Isolde Kurz

Gesammelte Werke


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ent­wi­ckel­te sich mit den Jah­ren im­mer mehr, wie über­haupt ihre gan­ze Per­sön­lich­keit be­stimmt war, erst im höchs­ten Grei­sen­al­ter, das bei ihr noch im­mer quel­len­de Ju­gend war, eine süße duf­ten­de Rei­fe zu er­lan­gen wie eine al­le­re­dels­te Wein­sor­te. Da­mals war sie noch brau­sen­der Most und gär­te mit ih­ren Kin­dern um die Wet­te.

      Über­haupt, was gab es da­mals für Freund­schaf­ten auf der Welt, und wie leb­ten sie sich in Brie­fen aus, ver­schwen­de­risch und über­schweng­lich mit den in­ne­ren Gü­tern schal­tend. Um je­des edle Herz stand eine Schutz­mau­er von Lie­be. Die Erde mit all ih­ren Küm­mer­nis­sen wäre ja gar nicht be­wohn­bar ge­we­sen ohne den En­gel der Freund­schaft, der zwi­schen den Men­schen hin und her ging. Man krit­tel­te und zer­glie­der­te auch noch gar nicht, son­dern nahm sich ge­gen­sei­tig so wie man war schlecht­hin als Gan­zes, und lieb­te sich ohne viel zu tüf­teln und zu deu­teln. Die psy­cho­lo­gi­sche Neu­gier, die nicht ru­hen kann, bis sie einen Cha­rak­ter in sei­ne Ein­zel­hei­ten zer­legt hat, kam erst in der jün­ge­ren Ge­schlechts­rei­he auf, und man dünk­te sich wun­der wie klug, als man zu zer­fa­sern be­gann. Es fragt sich aber sehr, ob nicht jene die Klü­ge­ren wa­ren, die das Le­ben ganz un­be­fan­gen leb­ten und, vom blo­ßen Ah­nungs­ver­mö­gen ge­lei­tet, ge­wiss nicht öf­ter fehl­grif­fen als die Jun­gen mit ih­rer Weis­heit.

      Wenn ich an Kirch­heim den­ke, steigt noch ein blas­ses, aber un­ver­wisch­ba­res Bild vor mir auf: eine grü­ne Fest­wie­se mit Bän­ken und Ti­schen, an de­nen ge­ta­felt wur­de, und ei­nem sich dre­hen­den Ka­rus­sell, dem Höchs­ten von ir­di­scher Se­lig­keit, was ich da­mals kann­te! Dann ein lan­ger Zug von klei­nen weiß­ge­klei­de­ten Mäd­chen, die meis­ten von mei­nem Al­ter, mit Krän­zen um die Stirn, je zwei und zwei sich bei der Hand hal­tend, wäh­rend von der Wie­se her die Mu­sik tön­te. Ich war eben­falls weiß und fest­lich ge­klei­det und trug den schöns­ten Kranz von Mai­en­blu­men im Haar, aber ich ging nicht mit im Zug, der aus den Schul­kin­dern ge­bil­det war, son­dern stand ab­seits an der Hand der Mut­ter, um zu­zu­se­hen. Die Brü­der wa­ren ein­ge­reiht und schrit­ten je­der mit sei­ner Klas­se. An mir aber ging der Zug vor­über, der grü­nen Wie­se, dem Pa­ra­dies­gar­ten, dem Fes­te der ewi­gen Freu­de zu. Da über­kam es mich plötz­lich, was es heißt, »nicht da­bei zu sein«. Es war ein maß­lo­ser Schmerz wie ein er­zwun­ge­ner ewi­ger Ver­zicht auf alle Freu­den die­ser grü­nen Erde. Und Mama be­griff ihr dum­mes klei­nes Mä­del nicht, das nur mit Mühe un­ter Auf­bie­tung al­len Stol­zes den Trä­nen wehr­te. Kann aber ein Er­wach­se­nes, auch das lie­be­volls­te, nach­füh­len, was je­nes Nicht­da­bei­sein dem Kin­de be­deu­te­te?

