vogelähnlichen Gesicht, dem dünnlippigen Mund und den kalten Augen öffnet ihr. Er nimmt wortlos den Brief aus ihrer Hand und zieht ihr die Tür vor der Nase zu, als sei sie eine Diebin, vor der man sich vorzusehen hat.
Aber Eva Kluge zuckt zu so was nur die Achseln und geht wieder die Treppen hinunter. Manche Menschen sind eben so; solange sie die Post in der Jablonskistraße austrägt, hat dieser Mann noch nie ein einziges Wort zu ihr gesagt, nicht einmal »Heil Hitler« oder »Guten Tag«, trotzdem auch er, wie sie weiß, einen Posten in der Arbeitsfront2 hat. Nun, lass ihn, sie kann ihn nicht ändern, hat sie doch nicht einmal den eigenen Mann ändern können, der mit Kneipensitzen und mit Rennwetten sein Geld vertut und der zu Haus nur dann auftaucht, wenn er ganz abgebrannt ist.
Bei den Persickes haben sie in ihrer Aufregung die Flurtür offengelassen, aus der Wohnung klingt Gläsergeklirr und das Lärmen der Siegesfeier. Die Briefträgerin zieht die Flurtür sachte ins Schloss und steigt weiter hinab. Dabei denkt sie, dass dies eigentlich eine gute Nachricht ist, denn durch diesen raschen Sieg über Frankreich wird der Friede näher gerückt. Dann kommen die beiden Jungen zurück, und sie kann ihnen wieder ein Heim schaffen.
Bei diesen Hoffnungen stört sie aber das ungemütliche Gefühl, dass dann solche Leute wie die Persickes ganz obenauf sein werden. Solche zu Herren haben und immer den Mund halten müssen und nie sagen dürfen, wie einem ums Herz ist, das scheint ihr auch nicht das Richtige.
Flüchtig denkt sie auch an den Mann mit dem kalten Geiergesicht, dem sie eben den Feldpostbrief ausgehändigt hat und der dann wohl auch einen höheren Posten in der Partei bekommen wird, und sie denkt an die alte Jüdin Rosenthal, oben im vierten Stock, der die Gestapo vor zwei Wochen den Mann weggeholt hat. Die kann einem leidtun, die Frau. Rosenthals haben früher ein Wäschegeschäft an der Prenzlauer Allee gehabt. Das ist dann arisiert worden, und nun haben sie den Mann weggeholt, der nicht weit von siebzig ab sein kann. Was Böses getan haben die beiden alten Leute sicher nie jemandem, aber immer angeschrieben, auch für die Eva Kluge, wenn mal kein Geld für Kinderwäsche da war, und schlechter oder teurer als in anderen Geschäften war die Ware bei Rosenthals auch nicht. Nein, es will nicht in den Kopf von Frau Eva Kluge, dass so ein Mann wie der Rosenthal schlechter sein soll als die Persickes, bloß weil er ein Jude ist. Und nun sitzt die alte Frau da oben in der Wohnung mutterseelenallein und traut sich nicht mehr auf die Straße. Erst wenn es dunkel geworden ist, macht sie mit dem Judenstern ihre Einkäufe, wahrscheinlich hungert sie. Nein, denkt Eva Kluge, und wenn wir zehnmal über Frankreich gesiegt haben, gerecht geht es nicht bei uns zu …
Damit ist sie in das nächste Haus gekommen und setzt dort ihren Bestellgang fort.
Der Werkmeister Otto Quangel ist unterdes mit dem Feldpostbrief in die Stube gekommen und hat ihn auf die Nähmaschine gelegt. »Da!«, sagt er nur. Er lässt ihr stets das Vorrecht, diese Briefe zu öffnen, weiß er doch, wie sehr sie an ihrem einzigen Sohne Otto hängt. Nun steht er ihr gegenüber; er hat die dünne Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und wartet auf das freudige Erglänzen ihres Gesichtes. Er liebt in seiner wortkargen, stillen, ganz unzärtlichen Art diese Frau sehr.
