Fridtjof Nansen

In Nacht und Eis


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es ist hier mehr tierisches Leben, als man erwarten sollte.

      Freitag, 13. Oktober. Jetzt stecken wir gerade mitten in der Gefahr, vor der uns die Propheten so sehr bange machen wollten. Das Eis presst und schiebt sich mit donnerndem Getöse rund um uns her. Es türmt sich zu langen Mauern und zu Haufen auf, die weit an der Takelung der »Fram« hinaufreichen. Es versucht in der Tat sein Äußerstes, um die »Fram« zu Staub zu zermalmen. Wir sitzen aber ganz ruhig und gehen nicht einmal hinauf auf Deck, uns den Wirrwarr anzusehen, sondern plaudern und lachen, wie wenn nichts wäre. Man fühlt, dass das Schiff es aushalten kann, und solange dies der Fall ist, kann nichts Schaden leiden als das Eis selbst.

      Am Morgen ließ der Druck nach, aber gegen Abend fing die Pressung wieder im Ernst an. Offenbar steht die Eispressung hier mit Ebbe und Flut in Verbindung oder wird vielleicht davon verursacht. Sie tritt mit größter Regelmäßigkeit ein; zweimal in 24 Stunden lockert sich das Eis und zweimal schiebt es sich in dieser Zeit zusammen. Die Pressung erfolgt ungefähr um 4, 5 und 6 Uhr morgens und fast genau um dieselbe Stunde nachmittags, in der Pause liegen wir stets eine Zeit lang auf offenem Wasser.

      Die sehr starke Pressung in diesem Augenblick ist wahrscheinlich die Folge der Springflut; am 9., dem ersten Tag der Eispressungen, hatten wir Neumond.

      Die Ansicht, dass die Eispressungen durch die Gezeiten hervorgebracht werden, haben arktische Forscher schon wiederholt ausgesprochen. Wir hatten während der Drift der »Fram« bessere Gelegenheit als die meisten von ihnen, diese Erscheinung zu studieren, und unsere Erfahrungen bestätigen, dass die Flut in einem weiten Gebiet die Bewegung und den Druck des Eises veranlasst. Das ist namentlich zur Zeit der Springfluten der Fall und bei Neumond mehr als bei Vollmond.

      In den Zwischenzeiten war in der Regel wenig oder gar nichts von Eispressungen zu bemerken. Allein diese durch die Flut verursachten Pressungen ereigneten sich nicht während der ganzen Zeit unserer Drift, sondern hauptsächlich im Herbst, als wir uns in der Nachbarschaft des offenen Meeres nördlich von Sibirien befanden, und im letzten Jahr der Expedition, als die »Fram« sich dem Atlantischen Ozean näherte. Weniger bemerkbar waren sie im Polarbecken selbst. Hier traten Pressungen unregelmäßig ein und wurden hauptsächlich durch den Wind verursacht.

      Wenn man sich vorstellt, dass die in einer gewissen Richtung treibenden, ungeheuren Massen plötzlich auf Hindernisse stoßen, zum Beispiel auf Eis, das aus anderen Gegenden kommt und in entgegengesetzter Richtung treibt, so wird man leicht den Druck begreifen, der entstehen muss.

      Der Kampf zwischen den Eismassen ist unleugbar ein großartiges Schauspiel. Man fühlt, dass man sich in Gegenwart titanischer Gewalten befindet, und es ist leicht zu verstehen, dass sich ängstliche Gemüter fürchten. Denn wenn das Zusammenschieben ernstlich beginnt, bleibt kein Fleck der Oberfläche unerschüttert.

      Zuerst vernimmt man in der großen Wüste ein Geräusch wie das Donnergebrüll eines entfernten Erdbebens, dann hört man es, näher und näher kommend, an mehreren Stellen. Die Eiswelt widerhallt vom Donner, die Riesen der Natur erwachen zur Schlacht. Das Eis birst ringsumher und türmt sich auf, und ganz plötzlich steckt man mitten im Kampf.

      Auf allen Seiten hört man Heulen und Donnern, man spürt das Eis erzittern und hört es unter den Füßen brüllen; nirgends ist Friede. In dem Halbdunkel sieht man, wie es sich zu hohen Ketten wirft und heranrückt. Schollen von 3, 4 und 5 Metern Dicke bersten und werden übereinandergeschoben, als ob sie federleicht wären. Sie sind jetzt ganz nahe und man eilt fort, um das Leben zu retten; aber plötzlich spaltet sich das Eis vor uns, ein schwarzer Abgrund öffnet sich, aus dem das Wasser emporströmt. Man flieht nach einer anderen Richtung, aber dort ist es ebenso. Überall Donner und Brüllen wie von einem ungeheuren Wasserfall, mit Explosionen wie Geschützsalven. Die Scholle, auf der man steht, wird kleiner und kleiner, Wasser strömt darüber hinweg. Man entkommt nicht anders, als dass man über die rollenden Eisblöcke klettert und die andere Seite des Packeises gewinnt. Dann legt sich der Aufruhr, das Getöse verhallt und verliert sich in der Ferne. Dies ereignet sich hier weit oben im Norden Monat für Monat, Jahr für Jahr.