      Und nun läu­ten auf ein­mal in mei­ner Erin­ne­rung Os­ter­glo­cken. Aus Mün­chen, wo­hin mein Va­ter sich auf ein paar Wo­chen zu sei­nem Freund Paul Hey­se be­ge­ben hat­te, kam die Heils­bot­schaft, dass wir alle bin­nen kur­z­em nach der großen bay­ri­schen Kunstre­si­denz über­sie­deln wür­den, wo uns end­lich ein frei­es, ein wahr­haft men­schen­wür­di­ges Le­ben er­war­te­te. Dort wür­den die El­tern einen gleich­ge­sinn­ten, fein ge­bil­de­ten Freun­des­kreis fin­den, die Bu­ben Mit­tel zum Stu­die­ren, ich die Ge­le­gen­heit, das Kunst­ta­lent, das man mir zu­schrieb, weil ich noch im­mer eif­rig für mich zeich­ne­te, aus­zu­bil­den. Die Mut­ter ging in ei­nem be­stän­di­gen Glücks­rausch um­her. Aber das Ver­hei­ßungs­land ver­sank, wie es auf­ge­taucht war; wie und warum, steht in mei­nes Va­ters Le­bens­ge­schich­te. Es war der höchs­te Wel­len­berg der Hoff­nung, den un­ser Schiff­lein je er­klet­ter­te, und nun schoss es jäh in einen trost­lo­sen Ab­grund hin­un­ter, in dem mein ra­sches Müt­ter­lein schon den Un­ter­gang sah. Doch es tauch­te wie­der auf und schwamm ei­nem nicht so ver­lo­cken­den, aber si­che­ren Ha­fen zu, dem al­ten Tü­bin­gen, wo un­ser Va­ter vor Jahres­schluss einen Biblio­the­kars­pos­ten an der Uni­ver­si­tät an­trat.

      1 Ju­gend­freund mei­nes Va­ters und gleich­falls Dich­ter, von ihm un­ter dem Na­men Ru­wald in der No­vel­le Das Wirts­haus ge­gen­über ein­ge­führt. Da­mals Pfar­rer in Klein-Eis­lin­gen. <<<

      Den Ort, an den mich jetzt mei­ne Erin­ne­rung führt, wür­de man heu­te auf Er­den ver­geb­lich su­chen. Zwar hat sich mein al­tes Tü­bin­gen äu­ßer­lich nicht all­zu viel ver­än­dert. Sei­ne Ge­stalt ist durch den hü­ge­li­gen Bo­den, der es trägt, und durch die ge­schlos­se­nen Li­ni­en des mit­tel­al­ter­li­chen Städ­te­baus für alle Zei­ten fest­ge­legt. Noch im­mer spie­gelt sich die hohe und stei­le Gie­bel­rei­he der Neckar­front mit dem aus der Asche von 1875 wie­der­er­stan­de­nen Höl­der­lin­sturm in dem still zie­hen­den Fluss, und un­ver­rückt steht auf der höchs­ten Hü­gel­kup­pe Schloss Ho­hentü­bin­gen mit sei­ner ge­streck­ten Mas­se und den stump­fen Tür­men, die noch die Spu­ren Tu­ren­nes und Me­lacs am Lei­be tra­gen. Und die be­herr­schen­de Stifts­kir­che aus ei­nem stei­len, hoch­ge­mau­er­ten Vor­sprung reckt sich trot­zig wie ein ge­wapp­ne­ter Erz­en­gel im Stadt­in­nern em­por. Sol­che Züge sind un­ver­wisch­bar. Aber was die­sen Zü­gen in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren ih­ren ur­ei­ge­nen geis­ti­gen Aus­druck gab, die mit­tel­al­ter­li­che Ro­man­tik, ist für im­mer dar­aus ver­schwun­den. Das Stu­den­ten­le­ben hat sich in die häss­li­chen neu­zeit­li­chen Kor­po­ra­ti­ons­häu­ser auf den An­hö­hen zu­rück­ge­zo­gen, die für die wei­chen, nie­de­ren Hü­gel viel zu groß sind und laut aus der Har­mo­nie des Gan­zen her­aus­fal­len. Da­mals spiel­te sich die­ses Le­ben noch in den krum­men und stei­len Stra­ßen ab, wo das Trei­ben und Tol­len nie­mals ruh­te. Zwar sei­ner Lieb­lings­be­schäf­ti­gung, dem Trunk, lag der Mu­sen­sohn, mit Aus­nah­me der be­lieb­ten »Na­tur­knei­pe­rei­en« auf dem Wöhrd oder dem Schänz­le, auch da­mals im ge­schlos­se­nen Rau­me ob, aber die Fol­gen tob­ten sich im Frei­en aus. Es sang und klang stra­ßen­auf und -ab, noch öf­ter brüll­te und gröl­te es. Dann gab es die An­rem­pe­lun­gen mit nach­fol­gen­der »Kon­tra­ha­ge« nach dem be­rühm­ten Mus­ter: Ge­sch­ah das mit Vor­satz? – Nein, mit dem Ab­satz – und sol­che Scher­ze mehr. Fer­ner die Kei­le­rei­en zwi­schen Far­ben, die sich nicht lei­den moch­ten, und end­lich die ganz großen Stu­den­ten­schlach­ten, wo die ge­sam­te Stu­den­ten­schaft ein­mü­tig ge­gen die Ob­rig­keit oder das Phi­lis­te­ri­um oder was sonst in ihre Vor­rech­te ein­ge­grif­fen hat­te, zu Fel­de zog.

      Gleich­falls