Isolde Kurz

Gesammelte Werke


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Aber der der­be, ur­ge­sun­de Al­fred er­kann­te sein Über­ge­wicht nicht an, für ihn galt nur das Recht des Stär­ke­ren, und das neig­te sich auf sei­ne Sei­te. Da­her bran­de­te um den ge­bie­ten­den Erst­ge­bo­re­nen ein be­stän­di­ger Aufruhr, von dem alle Ge­schwis­ter mit­zu­lei­den hat­ten, und es wie­der­hol­te sich im klei­nen das Dra­ma, das ein gan­zes Volk er­schüt­tert, wenn zwei gleich kraft­vol­le, aber un­gleich ge­ar­te­te Stäm­me im Hoch­ge­fühl ih­rer Son­der­art um die Vor­macht rin­gen. Mei­ne Mut­ter konn­te die ge­walt­sa­men Geis­ter nicht bän­di­gen, und den Va­ter, der drei Vier­tel des Ta­ges auf der Schloss­bi­blio­thek mit amt­li­chen und li­te­ra­ri­schen Ar­bei­ten be­schäf­tigt war, ver­schon­te man, wenn er spät nach Hau­se kam, so viel wie mög­lich mit der Chro­nik des Bru­der­zwi­s­tes.

      Ge­gen das weib­li­che Ge­schlecht hat­te der Trotz­kopf einen dä­mo­ni­schen Hass, den er schon als klei­nes Kind an den Dienst­mäd­chen und den weib­li­chen Gäs­ten des Hau­ses zu be­tä­ti­gen such­te. In der Schu­le wur­de er in die­ser Ge­sin­nung noch be­stärkt, denn die Mäd­chen stan­den da in tiefer Missach­tung, und wenn ein Bub mit ei­nem Mäd­le ging, so san­gen ihm die Ka­me­ra­den sei­nen Na­men in ei­nem Spott­vers nach:

       N. N. möcht’ ich gar nicht hei­ßen,

       N. N. ist ein wüs­ter Name,

       N. N. hat sich küs­sen las­sen

       Von den Mä­deln auf der Gas­sen.

