verdammte Weib ist intelligent und hinterhältig. Willst du das Risiko eingehen, dass sie an die Informationen aus diesem Folianten kommt?« Er legte die Hand auf den Einband.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Alex kleinlaut.
»Wir haben unsere Gründe für die Geheimniskrämerei, wie du gleich begreifen wirst«, warf Johanna ein. »Der Kreis der Eingeweihten muss so klein wie möglich gehalten werden.«
Ein Tablett schwebte ins Zimmer, auf dem eine Tasse Tee für ihn, ein Kaffee für Jen, ein Energydrink für Leonardo und eine Limonade für Johanna standen.
»Also gut. Du warst ja dabei, als Nostradamus mir gezeigt hat, wie man den Folianten lesbar macht«, erklärte Jen. »Vor einigen Tagen habe ich es tatsächlich versucht. Es hat funktioniert.«
»Silberne Schwebemaid?«
»So was von. Die Prophezeiungen haben sich in meinem Kopf gebildet und dieses Mal sind sie auch geblieben. Ich erinnere mich an jedes Wort. Außerdem wurde ein Teil des Folianten lesbar.«
»Nur ein Teil?«, fragte Alex.
»Scheinbar entscheidet das Buch selbst, was wann wichtig ist. Die Prophezeiungen beziehen sich definitiv auf das Kapitel, das ich lesen konnte. Es geht um den Wall. Damals kamen sechs Lichtkämpfer und sechs Schattenkrieger zusammen, um ihn zu erschaffen.«
»Soweit bekannt«, warf Alex ein. Ein böser Blick von Leonardo brachte ihn sofort wieder zum Schweigen.
»Dem Ganzen gingen lange Verhandlungen voraus, bevor man die zwölf Mächtigsten überzeugen konnte. Es gab Vorbehalte auf beiden Seiten. Außerdem mussten diverse Utensilien beschafft werden, uralte Artefakte, darunter auch der Onyxquader. Kurz und gut: Im Augenblick der Entstehung kam es zu einer Rückkopplung, die die Erschaffer erfasste. Möglicherweise ein Problem mit einem Artefakt, vielleicht ein Fehler im Spruch, ich weiß es nicht. Doch das Resultat bestand darin, dass sich bei jedem ein Teil seines Sigils löste und außerhalb des Körpers manifestierte.«
Jen hielt inne.
Leonardo ließ ein paar Leuchtkugeln entstehen, die unter die Zimmerdecke glitten und die immer größer werdenden Schatten vertrieben. Regen prasselte gegen die Fenster.
»So etwas gibt es? Sigile, die außerhalb des Körpers Form annehmen?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Johanna. »Das ist das Problem. Wir wissen nicht, was genau damals geschah. Die Sigilsplitter verschwanden. Wir dachten alle, dass sie sich mit dem Tod der Magier einfach in einem neuen Erben manifestieren würden. Doch dem war offensichtlich nicht so. Sie erhielten eine physische Form.«
»Das zumindest besagt Joshuas Text«, ergänzte Jen. »Drei Sigilsplitter entstanden, die in ihrer materiellen Manifestation überall auf der Erde versteckt sind. Jeder einzelne trägt ein gewaltiges Machtpotenzial in sich, da ein Magier ihn mit seinem eigenen Sigil verbinden könnte. Dadurch würde er viel mächtiger werden.«
»Ich habe da eine ziemlich böse Ahnung«, murmelte Alex.
