Aber der derbe, urgesunde Alfred erkannte sein Übergewicht nicht an, für ihn galt nur das Recht des Stärkeren, und das neigte sich auf seine Seite. Daher brandete um den gebietenden Erstgeborenen ein beständiger Aufruhr, von dem alle Geschwister mitzuleiden hatten, und es wiederholte sich im kleinen das Drama, das ein ganzes Volk erschüttert, wenn zwei gleich kraftvolle, aber ungleich geartete Stämme im Hochgefühl ihrer Sonderart um die Vormacht ringen. Meine Mutter konnte die gewaltsamen Geister nicht bändigen, und den Vater, der drei Viertel des Tages auf der Schlossbibliothek mit amtlichen und literarischen Arbeiten beschäftigt war, verschonte man, wenn er spät nach Hause kam, so viel wie möglich mit der Chronik des Bruderzwistes.
Ich habe das spätere Leben dieser beiden Brüder, ihr segensreiches ärztliches Wirken in Italien und ihr treues Zusammenstehen bis zu ihrem vorzeitigen Tode anderwärts erzählt,1 und in meiner Hermann-Kurz-Biografie ist auch ihr frühes Knabenbildnis zusammenfassend gezeichnet, sodass mir hier nur wenig nachzuholen bleibt. Wenn sie nun auf diesen Blättern manchmal weniger liebenswürdig erscheinen werden, als in den ihnen eigens gewidmeten Aufzeichnungen, so erklärt sich das von selbst aus ihrer damaligen Unreife und aus der Beleuchtung des häuslichen Alltags. Besonders Alfred, der kleine, trotzige Butzel, hatte eine harte Schale abzulegen, ehe seine frühere Wildheit sich als die unwiderstehliche Lebensfülle kundtat, die ihm später alle Herzen gewinnen sollte. Damals hielt er mit seinen Entwicklungskrämpfen das ganze Haus in Atem. Seine Rauheit stach dermaßen von Edgars vornehmem Anstand und des jüngeren Erwin zierlicher Geschmeidigkeit ab, dass Mama entsetzt klagte, in diesem Sohne seien alle Reutlinger Zinn- und Glockengießer wieder lebendig geworden. Aber mein Vater sagte lächelnd: Lasst ihr Aristokraten mir meine Vorfahren und deinen Butzel ungeschoren. Der wird noch der Beste von allen, wenn er einmal seine Hörner abgelaufen hat.
Gegen das weibliche Geschlecht hatte der Trotzkopf einen dämonischen Hass, den er schon als kleines Kind an den Dienstmädchen und den weiblichen Gästen des Hauses zu betätigen suchte. In der Schule wurde er in dieser Gesinnung noch bestärkt, denn die Mädchen standen da in tiefer Missachtung, und wenn ein Bub mit einem Mädle ging, so sangen ihm die Kameraden seinen Namen in einem Spottvers nach:
N. N. möcht’ ich gar nicht heißen,
N. N. ist ein wüster Name,
N. N. hat sich küssen lassen
Von den Mädeln auf der Gassen.
