Eugenie Marlitt

Das Heideprinzeßchen


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plötzlich und schämte mich – es war ja nicht wahr, was ich da sagte; diese volle hingebende, friedsame Liebe für die ganze Welt besaß ich gar nicht mehr! Gerade heute war ich ein zorniges, ungebärdiges Geschöpf gewesen – sollte ich ihr das sagen?

      Ich saß wieder auf dem Bettrand, und sie hielt in ihrer Rechten meine Hand; die Finger umschlossen sie so fest, als sollte sie nie, nie wieder losgelassen werden – dabei sanken ihr langsam die Lider über die Augen. Sie hatte vorhin so kraftvoll und energisch gesprochen, und ich war so über alle Begriffe unerfahren, daß ich bei diesem Anblick nicht im entferntesten mehr an Erschöpfung dachte; aber nun legte ich auch meine Linke liebkosend um ihr Handgelenk; ich wußte recht gut, daß der Lebensstrom in regelmäßigem Takt unaufhörlich klopfen mußte – zu meiner tiefsten Bestürzung wurde mir allmählich klar, daß es unheimlich still unter dieser kalten Hand blieb; nur selten, nach langen, herzbeklemmenden Pausen, schlug es einmal kurz und hart an meine Fingerspitzen.

      »Wir sind wie der Thon in der Hand des Töpfers,« flüsterte sie plötzlich. »Was sind wir, was ist unser Leben, alle unsere Herrlichkeit?« Sie stöhnte auf. »Aber du bist unser Vater, und wir sind deine Kinder, erbarme dich unser, wie sich ein Vater seiner Kinder erbarmt –«

      Sie schwieg wieder; mich aber überfiel eine unbeschreibliche Angst, ich hätte alles darum gegeben, diese geschlossenen Augen offen zu sehen, und legte leise meine Lippen auf ihre Stirne. Sie fuhr empor, sah mich aber liebevoll und zärtlich an.

      »Geh, rufe mir Ilse!« sagte sie schwach.

      Ich sprang auf, und in demselben Augenblick rasselte zu meiner unaussprechlichen Erleichterung ein Wagen über das Pflaster des Hofes. Gleich darauf trat Ilse in Begleitung eines Herrn in das Zimmer.

      »Der Herr Doktor ist da, gnädige Frau!« sagte sie und ließ den Arzt an das Bett treten.

      Das Gesicht meiner Großmutter zeigte sofort wieder einen festen, gespannten Ausdruck. Sie schob dem Arzt die Rechte hin, um sich den Puls untersuchen zu lassen, und sah ihn aufmerksam an.

      »Wieviel Zeit geben Sie mir noch?« fragte sie kurz und bestimmt.

      Er schwieg einen Moment betroffen und vermied es, ihrem Blick zu begegnen.

      »Wir wollen einen Versuch machen –« sagte er zögernd.

      »Nein, nein, bemühen Sie sich nicht!« unterbrach sie ihn. Sie sah mit einem schattenhaften Lächeln an der linken Körperseite nieder. »Das ist bereits dem Staub verfallen!« sagte sie kalt. »Wieviel Zeit geben Sie mir noch?« wiederholte sie unabweisbar nachdrücklich mit geschärfter Stimme.

      »Nun denn – eine Stunde.«

      Mir stürzte ein Thränenstrom aus den Augen, und Ilse flüchtete in ein Fenster und preßte das Gesicht gegen die Scheiben. Nur meine Großmutter blieb vollkommen ruhig. Ihre Augen hefteten sich auf den Silberleuchter an der Decke.

      »Zünde an, Ilse!« gebot sie, und während diese auf einen Stuhl stieg und Flämmchen um Flämmchen unter ihren Händen aufflackerten, wandte sich die Kranke zu dem Arzt.

      »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte sie, »und möchte Sie noch um einen letzten Liebesdienst bitten – würden Sie die Güte haben, niederzuschreiben, was ich diktieren werde?«

      »Von Herzen gern, gnädige Frau; aber falls es sich um einen letzten Willen handeln sollte, so muß ich darauf aufmerksam machen, daß er ungültig sein wird ohne gerichtliche –«

      »Ich weiß das,« unterbrach sie ihn. »Allein dazu verbleibt keine Zeit. Meinem Sohn wird und muß mein letzter Wille auch in dieser Form genügen.«

      Ilse brachte Schreibgerät, und meine Großmutter diktierte.

