Isolde Kurz

Gesammelte Werke


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ich im­mer ängst­li­cher und fle­hen­der mein »Ma­ma­le, komm lun­ter«. Die­ses star­re, stei­ner­ne Da­ste­hen flö­ßte mir eine ban­ge Furcht, ein wach­sen­des Grau­en ein, ich be­gann zu ah­nen, dass es ein Ent­rückt­sein ge­ben kön­ne, wo kein Ruf die ge­lieb­te See­le mehr er­reicht. In mei­nen Jam­mer misch­te sich noch ein dunkles Schuld­ge­fühl, als ob die­ses Un­glück die Stra­fe für ir­gend­ei­ne von mir be­gan­ge­ne Un­bot­mä­ßig­keit wäre, ich brach in ein fürch­ter­li­ches Weh­ge­schrei aus und blieb für alle Trös­tun­gen taub, wäh­rend man mich schrei­end die gan­ze Kö­nigs­tra­ße ent­lang nach Hau­se führ­te, wo erst der le­ben­di­ge An­blick der für ver­lo­ren Be­wein­ten mir den Frie­den wie­der­gab.

      Und dann sehe ich in eben die­ser Kö­nigs­tra­ße eine brau­ne ein­flü­ge­li­ge Ei­chen­tür mit mes­sin­ge­ner Klin­ke, die so nied­rig stand, dass ich sie mit ei­ni­ger Mühe ge­ra­de er­rei­chen und auf­drücken konn­te. Sie führ­te in einen Bäcker­la­den, den wir Kin­der täg­lich auf un­se­rem Spa­zier­gang mit Jo­se­phi­ne be­such­ten. Dort durf­te je­des von uns sich ein schmack­haf­tes Back­werk, eine so­ge­nann­te »See­le«, sel­ber vom Tisch lan­gen. Ei­nes Ta­ges kam Ed­gar mit sei­ner Wahl nicht zu­stan­de. Wel­che See­le man ihm an­bot, es war im­mer nicht die rech­te. Er wur­de dar­über sehr schwer­mü­tig und er­klär­te im­mer­zu: ’s Her­ze­le will was und ’s Her­ze­le kriegt nix. Als Jo­se­phi­ne nach vie­len ver­geb­li­chen Ver­su­chen, ihn zu be­frie­di­gen, end­lich mit uns den La­den ver­ließ, ver­wan­del­te sich sein Gram in lau­ten Jam­mer, und wäh­rend wir an­de­ren freu­dig un­se­re See­len ver­zehr­ten, er­fuhr es die gan­ze Kö­nigs­tra­ße hin­ab je­der Vor­über­ge­hen­de, dass das Her­ze­le et­was woll­te und nichts be­kam. Da­heim er­goss sich der Ent­täu­schungs­schmerz in einen Strom von Trä­nen, bis Jo­se­phi­ne ih­ren Lieb­ling still bei­sei­te nahm und ihm die heim­lich ein­ge­steck­te See­le reich­te. Er ver­zehr­te sie be­frie­digt und sag­te dann: ’s Her­ze­le will noch mehr.

