt – »sei, weiß es Gott, das un­be­stän­digs­te der Welt!«

      Fräu­lein Ina pfleg­te ihre Schutz­be­foh­le­nen mit je­ner zar­ten Auf­op­fe­rung, die be­son­ders al­ten Frau­en­her­zen ei­gen zu sein scheint, de­nen das Le­ben es lan­ge Zeit ver­sagt hat, ihre Lie­be­be­dürf­tig­keit zum Aus­druck zu brin­gen. Die mü­den Füße des Bal­let­tän­zers durf­ten jetzt in be­que­men Pan­tof­feln aus­ru­hen, und die stil­le, ge­ord­ne­te Häus­lich­keit ge­währ­te dem ge­plag­ten Ko­mö­di­an­ten-Her­zen ein tie­fes Be­ha­gen. Herr Herz wur­de mit sei­ner al­ten Schwes­ter selbst zur al­ten Jung­fer. Er be­such­te flei­ßig die Kir­che, ward Mit­glied des Ar­men­ver­ei­nes; sam­mel­te eif­rig die klei­nen Er­eig­nis­se der Stadt, um sie eif­rig wie­der aus­zu­tra­gen. Sah man die Ge­schwis­ter Herz bei­ein­an­der, so fand man mehr männ­li­che Ent­schlos­sen­heit in Fräu­lein Ina als in ih­rem Bru­der.

      Auf die klei­ne Rosa ward die äu­ßers­te Sorg­falt ver­wandt. Fräu­lein Ina ließ das Kind nicht aus den Au­gen; es muss­te zu ih­ren Fü­ßen auf dem Tep­pich spie­len, sie sang es des Abends mit tiefer, hei­se­rer Stim­me in den Schlaf; sie nahm es stets in die Kir­che mit. Rosa schlief zwar wäh­rend des gan­zen Got­tes­diens­tes; Fräu­lein Ina je­doch mein­te, der blo­ße Auf­ent­halt in dem hei­li­gen Raum müss­te gut­tun; viel­leicht hoff­te sie auch da­durch ge­wis­se welt­li­che Ein­flüs­se zu ban­nen, die bei der Ge­burt des Kin­des ge­wal­tet ha­ben moch­ten.

      Nach­dem Herr Herz sich eine Zeit­lang aus­ge­ruht hat­te, fühl­te er wie­der den Drang nach Be­schäf­ti­gung in sich er­wa­chen, auch quäl­te ihn das Be­wusst­sein, nur auf die Mild­tä­tig­keit sei­ner Schwes­ter an­ge­wie­sen zu sein. Die Stel­le ei­nes Turn­leh­rers am städ­ti­schen Gym­na­si­um war frei. Er be­warb sich um die­sel­be und er­hielt sie. Da­ne­ben er­bot er sich, jähr­lich, von Weih­nacht bis zu den Fas­ten, den her­an­wach­sen­den Her­ren und Da­men des Städt­chens Tanz­un­ter­richt zu er­tei­len.

      Das ein­träch­ti­ge Bei­sam­men­le­ben moch­te ei­ni­ge Jah­re ge­dau­ert ha­ben, als Fräu­lein Ina ei­nes Mor­gens ih­rem Bru­der mel­den ließ, er möge beim Früh­stück nicht auf sie zäh­len, da sie, ei­nes leich­ten Un­wohl­seins we­gen, län­ger im Bett blei­ben wol­le. Aber auch um die Mit­tags­stun­de, als er aus dem Gym­na­si­um heim­kehr­te, fand er sei­ne Schwes­ter nicht im Wohn­zim­mer. Er eil­te in ihre Schlaf­kam­mer. Da lag sie bleich und re­gungs­los auf ih­rem Bett. Die klei­ne Rosa saß auf dem Estrich da­ne­ben und spiel­te mit der her­ab­hän­gen­den Hand ih­rer Tan­te. Fräu­lein Ina war tot.

      Die­ser Ver­lust muss­te den ar­men Herrn Herz auf das Emp­find­lichs­te tref­fen. Nicht nur die Lie­be zu der treu­en Schwes­ter wein­te in sei­nem Her­zen; ne­ben die­ser tap­fern und kräf­ti­gen Ge­nos­sin hat­te er sich ent­wöhnt, für sich und sein Kind zu sor­gen. Wie eine wohl­tä­ti­ge Vor­se­hung hat­te Fräu­lein Ina um ihn ge­wal­tet und ihm jede Auf­re­gung ei­nes Ent­schlus­ses er­spart. Jetzt, die­ser Stüt­ze be­raubt, fühl­te er sich hilf­los und ver­waist.