      Wenn dem wil­den Al­fred ein sol­cher Schimpf zu­ge­sto­ßen wäre, er hät­te sich vor be­lei­dig­tem Ehr­ge­fühl zu Tode ge­kränkt. Ich war na­tür­lich die nächs­te, die sei­nen von ihm sel­ber un­ver­stan­de­nen dump­fen Groll zu spü­ren be­kam. Trotz sei­ner un­end­li­chen Gut­her­zig­keit hat­te ich mich jah­re­lang vor ihm zu hü­ten; es war ihm ein ste­tes Be­dürf­nis, mich ir­gend­wie zu pei­ni­gen. Auf der Stra­ße kann­te er mich über­haupt nicht, denn er hielt es un­ter sei­ner Kna­ben­wür­de, eine Schwes­ter zu be­sit­zen. Nicht ein­mal mit sei­ner Mut­ter, die er doch lei­den­schaft­lich lieb­te, ließ er sich gern öf­fent­lich se­hen, es schi­en ihm ein Ma­kel, vom Wei­be ge­bo­ren zu sein. Da­bei wuss­te ich wohl, dass er für je­des der Sei­ni­gen au­gen­blick­lich sein Le­ben ge­ge­ben hät­te. An ei­nem Win­ter­ta­ge je­doch – es war in mei­nem zehn­ten Jah­re – ge­sch­ah et­was Un­ge­heu­er­li­ches, das mich an ihm und an der gan­zen Mensch­heit ir­re­mach­te. Ich hat­te mir ein­mal ein Herz ge­fasst und war trotz mei­ner Furcht vor der bö­sen Stra­ßen­ju­gend am Vor­mit­tag, als eben die Schu­len zu Ende gin­gen, al­lein das Mühl­gäss­chen hin­auf­ge­wan­dert, das da­mals, zwi­schen die hohe Stadt­mau­er und die brau­sen­de Am­mer ein­ge­zwängt, be­deu­tend en­ger und stei­ler war als heu­te. Aber an der steils­ten Stei­gung kam mir ein Trupp Schul­jun­gen ent­ge­gen, die bei mei­nem An­blick ein In­dia­ner­ge­heul aus­stie­ßen und mich mit Schnee­klum­pen über­schüt­te­ten, wor­ein zum Teil so­gar Stei­ne ge­ballt wa­ren. Im Nu war mein neu­es brau­nes Kas­tor­män­tel­chen über und über weiß be­stäubt, und nir­gends ein Ent­rin­nen aus die­sem lan­gen, schlauch­ar­ti­gen Eng­paß. Und nun er­kann­te ich mit­ten un­ter der Meu­te mei­nen Al­fred, der tat, als hät­te er mich nie ge­se­hen und, statt mir zu Hil­fe zu kom­men, sich bück­te, um mich gleich­falls mit Schnee­bal­len zu be­wer­fen. So mag es Cäsar zu­mu­te ge­we­sen sein, als er sei­nen Bru­tus un­ter den Mör­dern sah. In der höchs­ten Not kam ein brei­ter Bier­wa­gen den en­gen Steil­paß her­ab­ge­ras­selt und dräng­te die bö­sen Bu­ben ge­gen die Mau­er, dass ich un­ter­des­sen Zeit zur Flucht ge­wann. Ich sprach kein Wort über den Vor­fall, denn ich hat­te al­len Grund, häus­li­che Ka­ta­stro­phen zu ver­mei­den – es gab de­ren ge­nug ohne mein Zu­tun –, aber es woll­te mir fast das Herz ab­drücken, dass eine sol­che Treu­lo­sig­keit mög­lich war. Nicht nur, dass ich mich auf der Stra­ße von lau­ter Feind­se­lig­keit um­ge­ben sah, de­ren Ur­sa­che mir dun­kel blieb, nun ge­sell­te sich auch noch der ei­ge­ne Bru­der, der mich hät­te schüt­zen sol­len, zu mei­nen Wi­der­sa­chern! Es war ein­fach eine Tra­gö­die. Hät­te ich mich dem Va­ter an­ver­traut, so wür­de er mir mit sei­ner Ein­sicht und Mil­de den großen Schmerz aus­ge­re­det und den Sün­der mit ei­ner Ver­war­nung ent­las­sen ha­ben. Aber ich ver­ach­te­te die An­ge­ber und ging lie­ber in stum­mer Ver­wer­fung an dem Mis­se­tä­ter vor­über. Ich wuss­te nicht und er­fuhr es erst in sei­nen Man­nes­jah­ren von ihm selbst, dass der arme Jun­ge lan­ge Zeit das Ge­fühl ei­ner schwe­ren Ver­schul­dung her­um­trug, de­ren er sich töd­lich schäm­te und die er doch bei der nächs­ten Ge­le­gen­heit aber­mals auf sich ge­la­den hät­te. Für einen Bru­der, so be­kann­te er mir, hät­te er sich gleich in Stücke hau­en las­sen, auch wenn er im üb­ri­gen mit ihm in Feh­de stand, aber sich zu ei­ner Schwes­ter be­ken­nen, nach­dem er stets ihr Da­sein vor den Ka­me­ra­den ab­ge­leug­net hat­te, das ging über sei­ne Kraft. Und das böse Ge­wis­sen mach­te, dass er sich nur im­mer mehr im Trotz ge­gen mich ver­steif­te.

      Ed­gar, der Äl­tes­te, hat­te kei­ne Spur von Ge­schlechts­hoch­mut, er war viel­mehr stolz auf den Be­sitz der Schwes­ter, und was an­de­re Jun­gen etwa mein­ten und re­de­ten, küm­mer­te ihn we­nig. Aber er mach­te es mir auf sei­ne Wei­se eben­so schwer. Er ge­riet in den schmerz­lichs­ten Zorn, wenn ich an­ders woll­te als er, und ohne sich da­von Re­chen­schaft zu ge­ben, such­te er mir in al­lem sein Ur­teil und sei­nen Ge­schmack auf­zu­zwin­gen. Wenn ich mich wehr­te, war er tief un­glück­lich und emp­fand es als einen Ver­rat an dem ge­mein­sa­men Kin­der­land, durch das wir Hand in Hand in in­ni­ger Ein­tracht ge­gan­gen wa­ren. Wir lit­ten dann bei­de und ver­moch­ten die Kluft nicht zu fül­len. Es gab aber auch ganz dunkle Tage, wo sich alle ge­mein­sam ge­gen mich wand­ten und wo selbst un­ser klei­ner Bal­de, der Nest­ling, sein Blond­köpf­chen zwi­schen den Git­ter­stä­ben des Bett­chens vor­streck­te, um mit lal­len­der Kin­der­stim­me zu sa­gen: Ein Mäd­le, pfui! Ich tät’ mich schä­men, wenn ich ein Mäd­le wär’. Ging ich aus ei­ner ge­schwis­ter­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung zer­zaust her­vor, so wur­de ich meist noch von der Mut­ter ge­schol­ten, die, rasch, wie sie war,