Brandner war Angelas Verlobter und arbeitete als Feldwebel bei der Bundeswehr.
Während sie plauderten, merkten die beiden Frauen gar nicht, wie schnell die Zeit verging, zumal zwischendurch immer wieder Kundinnen hereinkamen und die Unterhaltung pausierte. Irgendwann sah Tina auf die Uhr und bekam einen gehörigen Schrecken.
»Himmel, ich muß ja los«, rief sie und sprang auf. »Zu Haus’ werden s’ schon mit dem Essen auf mich warten.«
Sie verabschiedete sich, nahm die Tüte mit der Bluse und lief aus dem Geschäft.
In der Passage war es inzwischen voller geworden. Zahlreiche Touristen drängten sich durch den schlauchartigen Gang.
Tina bahnte sich einen Weg und stieß unvermittelt mit einem Mann zusammen, der gerade aus dem Tabakgeschäft trat. Ihre Einkaufstüte fiel ihr aus der Hand.
Sie bückten sich gleichzeitig und wären beinahe mit den Köpfen zusammengestoßen, wenn der Mann seinen nicht rechtzeitig zur Seite gedreht hätte. Er hielt die Tasche in der Hand und reichte sie ihr.
»Verzeihung«, murmelte Tina verlegen und merkte, wie sie unter seinem Blick rot anlief.
»Es ist ja nix passiert«, antwortete der Mann lächelnd. Seine Augen sahen sie immer noch an, und Tinas Hand berührte seine, als sie die Tüte entgegennahm. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ein elektrischer Strom laufe durch ihren Körper.
Sie wandte sich rasch ab und ging davon. Aber sie spürte immer noch seinen Blick in ihrem Nacken.
*
Als er aufwachte, wunderte sich Adrian im ersten Moment, daß er nicht in seinem Schlafzimmer lag. Doch dann wurde ihm schlagartig bewußt, daß er sich in St. Johann befand. Er blickte auf den Wecker neben seinem Bett. Sieben Uhr durch, er hatte beinahe zehn Stunden geschlafen. Aber das war auch nötig gewesen. Jetzt fühlte er sich ausgeruht, und nach einer ausgiebigen Dusche war er erfrischt und voller Tatendrang.
Mit Polohemd, Jeans und leichten Slippern bekleidet, ging er nach unten. Im Gegensatz zu vielen anderen Hotels gab es im Löwen kein Frühstücksbüffet. Der Gast konnte von einer kleinen Karte wählen, und die Eierspeisen und kleinen Fleischgerichte wurden frisch zubereitet.
Adrian wählte Kaffee, Aufschnitt und Käse. Dazu die hausgebackenen Semmeln, etwas Marmelade und ein gekochtes Ei.
Auf der Bohrinsel wurde anders gefrühstückt, da kamen morgens schon gebratene Eier und gegrillte Steaks auf den Tisch. Allerdings brauchten die Männer dort auch kräftige Kost, die Arbeit war schwer und forderte ihnen alles ab.
Während er auf das Frühstück wartete, warf Adrian einen Blick in die ausliegende Tageszeitung. Auch ihr Erscheinungsbild und der Inhalt hatten sich kaum verändert.
Mit dem Essen ließ er sich Zeit, bestellte noch einmal Kaffee nach und verließ schließlich gesättigt und zufrieden das Hotel. Draußen war es warm. Er hatte festgestellt, daß der Ort ein beliebtes Urlaubsziel war. Das Hotel war anscheinend ausgebucht, und die Pensionen und Privatquartiere brauchten ganz bestimmt auch nicht über leerstehende Zimmer klagen.
Adrian schlenderte durch die Einkaufspassage, die inzwischen von kauflustigen Passanten und solchen, die sich nur neugierig umschauen wollten, wimmelte. Er betrat das Tabakgeschäft und suchte nach einer Finanzzeitung.
Vor ein paar Jahren noch hatte er nicht einmal gewußt, daß es so etwas gibt. Doch nachdem er so lange auf der Bohrinsel gearbeitet und dabei sehr viel Geld verdient hatte, stellte er fest, daß sein Vermögen beinahe ertraglos auf dem Konto lag. Inzwischen hatte er das Geld in Aktien und Fonds angelegt und es mit glücklicher Hand vermehrt.
Ja, Adrian Greininger, der als armer Bauernsohn seine Heimat verlassen mußte, kehrte als reicher Mann zurück. Und dieses Geld würde es ihm ermöglichen, den Mann zu bestrafen, den Adrian für das Unglück seiner Familie verantwortlich machte – Friedrich Reindl, der jetzt der Herr auf dem Greiningerhof war.
