ihn, und er wird weiterhin für seine Tante, Mrs. Alec Davis, die Landwirtschaft betreiben.“
Susan sah Miss Cornelia durchdringend an.
„Mrs. Marshall Elliott, ich habe gehört, daß Miller hinter Ihrem Pflegling Mary Vance her ist.“
Dieser Schuß durchbohrte Miss Cornelias Panzer. Ihr gutmütiges Gesicht lief rot an.
„Das wäre ja noch schöner, wenn Miller Douglas um Mary herumscharwenzelte“, ereiferte sie sich. „Bei der gewöhnlichen Familie, aus der er kommt. Sein Vater war sogar bei den Douglases so was wie ein Ausgestoßener, sie haben ihn nie richtig dazugezählt. Und seine Mutter war eine von diesen schrecklichen Dillons aus Harbour Head.“
„Mrs. Marshall Elliott, soweit ich weiß, stammt Mary Vance aber auch nicht gerade aus einer adeligen Familie.“
„Mary Vance ist immerhin gut erzogen worden, und sie ist ein kluges, tüchtiges Mädchen“, verteidigte sie Miss Cornelia. „Sie wird sich Miller Douglas schon nicht an den Hals werfen, das können Sie mir glauben! Sie weiß, wie ich darüber denke, und bis jetzt hat Mary immer auf mich gehört.“
„Ich glaube, Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen, Mrs. Marshall Elliott, denn Mrs. Alec Davis ist genauso dagegen wie Sie. Sie sagt, es käme überhaupt nicht in Frage, daß einer ihrer Neffen eine so unbedeutende Person wie Mary Vance heiratet.“
Susan kehrte, nachdem dieses Wortgefecht ganz zu ihren Gunsten verlaufen war, wieder zu ihren Notizen zurück.
„Mit Freuden haben wir erfahren, daß Miss Oliver ein weiteres Jahr bei uns unterrichten wird“, las sie vor. „Miss Oliver wird ihre wohlverdienten Ferien zu Hause in Lowbridge verbringen.“
„Ich freue mich, daß Gertrude dableibt“, sagte Anne. „Wir würden sie schrecklich vermissen. Und sie übt einen so erfreulichen Einfluß auf Rilla aus, Rilla verehrt sie geradezu. Sie sind richtige Freundinnen, trotz des großen Altersunterschieds.“
„Wollte sie denn nicht heiraten?“
„Ja, davon war wohl die Rede, aber die Heirat ist um ein Jahr verschoben worden.“
„Wer ist denn der junge Mann?“
„Robert Grant, ein junger Rechtsanwalt aus Charlottetown. Ich hoffe, Gertrude wird glücklich mit ihm. Ihr Leben ist bisher ziemlich traurig verlaufen. Sie hat viele Enttäuschungen durchgemacht, deshalb ist sie besonders empfindlich. Ihre Jugendzeit ist vorbei, und sie ist praktisch allein auf der Welt. Diese neue Liebe ist für sie so überwältigend, daß sie anscheinend Angst hat, sie könnte nicht von Dauer sein. Als die Hochzeit verschoben werden mußte, war sie sehr verzweifelt – obwohl das bestimmt nicht Mr. Grants Schuld war. Es gab Unstimmigkeiten im Testament seines Vaters; sein Vater starb letzten Winter. Bevor die nicht aus dem Wege geräumt sind, kann er nicht heiraten. Ich glaube, für Gertrude war das ein schlimmes Omen, sie hatte Angst, ihr Glück würde ihr jetzt schon wieder weggenommen.“
„Es ist nicht gut, wenn man seine Gefühle zu sehr an einen Mann bindet, liebe Frau Doktor“, bemerkte Susan ernst.
