erwies, aber genau das war der Stoff, aus dem Heldenlegenden gewoben wurden. In spektakulären Rettungsmaßnahmen wurde der Patriotismus geschürt. Die Eisbrecherkapitäne, die ersten Flieger, die Polarforscher, sie alle wurden zu Helden der Sowjetunion. Der Diktator Josef Stalin nutzte den Kampf mit der polaren Natur als Propaganda. Der Nördliche Seeweg war zum Synonym für den Durchhaltewillen des russischen Volkes respektive der sowjetischen Ideologie geworden. Ganze Städte wie Dikson, Tiski, Kap Schmidt oder Pewek entstanden in den folgenden Jahren. Orte, bei denen man sich fragt, worin ihre Existenzberechtigung bestand, da es kaum wirtschaftliche Gründe für ihr Entstehen gab. Aber diese Orte mit Zehntausenden von Einwohnern mussten schließlich versorgt werden – über den Nördlichen Seeweg.
Die Nordostpassage – Stoff, aus dem Heldenlegenden gewoben wurden. Der Kampf mit der polaren Natur als Propaganda.
Mit der Einführung immer stärkerer Eisbrecher, zuletzt mit den bis zu 75.000 PS starken nuklear getriebenen Schiffen der Arktika-Klasse, wurde die Passage in den Siebziger- und Achtzigerjahren fast zu einem Routineunternehmen. Die Logistik für die Konvois war ausgefeilt und ungeheuer effektiv. Die Eiserkundung aus der Luft, eine große Anzahl von Wetterstationen, Satellitentechnik – der Nördliche Seeweg war zu einer wichtigen und sehr lebendigen Lebens- und Verkehrsader geworden.
Anders als das nordamerikanische Pendant, die Nordwestpassage, die in einem Dornröschenschlaf versunken schien und die für die Schifffahrt kaum wirtschaftliche Bedeutung erlangte, war die Nordostpassage, der Nördliche Seeweg, ein hoch effektiver Transportweg geworden, durch den jeden Sommer Tausende von Tonnen an Ladung von Ost nach West oder in umgekehrter Richtung gelotst wurden. Hochleistungseisbrecher standen an den so genannten Flaschenhälsen bereit, um die Schiffe durch die dort meterhohen Eispressungen zu führen, sie notfalls im Schlepp mit brachialer Gewalt zu ziehen. 1977 erreichte der Eisbrecher ARKTICA als erstes Überwasserschiff den Nordpol. Das Schwesterschiff YAMAL hat Anfang des Jahrtausends gerade die zwanzigste Rundreise zum Nordpol unternommen – mit zahlungskräftigen Touristen.
Selbst im Winter werden die Häfen am Jenissei von Eisbrechern angelaufen – beziehungsweise wurden. Denn mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach auch dieses gesamte über Jahrzehnte kunstvoll gewachsene Gebilde der Infrastruktur entlang des Nördlichen Seeweges zusammen. Als wir 1991 noch zur Zeit der Sowjetunion in die Passage einfuhren, bekamen wir noch einen eindrucksvollen Einblick in die Funktionsweise der Konvois. Aber bereits damals befand sich alles im Niedergang. Zerfallene Orte, Menschen, die ihr Hab und Gut in Container verluden und – sofern sie es sich leisten konnten – in südlichere Landesteile übersiedelten. Leere Geschäfte, Inflation und verbitterte Verwaltungsbeamte und Militärs, die nicht wahrhaben wollten, dass das Ende der Sowjetherrschaft und damit auch einer ganzen Gesellschaftsstruktur unwiderruflich gekommen war.
1992 waren wir immer noch im Land, sprachlos über den rasanten Verfall allerorts. Waren wir 1991 zumindest freundlich aufgenommen worden, so stießen wir 1994 bei offiziellen Stellen fast nur noch auf Ablehnung. Polarstationen wurden nicht mehr versorgt und infolgedessen aufgegeben. Die Eisbrecherflotte dümpelte zur Untätigkeit verurteilt im Hafen, schlecht gewartete Nuklearantriebe verwandelten sich in tickende Zeitbomben, und die Menschen in den trostlosen Ortschaften entlang des Seeweges waren allein gelassen, verzweifelt und vor schier unlösbare Probleme gestellt. Heizkraftwerke brachen zusammen, es gab keine Kohle mehr, Ersatzteile fehlten überall – und das bei Temperaturen, die im Winter bei 50 bis 60 °C unter Null liegen. In Krankenhäusern wurde bei Minusgraden im Schein von Petrole umlampen operiert. Krankheiten, Unfälle, Alkoholismus forderten einen großen Zoll an Menschenleben. Ich wage zu behaupten, dass sich bei uns in Europa kaum einer vorstellen kann, was das Überleben für die Menschen entlang der Passage bedeutet hat – ärgern wir uns doch schon, wenn vor unserer Haustür eine Straßenlaterne kaputtgeht.
