Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


Скачать книгу

angehören, und es deswegen zu nichts gebracht haben…

      »Du kommst wegen dem Witschi…«, sagte Murmann und dämpfte seine tosende Stimme. Das Gekreisch im oberen Stockwerk war verstummt, und Murmann wollte es wohl nicht wieder zum Erschallen bringen.

      »Ja«, sagte Studer und streckte die Beine. Der Stuhl war bequem, er hatte Armstützen. Studer ließ sich gehen und blinzelte in den Garten, auf den jetzt die Sonne schien. Aber der Schein blieb nicht lange, das Grau kam wieder – nur die Tulpen leuchteten unentwegt…

      Studer dachte an seine Unterredung mit dem Untersuchungsrichter. Wieviel Speuz hatte er dort verschwenden müssen! Der Murmann war entschieden vorzuziehen, obwohl er kein rohseidenes Hemd trug…

      – Es sei so still hier, sagte Studer nach einer Weile, worauf Murmann lachte. Er habe eben keinen Lautsprecher wie die andern Gerzensteiner, sagte er. Da lachte auch Studer.

      Und dann schwiegen beide wieder.

      Bis Studer fragte, ob Murmann den Schlumpf für schuldig halte.

      »Chabis!« sagte Murmann nur.

      Und dieses einzige Wort gab dem Fahnderwachtmeister Studer mehr Sicherheit als alle kriminologischen und psychologischen Spitzfindigkeiten, die er bis jetzt gesammelt hatte, um in sich die immerhin mehr gefühlsmäßige Überzeugung der Unschuld des Burschen Schlumpf zu festigen.

      Studer wußte, Murmann war ein schweigsamer Mensch.

      Es war nicht leicht, ihn zum Reden zu bringen. Ja, die Worte, die man in den alltäglichen, belanglosen Gesprächen tauscht, die saßen bei ihm locker. Aber sobald es sich um wichtigere Dinge handelte, war ein Wort wie beispielsweise: ›Chabis‹ fast ebensoviel wert wie die kräftigen Ausführungen eines Experten.

      – Studer kenne eben noch nicht das Kaff Gerzenstein, sagte Murmann nach einer Weile. Er hatte sich eine Pfeife gestopft und rauchte langsam.

      »Ich bin jetzt bald sechs Jahre hier«, sagte Murmann. »Und ich kenne den Betrieb. Ich kann nichts machen. Ich muß aufpassen. Weischt, Diplomatie!« (Er sagte ›Diplomaziiie‹ und drückte das eine Auge zu.) »Gut, daß du gekommen bist. Ich bin nämlich so…« Er steckte die Arme waagrecht aus, die mächtigen Handgelenke eng aneinandergepreßt, um recht deutlich zu demonstrieren, wie machtlos er sei…

      Dann schwieg er wieder.

      »Weischt«, sagte er nach einer Weile, »der Aeschbacher, der Gemeindepräsident…« und schwieg wieder lange. »Aber der alte Ellenberger!…« Und zwinkerte mit dem rechten Auge.

      »Aber der Cottereau ist verschwunden…« warf Studer ein und nahm einen Schluck aus seinem Glas.

      »Hab keinen Kummer«, sagte Murmann gemütlich. »Der kommt scho wieder ume…«

      »Jää… aber hast du nicht die Polizeidirektion alarmiert, daß es dann im Radio gekommen ist?«

      »Ich?« fragte Murmann und wies mit dem großen, behaarten Zeigefinger auf seine nackte Brust. »Ich?« Und ob Studer etwa krank sei, daß er so dumme Fragen stelle?? Das habe doch der Ellenberger gemacht, um sich einen Spaß zu leisten! Beromünster, habe der Ellenberger einmal gemeint, sei auch nicht für die Hunde gebaut worden, man müsse den Leuten etwas zu tun geben. Und die vielen Empfänger…

      Studer fand bei sich, daß dieses Gerzenstein ein merkwürdiges Dorf sei, und seine Einwohner waren noch merkwürdiger. Aber er beschloß, den Korporal Murmann nicht länger zu belästigen, übrigens wartete das Essen im ›Bären‹ sicher schon auf ihn. So verabschiedete er sich und versprach, am Abend wiederzukommen. Murmann schien diese Diskretion zu schätzen; denn er meinte beim Abschied: zum Reden habe man immer noch Zeit, und so um die Mittagsstunde, da habe er immer Schlaf. Wenn man jeden Abend die Polizeistunde kontrollieren müsse in allen Beizen, dann habe man tagsüber einen dummen Kopf. Dazu gähnte er ausgiebig.