Wenn dem wilden Alfred ein solcher Schimpf zugestoßen wäre, er hätte sich vor beleidigtem Ehrgefühl zu Tode gekränkt. Ich war natürlich die nächste, die seinen von ihm selber unverstandenen dumpfen Groll zu spüren bekam. Trotz seiner unendlichen Gutherzigkeit hatte ich mich jahrelang vor ihm zu hüten; es war ihm ein stetes Bedürfnis, mich irgendwie zu peinigen. Auf der Straße kannte er mich überhaupt nicht, denn er hielt es unter seiner Knabenwürde, eine Schwester zu besitzen. Nicht einmal mit seiner Mutter, die er doch leidenschaftlich liebte, ließ er sich gern öffentlich sehen, es schien ihm ein Makel, vom Weibe geboren zu sein. Dabei wusste ich wohl, dass er für jedes der Seinigen augenblicklich sein Leben gegeben hätte. An einem Wintertage jedoch – es war in meinem zehnten Jahre – geschah etwas Ungeheuerliches, das mich an ihm und an der ganzen Menschheit irremachte. Ich hatte mir einmal ein Herz gefasst und war trotz meiner Furcht vor der bösen Straßenjugend am Vormittag, als eben die Schulen zu Ende gingen, allein das Mühlgässchen hinaufgewandert, das damals, zwischen die hohe Stadtmauer und die brausende Ammer eingezwängt, bedeutend enger und steiler war als heute. Aber an der steilsten Steigung kam mir ein Trupp Schuljungen entgegen, die bei meinem Anblick ein Indianergeheul ausstießen und mich mit Schneeklumpen überschütteten, worein zum Teil sogar Steine geballt waren. Im Nu war mein neues braunes Kastormäntelchen über und über weiß bestäubt, und nirgends ein Entrinnen aus diesem langen, schlauchartigen Engpaß. Und nun erkannte ich mitten unter der Meute meinen Alfred, der tat, als hätte er mich nie gesehen und, statt mir zu Hilfe zu kommen, sich bückte, um mich gleichfalls mit Schneeballen zu bewerfen. So mag es Cäsar zumute gewesen sein, als er seinen Brutus unter den Mördern sah. In der höchsten Not kam ein breiter Bierwagen den engen Steilpaß herabgerasselt und drängte die bösen Buben gegen die Mauer, dass ich unterdessen Zeit zur Flucht gewann. Ich sprach kein Wort über den Vorfall, denn ich hatte allen Grund, häusliche Katastrophen zu vermeiden – es gab deren genug ohne mein Zutun –, aber es wollte mir fast das Herz abdrücken, dass eine solche Treulosigkeit möglich war. Nicht nur, dass ich mich auf der Straße von lauter Feindseligkeit umgeben sah, deren Ursache mir dunkel blieb, nun gesellte sich auch noch der eigene Bruder, der mich hätte schützen sollen, zu meinen Widersachern! Es war einfach eine Tragödie. Hätte ich mich dem Vater anvertraut, so würde er mir mit seiner Einsicht und Milde den großen Schmerz ausgeredet und den Sünder mit einer Verwarnung entlassen haben. Aber ich verachtete die Angeber und ging lieber in stummer Verwerfung an dem Missetäter vorüber. Ich wusste nicht und erfuhr es erst in seinen Mannesjahren von ihm selbst, dass der arme Junge lange Zeit das Gefühl einer schweren Verschuldung herumtrug, deren er sich tödlich schämte und die er doch bei der nächsten Gelegenheit abermals auf sich geladen hätte. Für einen Bruder, so bekannte er mir, hätte er sich gleich in Stücke hauen lassen, auch wenn er im übrigen mit ihm in Fehde stand, aber sich zu einer Schwester bekennen, nachdem er stets ihr Dasein vor den Kameraden abgeleugnet hatte, das ging über seine Kraft. Und das böse Gewissen machte, dass er sich nur immer mehr im Trotz gegen mich versteifte.
Edgar, der Älteste, hatte keine Spur von Geschlechtshochmut, er war vielmehr stolz auf den Besitz der Schwester, und was andere Jungen etwa meinten und redeten, kümmerte ihn wenig. Aber er machte es mir auf seine Weise ebenso schwer. Er geriet in den schmerzlichsten Zorn, wenn ich anders wollte als er, und ohne sich davon Rechenschaft zu geben, suchte er mir in allem sein Urteil und seinen Geschmack aufzuzwingen. Wenn ich mich wehrte, war er tief unglücklich und empfand es als einen Verrat an dem gemeinsamen Kinderland, durch das wir Hand in Hand in inniger Eintracht gegangen waren. Wir litten dann beide und vermochten die Kluft nicht zu füllen. Es gab aber auch ganz dunkle Tage, wo sich alle gemeinsam gegen mich wandten und wo selbst unser kleiner Balde, der Nestling, sein Blondköpfchen zwischen den Gitterstäben des Bettchens vorstreckte, um mit lallender Kinderstimme zu sagen: Ein Mädle, pfui! Ich tät’ mich schämen, wenn ich ein Mädle wär’. Ging ich aus einer geschwisterlichen Auseinandersetzung zerzaust hervor, so wurde ich meist noch von der Mutter gescholten, die, rasch, wie sie war,