Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrtümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.
Der Einflussreichste. – Dass ein Mensch seiner ganzen Zeit Widerstand leistet, sie am Tore aufhält und zur Rechenschaft zieht, das muss Einfluss üben! Ob er es will, ist gleichgültig; dass er es kann, ist die Sache.
Unbequeme Eigenschat. – Alle Dinge tief finden – das ist eine unbequeme Eigenschaft: Sie macht, dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat.
Egoismus. – Egoismus ist das perspektivische Gesetz der Empfindung, nach dem das Nächste groß und schwer erscheint: während nach der Ferne zu alle Dinge an Größe und Gewicht abnehmen.
Zur Beruhigung des Skeptikers. – »Ich weiß durchaus nicht, was ich tue! Ich weiß durchaus nicht, was ich tun soll!« – Du hast Recht, aber zweifle nicht daran: Du wirst getan! In jedem Augenblicke! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Aktivum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer.
Verdruss des Stolzen. – Der Stolze hat selbst an denen, welche ihn vorwärts bringen, seinen Verdruss: Er blickt böse auf die Pferde seines Wagens.
Die Zwecke in der Natur. – Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muss zu dem großen Ergebnis kommen: dass das Sehen nicht die Absicht bei der Entstehung des Auges gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als der Zufall den Apparat zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel: und die »Zwecke« fallen uns wie Schuppen von den Augen!
Was ist Wollen! – Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: »Ich will, dass die Sonne aufgehe«; und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: »Ich will, dass es rolle«; und über den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: »hier liege ich, aber ich will hier liegen!« Aber, trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders, als einer von diesen Dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: »Ich will«?
Was macht heroisch? – Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehen.
Woran glaubst du? – Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.
Was sagt dein Gewissen? – »Du sollst der werden, der du bist.«
Wo liegen deine größten Gefahren?. – Im Mitleiden.
Was liebst du an Anderen?. – Meine Hoffnungen.
Wen nennst du schlecht?. – Den, der immer beschämen will.
Was ist dir das Menschlichste?. – Jemandem Scham ersparen.
Was ist das Siegel der erreichten Freiheit?. – Sich nicht mehr vor sich selber schämen.
Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen. – Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende Meinungen gewalttätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer früheren Stufe der Kultur zugehört, also ein Überbleibsel ist: Denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgenießt und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, – das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Kultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, möglichst entfernt von dem wilden Tier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Kultur, eingeschlossen wütet und heult.
Mit einem großen Ziele. – Mit einem großen Ziele ist man sogar der Gerechtigkeit überlegen, nicht nur seinen Taten und seinen Richtern.
Philosophisch gesinnt sein. – Gewöhnlich strebt man danach, für alle Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemütes, eine Gattung von Ansichten zu erwerben, – das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntnis mag es höheren Wert haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformieren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören; diese bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Anteil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, beständiges, eines Individuum behandelt.
Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo einem geflucht wird.
Liebe als Kunstgriff. – Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereignis, ein Buch), der tut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich, anstößig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: So dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den größten Vorsprung gibt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nämlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punkt: Und dies heißt eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restriktionen; jene Überschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.
Es gibt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache ist.
Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, dass wir uns inzwischen »gebessert« haben.
Verkehr mit dem höheren Selbst. – Ein jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxieren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demut vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen: Sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird deswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: Jenes aber ist der Mensch selber.
Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles Utile nur als ein Fuhrwerk eurer Neigungen, – auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich?
Die Vertraulichkeit des Überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden darf. –
Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntnis beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an einem Zyklopen.
Leben und Erleben. – Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen – ihren unbedeutenden alltäglichen Erlebnissen – umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt; während andere – und wie viele! – durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurch getrieben werden und doch immer leicht, immer obenauf, wie Kork, bleiben: So ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) solcher einzuteilen, welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorität derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen.
»Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, hat mich erschüttert.« –
Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man nicht alle umarmen kann):