      So stand Studer wieder auf der asphaltierten Straße. Rechts und links, so weit der Blick reichte: Läden, Läden, Läden.

      Und die Häuser waren nicht stumm…

      Es war Samstagnachmittag.

      Durch die Mauern, durch die geschlossenen Fenster und durch die geöffneten jodelte das Gritli Wenger –

      Es jodelte den Sonntag ein…

      Noch einer, der nicht mehr mitmachen will

       Inhaltsverzeichnis

      Der Speck war zäh und der Suurchabis schwamm in allzu viel Flüssigem. Die Gaststube war leer. Am Ausschank polierte die Kellnerin Weingläser. Es hatte endgültig aufgehört zu regnen, aber der Himmel war mit einer weißen Schicht überzogen, die blendete.

      Studer spürte ein unangenehmes Beißen in der Nase: es war wohl ein Schnupfen, der sich meldete. Kein Wunder, wenn der Mai so kalt war. Er kostete den Kaffee. Der war ebenso dünn und lau wie derjenige seiner Frau, wenn sie nächtelang gelesen hatte. Studer schüttete den Kirsch in die Brühe, verlangte noch einen und begann dann die Gerzensteiner Nachrichten zu studieren. Seine Stimmung wurde langsam besser, er lehnte sich in die Ecke zurück und rollte mit den Schultern, bis sie bequem der Wand anlagen.

      Da betrat ein junger Mann die Gaststube. Zuerst schnitt die Kellnerin mit einer brüsken Handbewegung einer männlichen Stimme das Wort ab, die in einer Ecke sanft über die Entschlüsse plätscherte, an denen der Nationalrat letzte Woche erkrankt war, dann sagte die Saaltochter:

      »Grüeß di!« Es klang wie ein unterdrückter Freudenruf und Studer wurde aufmerksam, so wie jeder, auch der solideste Mann aufmerksam wird, wenn sich in seiner nächsten Nähe eine zarte Beziehung bemerkbar macht. »Becher Hell's!« sagte der junge Mann kurz. Es war eine deutliche Ablehnung.

      »Ja, Armin«, sagte die Saaltochter geduldig, ein wenig vorwurfsvoll.

      Armin? Studer sah sich den Burschen näher an. Dieser gehörte zu jener Sorte junger Männer, die über einen sehr reichlichen Haarwuchs verfügen, und diesen in Form von Dauerwellen über der Stirn aufschichten. Der blaue Kittel war in der Taille so eng geschnitten, daß er waagrechte Falten warf, die breiten hellen Hosen verdeckten die Absätze und schleiften fast am Boden nach.

      Das Gesicht? Ja, es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem andern Gesicht, das Studer heute morgen in einem grausam hellen Raum gesehen hatte. Das Gesicht des Burschen war magerer, glatter, der Schnurrbart fehlte, aber das Kinn war dasselbe: weich, leicht verfettet…

      Die Glücksfälle mehrten sich. Es war sicher der Armin Witschi. Vielleicht erhielt man die Bestätigung.

      Die Kellnerin hatte sich an den Burschen gedrängt. Der Armin ließ es sich gefallen.

      – Ob er denn nicht den Laden hüten müsse? fragte sie.

      – Die Schwester sei heimgekommen, sie habe frei heut nachmittag, brauche nicht nach Bern zu fahren. Übrigens, fuhr er fort, sei ihm alles verleidet. In das Lädeli komme ohnehin niemand mehr, er werde wohl bald auch hausieren müssen wie der Vater, und vielleicht… Die Pause, die folgte, sollte vielsagend sein.

      »Nid, Armin!« sagte die Kellnerin. Sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein, hatte müde Züge in einem nicht unschönen Gesicht.

      –Auf keinen Fall dürfe er reisen, sagte sie; der Schlumpf sei nicht der einzige gewesen, es seien noch mehr beim alten Ellenberger, die zu allem fähig seien…

      Sie merkte plötzlich, daß Studer zuhörte, und dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. Der Armin trank einen Schluck aus seinem Glas. Er spreizte dabei den kleinen Finger ab.

      Das Wispern der Kellnerin wurde eifriger; Armin beteiligte sich am Gespräch nur mit einzelnen Worten. Aber die wenigen Worte, die er einwarf, hatten Gewicht – falsches Gewicht, hätte Studer am liebsten gesagt. Er zog seine Uhr. Es war halb drei. Er war müde, die Glieder taten ihm weh, das Gewisper ging ihm auf die Nerven. Vielleicht sollte er ein wenig spazieren gehen? Zum Ellenberger?