Sie hat den Brief aufgerissen, einen Augenblick leuchtete ihr Gesicht wirklich, dann erlosch das, als sie die Schreibmaschinenschrift sah. Ihre Miene wurde ängstlich, sie las langsamer und langsamer, als scheute sie sich vor jedem kommenden Wort. Der Mann hat sich vorgebeugt und die Hände aus den Taschen genommen. Die Zähne sitzen jetzt fest auf der Unterlippe, er ahnt Unheil. Es ist ganz still in der Stube. Nun fängt der Atem der Frau an, keuchend zu werden …
Plötzlich stößt sie einen leisen Schrei aus, einen Laut, wie ihn ihr Mann noch nie gehört hat. Ihr Kopf fällt vornüber, schlägt erst gegen die Garnrollen auf der Maschine und sinkt zwischen die Falten der Näharbeit, den verhängnisvollen Brief verdeckend.
Er ist mit zwei Schritten hinter ihr. Mit einer bei ihm ganz ungewohnten Hast legt er seine große, verarbeitete Hand auf ihren Rücken. Er fühlt, dass seine Frau am ganzen Leibe zittert. »Anna!«, sagt er. »Anna, bitte!« Er wartet einen Augenblick, dann wagt er es: »Ist was mit Otto? Verwundet, wie? Schwer?«
Das Zittern geht fort durch den Leib der Frau, aber kein Laut kommt von ihren Lippen. Sie macht keine Anstalten, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.
Er blickt auf ihren Scheitel hinunter, er ist so dünn geworden in den Jahren, seit sie verheiratet sind. Nun sind sie alte Leute; wenn Otto wirklich was zugestoßen ist, wird sie niemanden haben und bekommen, den sie lieb haben kann, nur ihn, und er fühlt immer, an ihm ist nicht viel zum Liebhaben. Er kann ihr nie und mit keinem Wort sagen, wie sehr er an ihr hängt. Selbst jetzt kann er sie nicht streicheln, ein bisschen zärtlich zu ihr sein, sie trösten. Er legt nur seine schwere, starke Hand auf ihren dünnen Scheitel, er zwingt sanft ihren Kopf hoch, seinem Gesicht entgegen, er sagt halblaut: »Was die uns schreiben, wirst du mir doch sagen, Anna?«
Aber obwohl jetzt ihre Augen ganz nahe den seinen sind, sieht sie ihn nicht an, sondern hält sie fest geschlossen. Ihr Gesicht ist gelblich blass, ihre sonst frischen Farben sind geschwunden. Auch das Fleisch über den Knochen scheint fast aufgezehrt, es ist, als sähe er einen Totenkopf an. Nur die Wangen und der Mund zittern, wie der ganze Körper zittert, von einem geheimnisvollen inneren Beben erfasst.
Wie Quangel so in dies vertraute, jetzt so fremde Gesicht schaut, wie er sein Herz stark und stärker schlagen fühlt, wie er seine völlige Unfähigkeit spürt, ihr ein bisschen Trost zu spenden, packt ihn eine tiefe Angst. Eigentlich eine lächerliche Angst diesem tiefen Schmerz seiner Frau gegenüber, nämlich die Angst, sie könne zu schreien anfangen, noch viel lauter und wilder, als sie eben schrie. Er ist immer für Stille gewesen, niemand sollte etwas von Quangels im Hause merken, und gar Gefühle laut werden lassen: Nein! Aber auch in dieser Angst kann der Mann nicht mehr sagen, als er auch vorhin schon gesagt hat, nämlich: »Was haben sie denn geschrieben? Sag doch, Anna!«
Wohl liegt der Brief jetzt offen da, aber er wagt nicht, nach ihm zu fassen. Er müsste dabei den Kopf der Frau loslassen, und er weiß, dieser Kopf, dessen Stirne schon jetzt zwei blutige Flecke aufweist, fiele dann wieder gegen die Maschine. Er überwindet sich, noch einmal fragt er: »Was ist denn mit Ottochen?«
Es ist, als habe dieser vom Manne fast nie benutzte Kosename die Frau aus der Welt ihres Schmerzes in dieses Leben zurückgerufen. Sie schluckt ein paarmal, sie öffnet sogar die Augen, die sonst sehr blau sind und jetzt wie ausgeblasst aussehen. »Mit Ottochen?«, flüstert sie fast. »Was soll denn mit ihm sein? Nichts ist mit ihm, es gibt kein Ottochen mehr, das ist es!«
Der Mann sagt nur ein »Oh!«, ein tiefes »Oh!« aus dem Innersten seines Herzens heraus. Ohne es zu wissen, hat er den Kopf seiner Frau losgelassen und greift nach dem Brief. Seine Augen starren auf die Zeilen, ohne sie noch lesen zu können.
Da