Der Nördliche Seeweg ist innerhalb eines Jahrzehnts zur völligen Bedeutungslosigkeit verkommen und weitgehend in Vergessenheit geraten.
Dagmar
Aaen
HAMBURG
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53° 33‘ N; 9° 59‘ E
01
Schiffe haben ihre Schicksale, sie greifen auch in andere Schicksale ein. Es laufen feine Zauberfäden zwischen der Beschaffenheit eines Schiffes und der menschlichen Seele.
NIELS BACH
Eine Expedition ins Polarmeer stellt besondere Anforderungen an Schiff und Material – an die Crew ohnehin. Man mag über das Für und Wider eines 71 Jahre alten gaffelgetakelten Holzkutters für derartige Zwecke unterschiedlicher Auffassung sein. Aber all die Skeptiker, Kritiker und Besserwisser, die zu Beginn unserer ersten Polarfahrt im Jahre 1991 hämisch anmerkten, dass dieser alte Kahn spätestens vor Helgoland auseinander fallen würde, sind längst verstummt. Sie sind eines Besseren belehrt worden und das offenbar in sehr nachhaltiger Form. Die DAGMAR AAEN mag zwar alt sein – aber sie ist kein Stückchen müde. Dafür habe ich im Laufe der Jahre gesorgt.
Es gibt auf der ganzen Welt wohl kein anderes Segelschiff – ob alt oder jung –, das die polaren Routen so umfassend bereist hat wie die DAGMAR AAEN. Sie hat dreimal bei Temperaturen von bis zu −58 °C im Polareis überwintert. Jede der Überwinterungen dauerte neun Monate. Und trotzdem lief alles geregelt und ohne irgendwelche Katastrophen ab. Sie ist mehrfach um Kap Hoorn gesegelt, war im Rahmen der Shackleton-Expedition in der Antarktis, hat als erste und bislang einzige Yacht Franz-Josef-Land erreicht und auf diese Art und Weise in den letzten 30 Jahren rund 150.000 Seemeilen zurückgelegt. Sie hat sowohl in der Nordwestpassage wie auch in der Nordostpassage schwerste Eispressungen überstanden, bei denen sogar ein russischer Eisbrecher leckgeschlagen ist. Sie ist ein Arbeitsschiff – ist es immer gewesen – doch im Vergleich zu einer modernen Yacht segelt sie langsam und natürlich auch nicht so hoch am Wind. Aber wir segeln ja auch keine Regatta.
Die Nordostpassage mit einem Segelschiff zu durchqueren, mag manch einem als Anachronismus anmuten. Ob es sich dabei um eine moderne Yacht oder ein klassisches Holzschiff handelt, vermag daran nichts zu ändern. Eine moderne, entsprechend solide gebaute Yacht wird sicher das Gleiche leisten – aber auch nicht mehr. Wir haben einfach Spaß an diesem Schiff. Wir leisten das Mehr an Arbeit gerne, auch wenn wir bei schwerem Wetter über das schwere und unhandliche Großsegel fluchen – wir finden es trotzdem toll. Wir stehen bei Wind und Wetter ungeschützt an Deck, ducken uns vor überkommenden Seen und lachen grimmig in uns hinein, wenn das schlechte Wetter überstanden ist. Die DAGMAR AAEN ist für uns nicht einfach nur ein Vehikel, sie ist eine gute Freundin geworden, ein Identifikationsobjekt, mit dem wir sehr sorgsam umgehen.
Vor jeder neuen Reise durchläuft sie die Werft von Christian Jonsson in Egernsund in Dänemark. Christian kennt das Schiff schon länger als ich selbst. Bereits der Voreigner Niels Bach hatte das Schiff von Christian – damals noch auf einer anderen Werft – warten lassen. Keine Ecke, kein Spant, keine Planke, die von Christian nicht persönlich inspiziert worden ist. Ich verlasse mich zu 100 Prozent auf ihn.
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Das Großsegel hat allein eine Fläche von 100 m2, und der Baum mit seinen 12 Metern Länge wiegt gut und gern an die 500 kg. Unter Segeln sieht die DAGMAR AAEN grandios aus.
Im Grunde genommen war das Schiff nach diesjährigen Winterarbeiten fast wie neu. Ein Holzschiff wird im Laufe der Jahre immer wieder runderneuert. Insofern relativiert sich das Alter von 71 Jahren. Wenn man heute über das Deck der DAGMAR AAEN blickt, sind das Maschinenraumskylight und das Steuerrad die einzigen Teile, die noch aus der Zeit meines Voreigners stammen. Alles andere, einschließlich Relingstützen, Deck, Aufbauten und Schanz sind im Laufe der Jahre erneuert worden.
Parallel zu den Umbauten liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Rettungsflugwacht – kurz DRF genannt – wurden wir von dem Rettungssanitäter Christian Müller-Ramcke in Seminaren für den Ernstfall vorbereitet. Dort wo wir segeln würden, gibt es keinen Notarzt. Wie sinnvoll solche Schulungen in Verbindung mit einer gut ausgestatteten Bordapotheke