      Auf die Trau­er­bot­schaft eil­ten vie­le Nach­barn her­bei und staun­ten den al­ten Mann an, der wie ein Kind wein­te, lie­be­voll den Arm der To­ten strei­chel­te und im­mer wie­der­hol­te: »Schwes­ter, was fan­ge ich nun an? – Und die Rosa? – Schwes­ter, dass du das ta­test!«

      Herr Klappe­kahl be­merk­te zu die­sem Auf­tritt: »So ei­ner von der Büh­ne hat doch mehr Sen­ti­ment und Aplomb als je­der an­de­re Chris­ten­mensch.«

      Ag­nes Stock­mai­er, die alte Die­ne­rin, hüll­te ihre Her­rin in das schwarz­sei­de­ne Abend­mahl­kleid, setz­te ihr die schwar­ze Spit­zen­hau­be auf und leg­te ihr ein Kru­zi­fix in die blei­chen Hän­de. So trug man Fräu­lein Ina zum Fried­hof hin­aus. Der Pfar­rer Ra­ser hielt am Gra­be eine er­bau­li­che Rede, in der er die Ver­diens­te der Da­hin­ge­schie­de­nen nicht ge­nug zu prei­sen wuss­te und ihr rei­chen Him­mels­lohn ver­hieß. Die zahl­reich er­schie­ne­nen Freun­de drück­ten die Ta­schen­tü­cher an die Au­gen und spra­chen halb­laut mit­ein­an­der: »Also ganz plötz­lich?« – »Ja, ein sanf­ter Tod!« – »Gott sei ge­lobt!« – Dann blin­zel­te der eine oder der an­de­re zur hel­len März­son­ne auf und mein­te ge­fühl­voll: »Sie hat ein wah­res Got­tes­wet­ter für ihre letz­te Rei­se.« – Herr Herz stand bleich, eine große Krepp­schlei­fe am Hut, vor der Gruft und blick­te, jetzt ge­fasst, vor sich nie­der. Ag­nes Stock­mai­er trug die klei­ne Rosa auf dem Arm, die, fest in ein schwar­zes Um­schlag­tuch gehüllt, stau­nend all die erns­ten Men­schen an­blick­te und die zar­ten Li­ni­en ih­res Ge­sicht­chens ver­zog, als woll­te sie wei­nen.

      Im Haus­halt der Herz’ über­nahm nun Ag­nes Stock­mai­er die Rol­le ih­rer ver­ewig­ten Her­rin. Sie be­sorg­te die Wirt­schaft, er­zog Rosa, ja hat­te auch ge­wis­sen Ein­fluss auf die Ver­wal­tung des klei­nen Ver­mö­gens, wel­ches Fräu­lein Ina ih­rem Bru­der hin­ter­las­sen hat­te. Herr Herz füg­te sich wil­lig in die neue Herr­schaft, froh, sich wie­der sei­ner ge­wohn­ten Sorg­lo­sig­keit hin­ge­ben zu dür­fen. Er ging jetzt mehr aus; saß des Abends im Klub und spiel­te Whist. Sonst blieb al­les beim al­ten. Fräu­lein Schank, die Freun­din des Fräu­lein Ina und Vor­ste­he­rin der städ­ti­schen Töchter­schu­le, kam zu­wei­len, um nach Rosa zu se­hen, und er­teil­te ihr auch den ers­ten Un­ter­richt, als die Zeit dazu her­an­kam.

      Zweites Kapitel

      Als Rosa Herz ihr sieb­zehn­tes Jahr er­reicht hat­te und Pri­ma­ne­rin der Schank­schen Schu­le war, gab ein je­der im Städt­chen es zu, dass Rosa ein sehr hüb­sches, lus­ti­ges und gu­tes Kind sei. Nur ei­nes ward ihr mit Recht vor­ge­wor­fen: Sie glaub­te be­rech­tigt zu sein, ohne ir­gend­ei­nen trif­ti­gen Grund jede be­lie­bi­ge Un­ter­richts­stun­de ver­säu­men zu dür­fen, nur weil die Son­ne ge­ra­de be­son­ders hell schi­en