Gletscherpartie (Spitzbergen)
Unterwegs.
I.
Einleitung. — Von Frauenfeld nach Hamburg. — Krankenhaus in Eppendorf. — Besuch in Friedrichsruh. — Einschiffung auf der „Auguste Viktoria“.
An Bord der „Auguste Viktoria“, 4. Juli 1899.
... Soll ich? Oder soll ich nicht? Schreiben nämlich. Ich will’s probieren, obschon es kaum möglich sein wird, in dem Gewirr von plaudernden Damen (es sind ihrer gegen 200 an Bord), herumflanierenden Yankees, schnarrenden Berlinern etc. seine Gedanken zu konzentrieren.
Also nach Spitzbergen geht unsere Fahrt. Ueber dieses Reiseziel werde ich erst sprechen, nachdem wir es gesehen haben. Vorläufig sind wir auf unserm schwimmenden Palaste an der norwegischen Küste eingetroffen und liegen seit gestern abend 10 Uhr in dem tiefsten Punkte des herrlichen Hardangerfjords — bei Odde — vor Anker. — Die Bucht ist so tief ins Land hineingeschnitten, daß unser Schnelldampfer sieben Stunden brauchte, um sie zu durchfahren; hier hat sie noch die halbe Breite des Zürchersees. An den Ufern des tiefgrünen Wassers erheben sich steil bis zu imposanter Höhe, die mit 1500 bis zu 2000 Meter wohl nicht überschätzt ist, Gebirgsstöcke aus grauem Urgestein, teilweise mit Wald bedeckt, oben voll blendend weißen Schnees, überall zu abschüssig, um menschlichen Wohnungen Platz zu bieten. Zwischen den Bergkuppen erscheinen aus dem Hintergrunde mächtige Gletscher, deren Wässer als riesige — von oben bis unten zu verfolgende Fälle — zur See herniederstürzen. Gegen das satte Grün der Wälder sticht ihr Weiß ab wie flüssiger karrarischer Marmor. Im Ganzen erinnert das Landschaftsbild außerordentlich an den Urnersee, und der Lage von Flüelen entspricht das freundliche norwegische Städtchen Odde, hinter welchem sich nach einer sachten Erhebung von zirka 200 Meter — wohl einer alten Gletschermoräne — ein breites Thal öffnet, dessen Hintergrund durch eine Kaskade von der dreifachen Größe des Staubbaches etwas besonders Malerisches erhält. Ueber diesem herrlichen Landschaftsbilde wölbt sich zur Zeit ein tiefblauer Himmel, und ich glaube, weder bei uns noch in südlichen Ländern je so gesättigte Farben gesehen zu haben. Das Grün der See, sowie von Wald und Wiese auf dem hellgrauen Gestein, das Blau des Himmels und das Weiß der Gletscher und Schneefelder und der fallenden Wässer bilden geradezu entzückende Kontraste und in das farbige Landschaftsbild sind — ein freundliches Idyll — eingebettet die schlichten Holzhäuser von Odde.
Den Mittelpunkt dieser Szenerie bildet also zur Zeit die „Auguste Viktoria“, das stolze Schiff der Hamburg-Amerika-Linie, das — etwa einen Kilometer vom Ufer — mitten im Fjord vor Anker liegt. Drei mitgeführte Benzin-Motorschiffe zu je 40 Plätzen vermitteln ununterbrochen den Verkehr mit dem Festlande, so daß es für unsere zirka 400 Passagiere gar keine Schwierigkeiten hat, jeden Augenblick nach Odde zu fahren, aber auch jederzeit wieder an Bord zu sein.
Doch — eine richtige Reisebeschreibung sollte vorne anfangen — wie kamen wir hieher?
Die Strecke von Frauenfeld nach Hamburg ist bei den jetzigen ausgezeichneten Zugsverbindungen in 20½ Stunden zurückgelegt. In Frankfurt a. M. bestiegen wir nachts 8 Uhr einen direkten Wagen nach Hamburg und richteten uns im bequemen Coupé häuslich ein; auch das Nachtessen wurde nicht vergessen und dem Reiseungewohnten mag es fast wunderbar erscheinen, daß man — während der Zug in rasender Eile dahinsaust, nur auf einen elektrischen Knopf zu drücken braucht, um einen dienstbeflissenen Geist dahereilen zu sehen, welcher aus der mitfahrenden Küche serviert, was das Herz begehrt — das wirkliche „Tischlein deck’ dich“.
Endlich war die reisende Welt satt; um 11 Uhr knallte der Pfropf der letzten Bierflasche im Nachbarcoupé; dann trat Ruhe ein im Lande; wer schlafen konnte, schlief. Stadt um Stadt huschte geisterhaft an uns vorbei; nach Mitternacht brauste, von hundert frischen Kehlen gesungen, die „alte Burschenherrlichkeit“ an mein eben dem Dasein entrücktes Ohr und ließ mich durch geweckte Erinnerungen lange nicht wieder einschlafen: Göttingen hatte den schlaftrunkenen alten Studenten gegrüßt. — Um 4 Uhr erhob sich die Sonne über der Lüneburger Haide und Punkt 6 Uhr 30 Minuten — wie vorgeschrieben — fuhr der lange Zug über die Elbbrücke in Hamburg. Ebenso programmgemäß stellte sich auf die Minute ein lieber Neffe ein, den ich zur Ueberraschung für meine Reisegefährtinnen von Berlin her zitiert hatte, und so machten wir denn — vier Köpfe stark — einige Tage lang die alte Hansastadt unsicher.
Ueber Hamburg ließe sich vieles sagen; zu den größten Sehenswürdigkeiten gehört der mit Hunderten von Millionen erstellte Hafen, in dem alle Schiffe der Welt verkehren. Ein bewunderungswürdiges Monument des Hamburger Kunstgewerbes, aber auch des Hamburger Bürgerfleißes und — Reichtums bildet das dortige Rathaus, das an Geschmack und Gediegenheit seiner innern Ausstattung alle ähnlichen mir bekannten Gebäude übertrifft, so namentlich auch das prunkvolle neue Reichstagsgebäude in Berlin. Der Hamburger ist aber auch stolz auf seine Vaterstadt und trägt bei jeder Gelegenheit seine republikanische Unabhängigkeit zur Schau. Dem politischen Oberhaupte, dem deutschen Kaiser, scheint von Arm und Reich so ziemlich das erlaubte Mindestmaß von Majestätsfurcht entgegengebracht zu werden; unter anderm zitierte unser Bootführer seine kaiserliche Majestät, wenn er bei Erklärung verschiedener öffentlicher Bauten darauf zu sprechen kam, stets einfach als „Wilhelm zwei“.
Großartig hat die Stadt Hamburg für ihre Kranken gesorgt. Das neue Krankenhaus in Eppendorf, das wir besuchten, besteht aus 90 Gebäuden, die in einen herrlichen Park eingelagert sind. 2000 Kranke finden dort Unterkunft und werden durch 220 Schwestern, 80 Laienwärterinnen und 32 Aerzte verpflegt. Die Anlage der zentralen Institute — Küche, Wäsche (pro Tag müssen 8000 Stück Linge gewaschen werden!), Desinfektionsanstalt, Sektionsgebäude (1300 Sektionen pro Jahr; während der Cholerazeit 1336 in 4 Wochen!), Operationsgebäude, Badehaus,