Armin wird schon wieder kommen«, sagte er. »Geh' jetzt mit der Frau Murmann. In einer Stunde fahren wir.«
Und Sonja ging.
Studer setzte sich an den Schreibtisch. Er nahm ein Folioblatt, legte es vor sich hin und schrieb ganz oben, in die Mitte des Bogens, das Wort:
BILANZ
Dann begann er nachzudenken. Aber auch hier sollte er nicht weiterkommen. Eine der Haupteigenschaften des Falles Witschi schien die zu sein, daß es unmöglich war, irgendeinen Teil zu einem Abschluß zu bringen. Hatte er nicht zum Beispiel gestern das Verhalten Ellenbergers und des Gemeindepräsidenten beim ›Zuger‹ beobachten wollen? Was war dazwischen gekommen? Natürlich ein Telephon, dann die Entdeckung Schreiers…
Und jetzt meldete sich selbstverständlich das Schrillen der Telephonklingel. Studer hob den Hörer ab, sagte, wie er es in seinem Bureau in Bern gewohnt war:
»Ja?«
»Bist du's, Studer?« fragte eine Stimme. Es war der Polizeihauptmann.
»Ja«, sagte Studer. »Was ist los?«
»Also paß auf. Der Reinhardt hat heut' morgen die Waffengeschäfte abgeklopft. Gleich beim ersten hat er Glück gehabt. Der Besitzer war schon im Laden, und er hat sich gut erinnert, daß er vor vierzehn Tagen einen Browning verkauft hat. Marke stimmt, Nummer stimmt. Er erinnert sich auch an den Mann, der ihn gekauft hat…«
»Und?« fragte Studer, da der Hauptmann schwieg.
»Bist ungeduldig? Keine Aufregung, Studer. Du blamierst dich ja doch wieder… Hä?… Du bist so still, Studer. Also, der Reinhardt hat mir erzählt, der Waffenhändler erinnere sich noch gut an den Käufer. Es war ein alter Mann, dem alle Zähne gefehlt haben, er hat ein halbleiniges Kleid getragen. Dem Verkäufer ist noch aufgefallen, daß der Mann braune moderne Halbschuhe getragen hat und schwarze seidene Socken. Er hat keinen Namen angegeben…«
»Das ist auch nicht nötig gewesen.« Studer sprach stockend. Es war einerseits schwierig, diese Neuigkeit zu verdauen, andererseits hatte man etwas Ähnliches erwartet…
»Du, paß gut auf«, sagte Studer. »Ich schick' dir einen Browning, ich geb' ihn expreß auf, und dann wird dir das Gerichtsmedizinische die Kugel schicken, die im Schädel vom Witschi steckengeblieben ist. Hast du einen Sachverständigen bei der Hand? Ja? Gut. Du übergibst ihm beides und läßt dir ein Gutachten machen, ob die im Kopfe des Witschi gefundene Kugel aus dem Browning stammt, den ich dir schicke. Und der Reinhardt soll noch die andern Geschäfte abklopfen. Vielleicht ist eine zweite Waffe von der gleichen Marke verkauft worden. Verstanden? – Und das Gutachten brauch' ich heut' abend. Spätestens um fünf. Auf Wiedersehen…«
Studer hing den Hörer ganz vorsichtig an die Gabel, stützte die Wange auf seine Faust. Dabei fiel sein Blick auf das Wort ›BILANZ‹, das er sorgfältig an den Kopf eines weißen Folioblattes gesetzt hatte. »Das hat Zeit«, dachte er, strich das Wort durch, faltete das Blatt vorsichtig zusammen und steckte es in die Rocktasche.
Nasse Socken sind unangenehm. Besonders wenn man fühlt, daß der Schnupfen, der sich vor zwei Tagen gemeldet hat, im Begriffe ist, sich in einen schweren Katarrh zu verwandeln. Schließlich, in einem gewissen Alter, wird man empfindlicher, man hängt mehr am Leben, man fürchtet sich vor einer Lungenentzündung, man möchte trockene Wäsche anziehen, um dieser Gefahr zu entgehen. Aber wenn dies nicht möglich ist (man kann doch einen hocheleganten Untersuchungsrichter mit seidenem Hemd nicht einfach bitten: »Können Sie mir vielleicht ein Paar trockene Socken leihen?…«), so beißt man die Zähne zusammen, auch wenn die Zähne den undisziplinierten Vorsatz gefaßt haben, ein klapperndes Geräusch zu erzeugen…
Das kam davon, wenn man sich wie ein Zwanzigjähriger auf ein Töff setzte und im strömenden Regen fünfundzwanzig Kilometer fuhr. Und es war eigentlich gar kein Trost, daß Sonjas Strümpfe auch naß waren.
Besagte Sonja wartete draußen im Gang. Sie saß klein und zusammengekauert auf einer Holzbank, und ein Polizist patrouillierte vor ihr auf und ab.
