Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik


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auf. Wenigstens war der Verdacht von Chris genommen, obgleich zu einem hohen Preis. Wo war die verdammte Klinge? »Vermutlich hat er sie wieder getarnt, aber wir haben sie schon einmal aufgespürt.«

      »Was, die Klinge?«, fragte Chris. Seine Fesseln fielen zu Boden. »Ja, toll. Mal schauen, in wessen Zimmer wir jetzt landen. Kevins vielleicht?«

      »Wo ist dein Bruder eigentlich?« Clara sah sich um. »Chloe, hast du nicht gesagt, er wollte hier sein?«

      »Schaut mich nicht an«, kam es von Chris. »Bruderherz war nicht hier. Aber jetzt bitte nicht den nächsten Paranoiaschub.«

      Chloe hob in einer Ich-gebe-auf-Geste die Hände. »Hatte ich nicht vor. Zuerst finden wir die Klinge, dann den Verantwortlichen. Schnell.«

      Gemeinsam mit Clara und Chris verließen sie die Zellen. Auf dem Weg kamen ihnen weitere Ordnungsmagier und ein Heilmagier entgegen. Sie versuchte, nicht länger an das Blut und die Toten zu denken. Dort draußen wurde jeder Lichtkämpfer tagtäglich mit Kampf und Tod konfrontiert. Hier, innerhalb des Castillos, fühlte man sich in der Regel sicher.

      Sie erreichten den Globenraum.

      »Wenn ich den Mistkerl in die Hände bekomme, ist er erledigt«, fluchte Chris. Er knackte mit den Fingergelenken. »Mir die Schuld in die Schuhe schieben. Soweit kommt es noch.«

      Chloe aktivierte den Zauber. Der Tuschefleck materialisierte auf der Karte, genau wie zuvor. Womit aber niemand gerechnet hatte, war der Ort.

      »Leonardos Büro«, hauchte Clara.

      10. Hast du noch immer nicht begriffen?

      Leonardo saß an seinem Schreibtisch und genoss die Ruhe. Sie war selten. Im Verlauf der vergangenen Jahre hatte er gekämpft wie ein Löwe, um den Einfluss der Schattenkrieger und den des dunklen Rates zurückzudrängen. Vielleicht war es an der Zeit, sich eine kleine Schaffenspause zu gönnen, seine Studien in den Fokus zu rücken. Die meisten Neuerweckten wollten in den Außeneinsatz oder als Ordnungsmagier tätig werden. Kaum einer interessierte sich für Ingenieursmagie.

      Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus den Erinnerungen. »Ja?«

      Die Tür öffnete sich. »Ah, du bist es. Was gibt es?«

      Der Lichtkämpfer trat ein und schloss die Tür. In einer fließenden Bewegung zog er die Sigilklinge hervor und warf sie durch den Raum. Leonardos Reflexe, obwohl geschärft aufgrund der langen Jahre des Kampfes, kamen nicht schnell genug. Die Spitze der Waffe durchdrang seine Schulter; Haut, Blut, Knochen und Sehnen. Es war, als habe ein unsichtbarer Puppenspieler die Fäden seiner Marionette gekappt. Die Klinge erzeugte eine Wunde in der Aura, durch die seine Essenz davonwirbelte. Kraftlos fiel er aus dem Stuhl, lag auf dem Boden und sah dem Verhängnis entgegen. »Du.« Niemals hätte er vermutet, dass ausgerechnet er der Verräter sein könnte.

      Gesicht, Haut und Haare des Angreifers verformten sich. Der Lichtkämpfer bekam ledrige Haut, ein runzeliges Gesicht, gelbe Augen, die tückisch zu ihm herabblickten.

      »Ein Wechselbalg«, keuchte er.

      »Du hast es nicht kommen sehen, alter Mann«, höhnte die Kreatur. Aus ihrem Mund drang eine fremde Stimme. Die einer Frau, verzerrt und verfälscht, wie sie immer klang unter dem Schattenfeld. »Ich bin schon ganz nah. Johanna schaut in die falsche Richtung und nun wird sie einen weiteren ihrer Mitstreiter verlieren. Damit nähern wir uns dem Ende.«

      Der Wechselbalg schritt langsam durch den Raum, betrachtete die Bilder ringsum und blieb vor der Mona Lisa stehen. »Ah, was für eine Zeit. Wilde Partys, feiern bis in die Morgenstunden.« Er wandte sich ihm wieder zu. »Du kannst natürlich nicht wissen, dass ich damals dabei war. Wie auch?« Mit den letzten Worten drang ein Schwall puren Hasses zu ihm herüber.

      Seine Vermutung, dass unter dem Schattenfeld eine Unsterbliche steckte, wurde abermals bestätigt. Aber wie war das möglich? Er müsste sie kennen.