      »Ich vermache Ilse Wichel den Dierkhof mit seinen vollen Einrichtungen und Liegenschaften …«

      »Nein, nein –« schrie Ilse angstvoll und erschrocken auf, »das leide ich nicht!«

      Meine Großmutter warf ihr einen strengen, zurechtweisenden Blick zu und sprach unbeirrt weiter: »als einen Beweis meiner Dankbarkeit für ihre unbegrenzte Hingebung und Aufopferung … Ich vermache ferner meiner Enkelin, Leonore von Sassen, was ich an Staatspapieren noch besitze, und darf niemand, wer es auch sei, ein Recht daran erheben.«

      Ilse war emporgefahren und sah erstaunt nach ihr hinüber. Die Kranke deutete auf einen Schrank. »Da drin muß ein Blechkasten stehen … Nimm ihn heraus, Ilse; ich habe völlig vergessen, wie viel er enthält.«

      Ilse öffnete den Schrank und stellte einen niedrigen Blechkasten auf den Tisch. Ein verrostetes Schlüsselchen steckte in dem Vorlegeschloß.

      »Es mag wohl lange, lange her sein, daß ich ihn nicht berührt habe,« murmelte die Kranke und hob matt die Rechte nach der Stirn. »Es ist finster in mir gewesen – ich weiß es … Welches Jahr schreiben wir?«

      »Das Jahr 1861«, entgegnete der Arzt.

      »Ach, da mag manches da drin verfallen und wertlos geworden sein!« klagte sie, während er den Deckel zurückschlug. Auf den Wunsch der Kranken überzählte er die Papiere, die den Kasten bis an den Rand füllten.

      »Neuntausend Thaler,« berichtete er.

      »Neuntausend Thaler!« wiederholte meine Großmutter befriedigt. »Sie genügen, um die Not abzuwehren … Es muß auch noch eine kleine Schachtel in dem Kasten liegen.«

      Ich sah, wie Ilse den Kopf schüttelte über diese plötzliche Geistesklarheit, die so leicht da anknüpfte, wo vor vielen Jahren der glatte Faden des ungetrübten Denkens abgerissen war. Der Arzt nahm eine unscheinbare Holzschachtel aus dem Kasten – sie enthielt eine Perlenschnur.

      »Der letzte Rest der Jakobsohnschen Herrlichkeit!« flüsterte die Kranke wehmütig vor sich hin. »Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort! … Sie gehört zu deinem Gesicht, mein Kind!« sagte sie zu mir, während ich leise in mich zusammenschauerte unter der kühlen, schmeichelnden Berührung. »Du hast die Augen deiner Mutter, aber die Jakobsohnschen Züge … Das Band hat viel Familienglück und schöne, friedliche Zeiten voll Glanz gesehen; aber es ist auch mitgeflüchtet vor dem Scheiterhaufen und anderen grausamen Martern der christlichen Unduldsamkeit!« Sie rang nach Atem. »Nun will ich unterschreiben!« stieß sie nach einer Pause der Erschöpfung sichtlich beängstigt hervor.

      Der Doktor legte das Papier auf die Bettdecke und drückte die Feder in die steife Hand … Sie war unsäglich mühselig, diese letzte irdische Handlung; aber der Name, Klothilde von Sassen, geborene Jakobsohn, stand schließlich doch in ziemlich festen großen Zügen unter dem Dokument, das auch der Arzt als Zeuge mittels einiger Worte unterschrieb.

      »Weine nicht, mein Täubchen!« tröstete sie mich. »Komm noch einmal her zu mir!«

      Ich warf mich sprachlos am Bett nieder und küßte ihre Hand. Sie trug mir Grüße an meinen Vater auf, und richtete ihre großen verschleierten Augen von meinem Gesicht hinweg fest und sprechend auf Ilse.

      »Das Kind darf nicht verkommen in der einsamen Heide!« sagte sie bedeutsam.

      »Nein, gnädige Frau, dafür lassen Sie mich sorgen!« versetzte die Angeredete in ihrer gewohnten knappen Kürze, obgleich ihr die Lippen schmerzlich zuckten und helle Thränen an ihren Wimpern hingen.

      Noch einmal glitt die kalte, matte Hand liebkosend über mein Kinn, dann schob mich meine Großmutter sanft, aber doch in jener ängstlichen Hast, die mit jeder Sekunde geizt, von sich und sah starr nach einem der Fenster mit einem so seltsam ausdrucksvollen Blick, als wolle die Seele bereits auf ihm hinausfliegen in das All.

      »Christine, ich verzeihe!« rief sie zweimal angestrengt in die Lüfte, in die weite Ferne hinaus … Sie war fertig, gerüstet. Sichtlich beruhigt rückte sie den Kopf in den Kissen zurecht, wandte den Blick nach oben und begann feierlich inbrünstig, wenn auch mit erlöschender Stimme: »Höre, Israel, unser Herr, unser Gott ist ein Einziger und Einiger! … Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit –« die Stimme erstarb in einem geflüsterten Hauch; sie