Studer saß wieder auf dem allzu kleinen Stuhl, der sicher für die Angeklagten bestimmt war, saß dem Untersuchungsrichter gegenüber, der an seinem mit einem Wappen geschmückten Siegelring drehte und sagte:
»Ich begreife Sie nicht, Herr Studer. Die Sache ist doch erledigt. Wir haben das Geständnis des Burschen, es ist vollständig, er gibt an… er gibt an…« Der Untersuchungsrichter ließ den Ring sein und suchte nervös auf dem Tisch. Endlich kam der blaue Pappdeckelumschlag zum Vorschein, dessen Etikette die Worte trug: ERWIN SCHLUMPF MORD.
»Er gibt an…« sagte der Untersuchungsrichter zum drittenmal und kämpfte mit den aufsässigen Seiten, »ah… hier: Ich habe dem Herrn Witschi abgepaßt, habe ihn mit vorgehaltenem Revolver gezwungen abzusteigen. Er ist mir in den Wald gefolgt, allwo ich ihn gezwungen habe, mir seine Brieftasche auszuliefern, sowie seine Uhr und sein Portemonnaie. Ich weiß nicht, was mich dazu bestimmt hat, ihn nachher mit einem Schusse niederzustrecken, aber ich denke, ich habe Angst gehabt, daß er mich erkannt hätte, obwohl ich ein schwarzes Tuch über die untere Hälfte meines Gesichtes gebunden hatte… (Auf Befragen) Ich brauchte notwendig Geld, um mir ein Fahrrad zu kaufen.«–
Der Untersuchungsrichter stockte. Studer schneuzte sich und blies Trompetensignale, unterbrach sie, nieste, aber das Niesen gemahnte an ein unterdrücktes Kichern. Schließlich beruhigte er sich und fragte mit tränenden Augen:
»Hat das Schlumpfli wortwörtlich so gesprochen? Ich meine, Sätze wie: ›allwo ich ihn gezwungen habe, mir seine Brieftasche auszuliefern…‹ und: ›…was mich dazu bestimmt hat, ihn nachher mit einem Schusse niederzustrecken…‹ Hat er das wirklich so gesagt?«
Der Untersuchungsrichter war beleidigt.
»Sie wissen doch, Wachtmeister«, sagte er streng, »daß es uns obliegt, die Aussagen zu formulieren. Wir können doch nicht das ganze Gerede eines Angeklagten stenographieren. Die Akten würden zu Bänden anwachsen…«
»Ja; sehen Sie, Herr Untersuchungsrichter, das scheint mir immer ein großer Fehler. Ich würde die Worte der Angeklagten sowohl, als auch der Zeugen, nicht nur stenographieren, sondern die Worte auf Platten aufnehmen lassen. Man bekäme dann jeden Tonfall heraus…«
Schweigen. Der Untersuchungsrichter war anscheinend beleidigt. Studer beschloß, ihn zu versöhnen. Er stand auf, ging zum offenen Kamin, der in einer Ecke des Raumes stand – und ein Holzfeuer flackerte darin, im Mai! – stellte sich mit dem Rücken dagegen und wärmte sich die Schuhsohlen.
»Die Sache ist die, Herr Untersuchungsrichter, daß ich einige Merkwürdigkeiten an dem Falle bestätigt gefunden habe. Darum fällt es mir schwer, an die Schuld des Schlumpf zu glauben. Ich habe einen Zeugen mitgebracht, den ich gerne dem Burschen gegenüberstellen möchte. Er ist draußen im Gang. Nun sollten sich die beiden aber vorerst nicht sehen. Haben Sie nicht einen Raum, in dem mein Zeuge warten könnte? Ich werde ihn rufen, wenn es nötig sein wird.«
Der Untersuchungsrichter nickte. Er drückte auf einen Knopf und gab dem eintretenden Polizisten den Befehl, die Person, die mit dem Wachtmeister gekommen sei, ins Wartzimmer zu tun (wie beim Zahnarzt, dachte Studer) und dann den Schlumpf Erwin vorzuführen.–
Schlumpfs erste Worte waren:
»Aber ich hab' doch gestanden, was wollt Ihr noch?«
Dann erst sah er den Wachtmeister, nickte ihm zu, hob kaum die Augen und wollte sich zu dem Stuhl schleichen; aber Studer ging ihm entgegen, streckte ihm die Hand hin:
»Und, Schlumpfli, wie geht's seit dem letztenmal?«
»Nicht gut, Wachtmeister«, sagte Schlumpf und ließ seine Hand bewegungslos in der des anderen liegen. Studer drückte die schlaffe Hand.
»Du hast dich anders besonnen, Schlumpfli, hab' ich gehört?«
»Ja, es hat mich zu arg gedrückt.«
»A bah«, machte Studer und lächelte. Schlumpf blickte erstaunt auf.
»Ja, glaubt Ihr mir nicht, Wachtmeister?«