„Mr. Grant ist genausosehr in Gertrude verliebt wie sie in ihn, Susan. Er ist es nicht, dem sie mißtraut. Es ist das Schicksal. Sie hat so etwas wie eine mystische Ader. Manche Leute würden sie wahrscheinlich als abergläubisch bezeichnen. Sie glaubt an Träume, und wir haben es bisher einfach nicht geschafft, sie davon zu überzeugen, daß Träume völlig harmlos sind. Ich muß allerdings zugeben, daß einige ihrer Träume … Aber solche ketzerischen Anspielungen lasse ich Gilbert lieber nicht hören. Na, was hast du denn nun wieder Interessantes gefunden, Susan?“
„Hören Sie her, liebe Frau Doktor!“ rief Susan aufgeregt. „Mrs. Sophia Crawford hat ihr Haus in Lowbridge aufgegeben und wird in Zukunft bei ihrer Nichte, Mrs. Albert Crawford, wohnen. Sophia ist meine eigene Cousine, liebe Frau Doktor! Als Kinder haben wir uns mal um ein Bild von der Sonntagsschule gestritten, mit einem Rosenkranz darauf, und in der Mitte stand: Gott ist Liebe. Seitdem haben wir nie mehr miteinander geredet. Und jetzt soll sie plötzlich direkt auf der anderen Straßenseite von uns wohnen.“
„Da wirst du wohl den alten Streit bereinigen müssen, Susan. Mit seinen Nachbarn sollte man nie auf Kriegsfuß stehen.“
„Cousine Sophia hat damals angefangen, also kann sie auch jetzt den Anfang machen, liebe Frau Doktor“, sagte Susan hochmütig. „Und wenn sie’s wirklich tut, dann kann ich nur hoffen, daß ich christlich genug bin, ihr auf halbem Wege entgegenzukommen. Die kann keinen Spaß vertragen. Als ich sie das letzte Mal sah, war ihr Gesicht von tausend Falten durchzogen. Vielleicht waren’s mehr, vielleicht auch weniger. Bestimmt vor lauter Verdrossenheit und Schwarzseherei. Beim Tod ihres ersten Mannes heulte sie ganz fürchterlich, aber es dauerte kein Jahr, da heiratete sie den Nächsten. – Aha, als nächstes geht es um den Sondergottesdienst, der am Sonntagabend in unserer Kirche stattfand. Die Dekoration wird in den höchsten Tönen gelobt.“
„Apropos Dekoration: Mr. Pryor kann Blumen in der Kirche nicht ausstehen“, sagte Miss Cornelia. „Als dieser Mann aus Lowbridge hierherzog, habe ich schon Ärger kommen sehen. Er hätte hier nie Kirchenältester werden dürfen. Das war ein Fehler, und wir werden schon sehen, was wir davon haben, darauf könnt ihr euch verlassen! Er soll sogar gesagt haben, wenn die Mädchen ‚weiterhin die Kanzel mit Unkraut verunstalten‘, dann käme er nicht mehr in die Kirche.“
„Die Kirche ist früher auch ohne das alte Mondge-sicht-mit-Schnauzbart ausgekommen, also wird sich auch nichts ändern, wenn er wieder weg ist“, sagte Susan.
„Wer hat ihm bloß diesen lächerlichen Spitznamen gegeben?“ wollte Anne wissen.
„Seit ich überhaupt denken kann, haben ihn die Jungen aus Lowbridge schon so genannt, liebe Frau Doktor. Wahrscheinlich, weil er so ein rundes rotes Gesicht hat mit so einem komischen rotblonden Bart außen rum. Er darf es natürlich nicht hören, daß man ihn so nennt. Aber schlimmer als der Bart ist seine Unvernunft. Was dieser Mann für komische Ideen hat! Jetzt ist er Kirchenältester und angeblich sehr fromm. Aber ich erinnere mich noch gut, liebe Frau Doktor, wie er vor zwanzig Jahren dabei ertappt wurde, als er seine Kuh auf dem Friedhof von Lowbridge weiden ließ. Ja, wirklich, das habe ich nicht vergessen, und ich muß oft daran denken, wenn er im Gottesdienst betet. So, das waren die Notizen, und das dürfte wohl schon alles gewesen sein, was an Wichtigem in der Zeitung steht. Ich interessiere mich nie besonders für das, was woanders passiert. Wer ist denn zum Beispiel dieser Erzherzog, der da ermordet worden ist?“
„Was geht das uns an?“ fragte Miss Cornelia, ohne eine Ahnung davon zu haben, auf was für eine schreckliche Art und Weise sie das bald etwas angehen würde. „In diesen Balkanstaaten wird doch andauernd gemordet. Das ist doch schon ganz normal dort, und ich finde nicht, daß unsere Zeitungen über solche schockierenden Dinge berichten sollten. Die Enterprise ist immer auf Sensation aus mit diesen fetten Überschriften. So, jetzt muß ich aber gehen. Nein, liebste Anne, zum Abendessen kann ich leider nicht bleiben, falls du das fragen willst. Wenn ich nicht zum Essen zu Hause bin, dann ißt Marshall nämlich auch nichts. Das lohnt sich nicht, sagt er dann – typisch Mann! Also gehe ich lieber. – Du lieber Himmel, liebste Anne, was ist denn mit diesem Kater los? Kriegt er etwa einen Anfall?“
Doc sprang mit einem Satz vor Miss Cornelias Füße, legte die Ohren zurück, fauchte sie an und machte dann einen weiteren Satz durchs Fenster nach draußen.
„Nein, nein. Er verwandelt sich nur gerade in Mr. Hyde. Das bedeutet, daß es noch vor morgen Regen oder Sturm gibt. Doc ist so zuverlässig wie ein Barometer.“
„Ich bin bloß froh, daß er sich diesmal draußen austobt und nicht wieder in meiner Küche“, sagte Susan. „So, und ich gehe jetzt und kümmere mich ums Abendessen. Bei so einer großen Schar, wie wir hier auf Ingleside sind, muß man schon rechtzeitig ans Essenvorbereiten denken.“
Morgentau
Die Sonne verwandelte den Garten von Ingleside in lauter kleine goldene Seen, die sich abwechselten mit geheimnisvollen Schatten. Rilla Blythe schaukelte in der Hängematte unter der großen schottischen Pinie, Gertrude Oliver saß neben ihr am Fuß