      In den Berichten über arktische Expeditionen liest man oft Beschreibungen von Ketten und Hügeln, die durch Eisdruck entstanden waren und bis zu 15 Meter hoch sein sollten. Das sind Märchen. Die Verfasser derartiger fantastischer Schilderungen können sich nicht die Mühe gegeben haben, ihre Ketten und Hügel zu messen. Während unserer Drift und unserer Märsche über die Eisfelder habe ich nur einmal einen Eishügel gesehen, der über 7 Meter hoch war, beinahe 9 Meter. Die höchsten Blöcke, die ich gemessen habe, hatten eine Höhe von 5½ bis 7 Metern, und ich kann nach meinen vielen Beobachtungen behaupten, dass sich Meereis nur äußerst selten bis zu einer Höhe von mehr als 8 Metern zusammenschiebt.

      Sonnabend, 14. Oktober. Heute haben wir das Ruder wieder angebracht; die Maschine ist ziemlich in Ordnung und wir sind bereit nach Norden aufzubrechen, wenn sich das Eis morgen früh öffnet. Es lockert und presst sich noch immer regelmäßig zweimal am Tage.

      Heute Abend war der Eisdruck heftig. Die Schollen türmten sich an der Backbordseite gegen die »Fram« auf und waren ein- oder zweimal nahe daran, über die Reling zu stürzen. Dann brach aber unten das Eis, sie fielen zurück und mussten schließlich doch unter uns durchgehen.

      Das Eis ist nicht dick und kann nicht viel Schaden anrichten, jedoch ist seine Gewalt manchmal enorm. Unaufhörlich, ohne Unterbrechung kommen die Massen heran; sie sehen aus, als sei kein Widerstand gegen sie möglich, aber langsam und sicher werden sie an den Seiten der »Fram« zermalmt.

      Sonntag, 24. Dezember. Weihnachtsabend. 37°C Kälte. Glitzernder Mondschein und die unendliche Stille der arktischen Nacht. Ich machte einen Spaziergang auf dem Eis. Der erste Weihnachtsabend, wie weit von der Heimat!

      Von diesem Tag sind im Tagebuch keine Einzelheiten mitgeteilt; aber wenn ich an ihn zurückdenke, wie klar tritt alles wieder vor mich hin! Es herrschte eine eigentümlich gehobene Stimmung an Bord, wie sonst bei uns durchaus nicht üblich. Jeder beschäftigte sich in seinen geheimsten Gedanken mit der Heimat, allein die Kameraden sollten das nicht merken und infolgedessen wurde mehr gescherzt und gelacht als sonst. Alle Lampen und Lichter, die wir an Bord hatten, brannten, und jede Ecke im Salon und in den Kabinen wurde glänzend erleuchtet.

      Die Verpflegung an diesem Fest übertraf natürlich die aller früheren Tage; denn Essen war das Einzige, womit wir Feste feiern konnten. Nach dem Abendessen kamen ganze Berge von Weihnachtskuchen, die Juell während mehrerer Wochen fleißig gebacken hatte, auf den Tisch.

      Den Höhepunkt erreichte die Feier, als zwei Kisten mit Weihnachtsgeschenken herbeigebracht wurden, die eine von Scott-Hansens Mutter, die andere von seiner Braut. Rührend die Freude, mit der jeder seine Gabe empfing, mochte es nun eine Pfeife, ein Messer oder sonst eine Kleinigkeit sein; man fühlte, dass es gleichsam eine Botschaft aus der Heimat war.

      Montag, 25. Dezember. Zu Hause werden sie jetzt viel an uns denken und uns wegen der Entbehrungen, die wir in dieser kalten, trostlosen Eisregion zu ertragen haben, viele mitleidige Seufzer weihen. Ich fürchte aber, ihr Mitgefühl würde sich abkühlen, wenn sie uns sehen, unsere Fröhlichkeit hören und Zeuge unserer Behaglichkeit und unseres guten Mutes sein könnten. Ihnen kann es zu Hause kaum besser gehen. Was mich selbst betrifft, so habe ich noch niemals ein so sybaritisches Leben geführt und niemals so viel Grund gehabt, die Folgen zu fürchten, die es mit sich bringt. Man höre nur die Speisenfolge unseres heutigen Mittagessens:

      1. Ochsenschwanzsuppe

      2. Fischpudding mit Kartoffeln und geschmolzener Butter

      3. Rentierbraten mit Erbsen, französischen Bohnen, Kartoffeln und eingemachten Kronsbeeren

      4. Moltebeeren mit Sahne

      5. Kuchen und Marzipan.

      Und zu alledem Ringnass-Bockbier! Ist das nun die richtige Art von Essen für Leute, die sich gegen die Schrecken der Polarnacht abhärten sollen? Wir hatten alle so viel gegessen, dass das Abendessen ausfallen musste.

      Zählt man zu den guten Dingen noch unser fest gebautes, sicheres Wohnhaus hinzu, unseren behaglichen Salon, den eine große und mehrere kleinere Petroleumlampen erleuchten, wenn wir gerade kein elektrisches Licht haben, ferner