      In mein drit­tes Le­bens­jahr fällt die ers­te Be­kannt­schaft mit dem Dich­ter Lud­wig Pfau, der als po­li­ti­scher Flücht­ling in Pa­ris leb­te und nun zu heim­li­chem Be­su­che nach Stutt­gart ge­kom­men war. Es ver­kehr­ten zwar vie­le Freun­de in mei­nem El­tern­hau­se, aber sie alle tau­chen in mei­nem Ge­dächt­nis erst viel spä­ter auf. Aus je­ner frü­hen Stutt­gar­ter Zeit bli­cken mich nur Lud­wig Pfaus vor­ste­hen­de blaue Au­gen aus ei­nem röt­lich um­rahm­ten Ge­sicht stra­fend an. Das ging so zu: Pfau hielt sich acht Tage in un­se­rem Hau­se ver­bor­gen und pfleg­te wäh­rend der Ar­beits­stun­den mei­nes Va­ters bei mei­ner Mut­ter zu sit­zen, mit de­ren An­schau­un­gen er sich be­son­ders gut ver­stand. Mich konn­te er nicht aus­ste­hen, und die­se Ge­sin­nung war ge­gen­sei­tig, denn wir wa­ren ein­an­der im Wege. Ich war durch­aus nicht ge­wohnt, dass die Mama, die ich sonst nur mit den Brü­dern zu tei­len hat­te, sich so viel und an­dau­ernd mit ei­ner frem­den Per­son be­schäf­tig­te. Wenn die bei­den also po­li­ti­sie­rend in dem großen Be­suchs­zim­mer auf und ab gin­gen, dräng­te ich mich ge­walt­sam zwi­schen die müt­ter­li­chen Knie, dass ihr der Schritt ge­sperrt wur­de, und der Gast är­ger­te sich hef­tig, ohne dass er bei der ab­göt­ti­schen Lie­be, die mei­ne Mut­ter für ihre Klei­nen hat­te, es wa­gen durf­te, mich vor die Tür zu set­zen. Er woll­te sich da­her in Güte mit mir ei­ni­gen, und nach­dem er sich ei­nes Ta­ges doch zu ei­nem Aus­gang ent­schlos­sen hat­te, brach­te er eine Tüte voll Zucker­werk mit, dem er den mir noch un­be­kann­ten Na­men Bon­bons gab. Die­ses un­schö­ne Wort für einen so schö­nen Ge­gen­stand miss­fiel mir sehr: in dem na­sa­len O und in der Ver­dop­pe­lung der Sil­be fühl­te ich dun­kel et­was Gro­blüs­ter­nes und Un­wür­di­ges. Wie mich ein neu­es Wort, das mei­nen Ohren schön oder ge­heim­nis­voll klang, in einen stil­len Rausch ver­set­zen konn­te, auch wenn ich sei­nen Sinn gar nicht ver­stand, ja dann erst recht, so­dass ich da­mit um­her­ging wie mit dem schöns­ten Ge­schenk, so gab es an­de­re, die mir einen Wi­der­wil­len ein­flö­ßten und die ich ein­fach nicht in den Mund nahm. Ich wur­de nun auf den brei­ten höl­zer­nen Tritt ge­setzt, der das hal­be Zim­mer aus­füll­te, und un­ter dem Be­ding, mich für eine Wei­le ru­hig zu ver­hal­ten, er­hielt ich ein run­des bern­stein­far­bi­ges Zucker­chen, das ich als­bald in Ar­beit nahm. Aber es rutsch­te mir glatt den Hals hin­un­ter, mich um den Ge­nuss be­trü­gend. So­gleich brach ich den Frie­den, in­dem ich wie Queck­sil­ber auf­fuhr und mich mi­au­end zwi­schen die Knie der Mut­ter klemm­te, in der Hoff­nung, eine Ent­schä­di­gung zu er­lan­gen. For­dern moch­te ich sie nicht, weil ich nicht wuss­te, wie das Ding be­n­am­sen, da mir das wi­der­wär­ti­ge Wort, das ich ganz leicht hät­te aus­spre­chen kön­nen, nicht von der Zun­ge woll­te. Ich ant­wor­te­te also auf die er­schreck­te Fra­ge, was mir ge­sche­hen sei, nur, ich hät­te »das Ding« ver­schluckt. Was für ein Ding? frag­te sie, schon an al­len Glie­dern zit­ternd, denn sie dach­te an ir­gend­ei­nen spit­zi­gen oder gar gif­ti­gen Ge­gen­stand. Das Ding! Das Ding! rief ich ge­ängs­tigt, dass man mich nicht ver­stand, und nun erst recht ent­schlos­sen, das ver­haß­te Wort kei­nen­falls aus­zu­spre­chen. Mama war schon aus der Tür ge­stürzt, um den Arzt zu ru­fen, aber der Gast hat­te die Geis­tes­ge­gen­wart, mich bes­ser ins Ver­hör zu neh­men: Wie sah denn das Ding aus? – Es war rund und gelb und ganz süß, sag­te ich schnell, er­leich­tert, dass ich nun end­lich den Weg sah, mich ver­ständ­lich zu ma­chen. Du dum­mes Kind, das war ja dein Bon­bon, konn­test du das nicht gleich sa­gen? hieß es nun. Mama wur­de zu­rück­ge­ru­fen, die mich ju­belnd als eine Ge­ret­te­te in die Arme schloss, ich er­hielt ein zwei­tes Bon­bon, das ich trotz dem wid­ri­gen Na­men ver­gnügt in Empfang nahm, und das Zwie­ge­spräch konn­te end­lich sei­nen Fort­gang neh­men. Aber die­sen Zwi­schen­fall hat mir Pfau nie ver­ges­sen. Er ver­si­cher­te mir spä­ter oft, ich sei das un­aus­steh­lichs­te Kind ge­we­sen, was ich ihm von sei­nem Stand­punkt aus ger­ne zu­ge­ben will.

      Früh­zei­tig schlich sich auch die Nacht­sei­te des Le­bens in mei­ne In­nen­welt. Die Miss­ge­stal­ten des Struw­wel­pe­ters ar­bei­te­ten zum Nach­teil mei­nes See­len­frie­dens in mei­ner Fan­ta­sie, die ge­nö­tigt war, im Traum noch mehr sol­cher Un­ge­heu­er zu er­zeu­gen. Eins der schreck­lichs­ten war der Hä­kel­mann, eine Ge­stalt, die mich jah­re­lang ver­folg­te. Er war lang und ma­ger mit gras­grü­nem Frack und ro­ten Bein­klei­dern und fuhr blitz­schnell durch alle Zim­mer, in­dem er mit ei­nem lan­gen Ha­ken die Kin­der, die sich vor ihm ver­kro­chen, un­ter den Ti­schen und Bet­ten her­vor­zu­hä­keln such­te. Wann er er­schi­en, brach­te er das gan­ze Haus um den Schlaf, so furcht­bar war mein Angst­ge­schrei. Wie bei Nacht vor dem Hä­kel­mann, so fürch­te­te ich mich wa­chend vor der Licht­putz­sche­re, die da­mals noch im Ge­brau­che war. Ich hat­te näm­lich auf ei­nem Bil­der­bo­gen eine sol­che ge­se­hen, die ein klei­nes Mäd­chen ein­schnapp­te, und glaub­te mich seit­dem zum glei­chen Schick­sal be­stimmt. Wenn es däm­mer­te und die Ker­zen an­ge­zün­det wur­den, so blin­zel­te ich im­mer mit tie­fem Miss­trau­en nach der mes­sin­ge­nen Putz­sche­re, und so oft sie in Tä­tig­keit trat, fürch­te­te ich, in dem gäh­nen­den schwar­zen Ra­chen ver­schwin­den zu müs­sen, denn so früh­reif ich in al­lem an­de­ren war, die Grö­ßen­ver­hält­nis­se wa­ren mir noch im­mer nicht auf­ge­gan­gen. Des­glei­chen gab es im Hau­se einen Bil­der­ka­len­der mit ei­ner Ka­ri­ka­tur, aus der ich schreck­li­che Ängs­te sog: das wa­ren die Krän­ze­les­frau­en. Mit groß­ge­blum­ten Klei­dern im Bie­der­mei­er­stil, Kaf­fee­kan­nen und Tas­sen in der Hand, sa­ßen sie um einen run­den Tisch; sie hat­ten grau­si­ge