Friedrich Glauser

Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten


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      Studer lächelte, schwieg eine Weile, dann sagte er:

      »Nur so, erzähl' weiter…«

      – Sie hatten also das Haus gebaut, Kinder waren gekommen, das Ehepaar schien glücklich zu sein. Die Frau war schaffig, sie hielt den Garten in Ordnung, sie bediente im Laden. Am Abend sah man die beiden einträchtig auf einer Bank vor dem Hause sitzen, der Witschi las die Zeitung, die Frau strickte…

      – Studer sah das Bild deutlich vor sich. Unter den Fenstern des ersten Stockes glänzte noch, neu und unverblaßt, der Name des Hauses, ›Alpenruh‹, und über der Tür der Spruch: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein.‹ Der Wendelin Witschi hockte auf der Bank, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, bisweilen legte er die Zeitung beiseite (er las sicher nur den Gerzensteiner Anzeiger), stand auf, um ein Zweiglein am Spalier anzubinden, das im Wind schaukelte, kam zurück… im Sand krabbelten die beiden Kinder. Die Luft war still. Heugeruch lag schwer in der Luft. Die Frau sagte: ›Du, loos einisch…‹ Sehr viel Frieden. Die Ladenklingel schrillte. Man stand gemütlich auf, ging zusammen in den Laden, besprach mit den Kunden das Wetter, die Politik… Der Wendelin (wie nannte ihn wohl seine Frau? Das müßte man eigentlich auch wissen… Vatter? Wahrscheinlich. Das paßte am besten… ), der Wendelin hatte die Daumen in den Ausschnitten der Weste und war ein angesehener Bürger, verwandt mit dem Gemeindepräsidenten, Hausbesitzer… Und dann, Jahr für Jahr, die Änderungen… Die Frau, die hässig wird, die Frau, die Romane liest, dann die finanziellen Schwierigkeiten, der Sohn, der sich auf die Seite der Mutter schlägt, der Garten, der verlottert, der Wendelin, der reisen geht, der Wendelin, der Schnaps trinkt, die Zeitschriften mit den Versicherungen… Bei Ganzinvalidität war die Summe doch gerade so hoch wie bei Todesfall… Aber als Bild, das sich nicht vertreiben ließ, sah Studer immer die Bank vor dem Haus, die Kinder, die am Boden spielten, das lockere Zweiglein, das im Winde schwankte, und das der Wendelin mit einem gelben Bastfaden festband…

      Studer hatte eine Weile nicht mehr zugehört, jetzt horchte er auf, denn Murmann sagte:

      »… und einen Hund hat er auch gehabt. Einmal, wie der Witschi halb besoffen nach Haus gegangen ist, haben ihn ein paar Burschen angeödet. Da hat der Hund gebellt und ist auf die Burschen los. Einer hat ihn mit einem Stein totgeschlagen…«

      Das gehörte natürlich auch dazu. Der Witschi , der sich einsam fühlt und sich einen Hund hält. Wahrscheinlich war der das einzige Wesen, das ihm keine Vorwürfe machte, vor dem er klagen konnte… Und wieder versank Studer ins Träumen.

      – Er sah die Familie Witschi um den Tisch sitzen, im Wohnzimmer, das er kannte. In der Ecke stand das staubige Klavier. Der Witschi versuchte Zeitung zu lesen… Und die keifende Stimme der Frau: Versichert seien sie und das viele Geld, das man der Versicherung gezahlt habe! Die Frau dachte nicht daran, daß schließlich sie bis jetzt alle Vorteile genossen hatte von dieser Versicherung, die bunten Heftli mit den Romanen darin… Waren diese Romane nicht etwas Ähnliches für die Anastasia Witschi wie für ihren Mann der Schnaps? Eine Möglichkeit, der Öde zu entrinnen, zu fliehen in eine Welt, in der es Komtessen gab und Grafen, Schlösser und Teiche und Schwäne und schöne Kleider und eine Liebe, die sich in Sprüchen Luft machte, wie: ›Sonja, meine einzig Geliebte…‹

      Murmann schwieg schon eine geraume Weile. Er wollte den Wachtmeister nicht in seinen Träumen stören. Plötzlich schien Studer das Schweigen aufzufallen. Er schreckte auf.

      »Nur weiter, nur weiter… Ich hör schon zu…«

      – Es scheine nicht, meinte Murmann, über was denn Studer so tief nachgedacht habe? – Er werde es ihm später sagen. Murmann solle jetzt die beiden Tage schildern, die Entdeckung der Leiche, die Untersuchung, die Flucht des Schlumpf…– Da sei nicht viel zu sagen, nicht mehr auf alle Fälle, als was in den Akten stünde. Studer solle einen Augenblick warten…

      Murmann stand auf, um die Akten zu holen…

      Die Stille im Zimmer war tief… Studer ging zum Fenster und öffnete einen Flügel.