Mit der Zeitung unter dem Arm trat er aus dem Laden und prallte mit einer jungen Frau zusammen, die vor Schreck eine Einkaufstüte fallen ließ, die sie in der Hand gehalten hatte.
Sie bückten sich gleichzeitig danach, um sie aufzuheben, und wären beinahe mit den Köpfen zusammengestoßen, hätte Adrian nicht im letzten Moment ausweichen können.
Und dann konnte er den Blick nicht mehr von ihr lassen. Seine Augen hielten sie fest, und sein Herz klopfte bis zum Hals hinauf.
Das lag indes weniger daran, daß dieses Madl ausnehmend hübsch war. Hübscher als manche Frau, der Adrian bisher begegnet war.
Nein, er kannte sie! Ihre blonden Haare, das niedliche Näschen, die blauen Augen. Auch wenn viel Zeit vergangen war, so wußte er doch genau, wer da vor ihm stand – Christina Reindl.
Die Tochter seines ärgsten Feindes!
Er reichte ihr die Tüte, und sie murmelte eine Entschuldigung.
»Es ist ja nix passiert«, antwortete er und zuckte zurück, als ihre Hände sich berührten.
Erkannte sie ihn ebenfalls? Wußte sie, wer er war?
Es hatte nicht den Anschein. Tina drängte sich durch die Leute, ohne sich noch einmal umzusehen, und er stand wie angewurzelt vor dem Geschäft, unfähig, sich zu rühren.
Endlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Es war, als erwache er aus einem Traum.
Wie in einem Film sah er den Tag, an dem sie sich zuletzt gegenüberstanden. Die Tochter des Nachbarn, zwei Jahre jünger als er, ein Mädchen noch. Sie hatten sich angesehen, und dann hatte sich Adrian abgewendet, weil er fürchtete, sein ganzer Haß, den er auf den Bauern fühlte, könne auch sie treffen.
Sie hatten nie viel miteinander gesprochen, und auch an diesem Tag schwiegen sie sich an. Jetzt, nach dieser unerwarteten Begegnung, schien es Adrian, als wäre es erst gestern gewesen. So frisch war die Erinnerung daran, und er fragte sich, ob sie hätten Freunde werden können, wenn es alles anders gekommen wäre. Wenn man seinen Vater nicht um den Hof betrogen hätte, wenn er nicht in die Fremde hätte gehen müssen.
Er schaute, aber Tina war in der Menge verschwunden.
Adrian ging weiter und betrat den Blumenladen. Die Verkäuferin erkannte ihn von gestern wieder und lächelte ihn an. Er kaufte wieder einen kleinen Strauß, bezahlte und verließ das Geschäft. Dann ging er zum Friedhof und legte die Blumen auf das Grab. Es war, als wollte er all die versäumten Jahre nachholen.
Jeden Tag frische Blumen, das hatte er sich vorgenommen.
Den Strauß vom Vortag hatte inzwischen jemand in eine Vase gestellt. Adrian vermutete, daß es Sophie Tappert gewesen sei, und dankte ihr im stillen für diesen Liebesdienst.
Als er nach einem Gebet den Friedhof wieder verließ, war ihm das Herz so schwer wie noch nie, seit er wieder hier war, und er ahnte, daß es etwas mit der Begegnung mit Christina zu tun hatte.
Das unverhoffte Wiedersehen hatte ihn mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als er zugeben mochte…
*
»Also, langsam wird dieser Mensch penetrant!« schimpfte Max Trenker beim Mittagessen im Pfarrhaus.
Sebastian sah seinen Bruder verwundert an. Solch ein Ausbruch kam bei dem jungen Polizeibeamten äußerst selten vor. Es mußte also schon etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein.
»Was ist denn los?« fragte der Bergpfarrer.
Max bediente sich aus den Schüsseln. Sophie Tappert hatte eines seiner Leibgerichte gekocht, und der Anblick der Königsberger Klopse, die in einer aromatisch duftenden Kapernsauce schwammen, stimmte ihn schon wieder ein wenig versöhnlicher.
»Lieber Pfarrer Eggensteiner«, schnaubte er dennoch. »Dein Amtsbruder raubt mir den letzten Nerv. Heut’ morgen hat er schon wieder angerufen und gefragt, ob es in dem Fall ›Kirchenschändung‹ etwas Neues gibt.
Ich hab’ ihm deutlich gesagt, daß es einen solchen Fall überhaupt net gibt, und er hat gedroht,