      »Wer … du?« Die Worte kamen zäh wie Sirup. Er konnte keinen Zauber mehr wirken, verlor all seine Kraft. Sobald die Essenz erschöpft war, würde das Sigil die Aura angreifen, aufzehren und das Aurafeuer auslösen. Es sei denn, sie stieß davor erneut zu, brachte es zu Ende und vernichtete sein Sigil. Sein zweites Leben näherte sich so oder so dem Ende. Blut floss aus der Wunde, durchdrängte sein Schnürshirt. Pochen für Pochen verließen ihn Kraft und Leben.

      »Ich muss dich enttäuschen«, kam es gespielt entschuldigend von der Schattenfrau. »Du wirst dumm sterben. Weder werde ich dir meine Pläne enthüllen noch meine Identität. Aber du stirbst in dem Wissen, dass meine Pläne kurz vor der Vollendung stehen. Alles verläuft genau so, wie es verlaufen muss.«

      Der Wechselbalg schritt durch das Büro, strich über jene Stelle an der Wand, an der der geheime Schacht verborgen lag. Leonardo schaute nach oben zu den Drahtkonstruktionen, in denen er bis vor Kurzem die Mentigloben versteckt hatte; bevor Chloe und Clara sie dort gefunden und benutzt hatten. Die ganze Zeit hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, wer der Verräter war, der Gedanke, dass ein Wechselbalg innerhalb des Castillos sein Unwesen trieb, war ihm nie gekommen. Seines Wissens nach waren die alten Wechselbälger, die als einzige einen Magier derart perfekt nachbilden konnten, vollständig ausgerottet worden? Außerdem hätte eine solche Kreatur niemals in das Castillo eindringen können dürfen? Wie hatte die Schattenfrau das hinbekommen?

      »Dir müssen so viele Fragen durch den Kopf gehen«, sagte die Schattenfrau. »Ich kann das nachvollziehen, weil es mir genauso ging. Ihr habt mich verraten. Zurückgelassen, einsam und alleine, zum Sterben. Doch ich starb nicht. Dafür werdet ihr alle bezahlen. Jeder von euch.« Sie gab ein Geräusch der Lust von sich, das umso seltsamer wirkte, da es aus dem Mund der Kreatur drang. »Das Leben fließt aus dir heraus. Hast du mir noch etwas zu sagen, alter Mann?«

      Er hatte. So viel. Doch seine Stimme gehorchte ihm nicht länger, das Blickfeld fiel in sich zusammen. Ein Flimmern erschien am Rand seines Blickfeldes, Schmerzen tobten in der Brust, das Gefühl wich aus seinen Füßen.

      »Du gehörst zu den Glücklichen«, säuselte die Schattenfrau. »Du konntest ein zweites Leben genießen, alte Fehler ungeschehen machen und an der Spitze der Lichtkämpfer in die Zukunft schreiten. Um dich herum veränderte sich die Welt, hielt Fortschritt Einzug, wurde die Magie zu einem Element fantastischer Literatur. Niemand weiß mehr, wie es einst war. Die wilde Zeit; Freiheit, Macht, unaufhörlich strömende Essenz.« Die Kreatur kam vor ihm zum Stehen. »Ihr wart die Architekten unseres Untergangs, als ihr den Wall erschaffen habt.«

      Er wollte ihr entgegenbrüllen, dass der Wall das Einzige war, was zwischen der Ordnung einer Welt ohne Magie und dem absoluten Chaos stand. Doch erneut versagte seine Stimme. Kein Wort kam ihm über die Lippen.

      »Ja, vielleicht ist das auch gut so.« Die Kreatur ließ ihren Blick aus gelben Augen über ihn gleiten, betrachtete ihn wie ein Alligator, der seine Beute gleich verschlingen würde. »Du hast so viel gesagt, mehr ist gar nicht notwendig. Es ist schwer, den Hass zu verdeutlichen, den ich dank euch in mir trage.«

      Der Wechselbalg beugte sich herab, zerrte an ihm. Endlich begriff er, weshalb die Kreatur hier aufgetaucht war. Nicht nur, um ihn zu töten, nein. Aber das machte alles noch schlimmer, ließ ihn begreifen, in welcher Gefahr sie alle schwebten. Leonardo hätte ihr wirklich gerne verdeutlicht, welche Menge Hass er selbst gerade in sich trug. Doch der letzte Rest seiner Essenz verschwand. Er spürte, wie das Sigil an der Aura kratzte. Wie Kristallstaub, der von mit einem Stahlskalpell abgeschabt wurde. Tränen lösten sich aus seinen Augen, er konnte nichts dagegen tun.

      »Damit kommen wir wohl zum Ende, alter Feind«, schloss die Schattenfrau voller Genugtuung. »Keine Angst, deine Lichtkämpfer werden bald wissen, wer ich bin. Ich werde euch alles nehmen, was euch lieb und teuer ist; das Leben ganz zum Schluss.« Der Wechselbalg schritt zum Ausgang des Büros, blickte sich ein letztes Mal um. »Sei froh, so musst du das Ende nicht mehr miterleben.«

      Er ging hinaus.

      Leonardo blieb alleine am Boden liegend zurück. Er musste an all die Dinge