      Deutlich durch die Nacht drang ein Summen zu ihm.

      Er kannte das Lied. Eine Kleinmädchenstimme hatte es gestern vor einem Zellenfenster gesungen:

      »O, du liebs Engeli…«

      Das Summen rieselte von oben durch das Dunkel. Frau Murmann sang ihr Kind in den Schlaf …

      Der Landjäger kam zurück. Er trug lose Blätter in der Hand, setzte sich, breitete sie vor sich aus und begann zu sprechen. Studer stand am Fenster, gegen die Wand gelehnt.

      – Der Cottereau – übrigens, wie habe Studer den Cottereau entdeckt? – Studer winkte ab: Später…

      – Also der Cottereau sei in den Posten gestürzt gekommen und habe wirres Zeug durcheinandergeredet von einem Toten, der im Wald liege… Ein Ermordeter!…

      »Ich hab' an den Regierungsstatthalter telephoniert, bevor ich aufgebrochen bin, und der hat versprochen zu kommen. Vor der Türe hab' ich den Gemeindepräsidenten Aeschbacher getroffen, der war vom Lehrer Schwomm begleitet. Das war nichts Merkwürdiges, denn der Schwomm ist Gemeindeschreiber. Die beiden haben sich aufgedrängt, der Aeschbacher hat sofort die Untersuchung in die Hand nehmen wollen… Da ist er aber schlecht angekommen. Ich laß mir nichts vorschreiben. Aber ich habe den Photographen des Dorfes beigezogen…«

      – Sie seien dann zu fünft nach dem Tatort gegangen, der Präsident, Schwomm, der Photograph und er, Murmann… Cottereau habe sie geführt… Am Tatort angekommen, habe Murmann den Photographen angewiesen, ein paar Aufnahmen zu machen, und der Mann habe das ganz richtig gemacht.

      Sicher, sagte Studer, »der hat gut gearbeitet. Hast du auch bemerkt, daß keine Tannennadeln auf dem Rücken des Rockes zu sehen waren?«

      Murmann schüttelte den Kopf.

      – Das sei ihm nicht aufgefallen. Aber wenn Studer es bemerkt habe, dann sei das ja die Hauptsache… Der Gemeindepräsident habe immer dreinreden wollen: das sei ein Mord, habe er gesagt, sicher ein Raubmord, und niemand anders habe ihn begangen als einer der Verbrecher, die der Ellenberger bei sich angestellt habe… Natürlich seien ein Haufen Leute bei der Entdeckung dabei gewesen, so daß es dem Statthalter nicht schwer gefallen sei, die Stelle zu finden. Sie hätten dann noch den Dr. Neuenschwander geholt, der den Tod festgestellt und den Witschi ins Gemeindespital habe bringen lassen. Murmann habe verlangt, die Sektion solle im Gerichtsmedizinischen Institut ausgeführt werden. Dr. Neuenschwander sei ärgerlich geworden, habe dann aber auch eingewilligt, nur habe er ein Protokoll aufgesetzt und es ›Sektionsprotokoll‹ getauft, auch mit einer Sonde die Schußwunde untersucht und dann in gelehrten Ausdrücken ihre mutmaßliche Stellung festgehalten…

      »Die Taschen waren leer?«

      »Ganz leer«, sagte Murmann. »Und das ist mir auch aufgefallen.«

      »Warum?«

      »Ich weiß selber nicht…«

      »Aber an dem Tag soll der Witschi dreihundert Franken bei sich gehabt haben? Er hat doch Rechnungen einkassiert? Und von daheim noch Geld mitgenommen?«

      – Von daheim habe er sicher kein Geld mitgenommen, darauf möchte er, Murmann, schwören. Aber hundertfünfzig Franken habe er wohl gehabt, er habe Rechnungen einkassiert, und die Bauern, bei denen er gewesen sei, hätten telephonisch die Sache bestätigt…

      »Weiter!« sagte Studer. Er hatte eine Brissago angezündet…

      – Der Statthalter sei ein schüchternes Mannli, erzählte Murmann, und habe immer dem Aeschbacher zugestimmt. Der habe betont, es handle sich um einen Mord, und das sei Murmann merkwürdig vorgekommen. Er für sein Teil sei sicher, daß Witschi sich umgebracht habe…

      »Nicht gut möglich«, sagte Studer. »Der Assistent im Gerichtsmedizinischen hat's mir vordemonstriert. Es müßten Pulverspuren vorhanden sein. Zugegeben, der Witschi hatte lange Arme, aber stell' dir einmal vor, wie er hätte die Waffe halten müssen…« Er trat ins Lampenlicht, nahm den Browning vom Tisch, prüfte, ob er gesichert sei (das Magazin war zwar leer, aber… ) und hob ihn dann…