»Oh, wir auch, sei dir da gewiss«, kam es von Leonardo. »Die Vermutung liegt nahe, dass die Schattenfrau genau danach sucht.«
»Warum? Woher soll sie davon erfahren haben?«
»Joshua schreibt mehrfach, dass ein Schatten nach den Sigilsplittern greift«, antwortete Jen an Leonardos Stelle. »Vergessen wir nicht, dass sie damals dabei war, als ich zum ersten Mal Bruchstücke der Prophezeiung verkündet habe. Und das ist nicht alles. Jede der Manifestationen trägt neben dem normalen magischen Potenzial eine Besonderheit in sich. Welche, wird nicht erwähnt. Aber in einer Sache war der letzte Seher ziemlich deutlich.« Sie schluckte schwer. »Werden die drei Splitter vereint, entsteht ein neues Sigil daraus. Joshua nennt es: Allmacht. Mit ihm könnte die Schattenfrau den Wall zerstören.«
»Shit«, entfuhr es Alex. »Kein Wunder, dass sie das Archiv versiegelt hat. Vermutlich hätten wir darin Informationen finden können. Hinweise darauf, wo und wie die Splitter zurückgekehrt sind, wo sie sich befinden.«
»Davon gehen wir ebenfalls aus«, gestand Johanna. »Glücklicherweise konnte Leonardo zumindest einen Hinweis aufspüren. Die Details findet ihr in dieser Mappe.« Sie erschuf ein magisches Zeichen, worauf besagte Aktenmappe direkt auf dem Tisch erschien. »Geht der Spur nach. Der Splitter muss sichergestellt werden.«
Alex warf einen Blick auf den vordersten Papierbogen. »Indien?«
»So ist es«, bestätigte Leonardo. »Euer erster Anlaufpunkt ist ein sicheres Haus. Dort wartet Unterstützung. Behaltet euren wahren Auftrag für euch. Offiziell geht es um eine Artefaktbergung.«
»Aye, Sir.« Alex vollführte einen militärischen Gruß.
Leonardo seufzte. »Neuerweckte.«
»Apropos.« Alex wurde sofort wieder ernst. »Warum ich? Die letzten Tage habe ich zwar ziemlich viel Neues gelernt, aber wäre jemand anderes aus dem Team nicht geeigneter?«
»Nun«, erwiderte der Unsterbliche zögerlich, »grundsätzlich hast du da recht. Im Gegensatz zu den anderen hast du jedoch scheinbar eine besondere Gabe.«
»Wie bitte?«
»Du hast davon erzählt, dass das Artefakt im ersten Castillo vor dir zurückgeschreckt ist«, warf Jen ein.
Bei der Erinnerung an die Ereignisse in dem alten Kasten wurde Alex übel. Er hatte seinen Geist in eine uralte Artefaktwaffe versenkt, in der eine bösartige Kreatur gelauert hatte. Noch heute spürte er das gierige Tasten schwarzer Tentakel, sobald er die Augen schloss. Doch aus welchem Grund auch immer: Sein Sigil war verschmäht worden.
»Wir hoffen darauf, dass dein Sigil einen speziellen Schutz besitzt«, erklärte Leonardo. »Daher wärst du für die Bergung der Splitter am besten geeignet. So können wir Nebenwirkungen ausschließen.«
Alex nickte nur. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken, warum das Ding in dem Artefakt so auf die Quelle seiner Macht reagiert hatte. Was war an ihm anders? Dass es da etwas gab, hatte er längst kapiert. »Okay, legen wir los.«
Der Foliant wurde sicher verstaut, die Akte nahm er mit. Minuten später traten sie in das Sprungportal unter dem Haus.
3. Alles, was vom Leben blieb
Eine weitere Kiste schwebte in den Gang. Sie würde den Weg alleine finden; zu den anderen, die darauf warteten, an seine Familie geschickt zu werden. Clara schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.
Gryffs Eltern und Geschwister waren Nimags. Sie stammten aus Irland. Offiziell hatte er eine Stelle bei Europol innegehabt und europaweit Kriminelle gejagt. So weit von der Wahrheit lag das gar nicht entfernt.
Im Sommer hätte sie ihn nach Hause begleitet, um seine Familie kennenzulernen. Kurz vor der Ermordung durch den Wechselbalg hatten sie zaghaft erste Pläne geschmiedet. Doch es war anders gekommen. Niemals würde sie das Bild vergessen: Johanna, die sich über Gryff beugte. Der leblose Körper, der in einer Blutlache lag.
Tränen rannen heiß Claras Wangen hinab. Fahrig wischte sie sie beiseite. Das Mantra ihrer Mutter entstieg den Tiefen ihrer Erinnerung: »Für Schwäche ist kein Platz in dieser Welt.«
Ausnahmsweise gab sie ihr recht. Zu viel geschah. Clara musste Stärke beweisen, jetzt mehr denn je. Dass der Wechselbalg wochenlang Max ersetzt und Kevin nichts davon bemerkt hatte, hatte den Freund völlig aus der Bahn geworfen. Max, auf der anderen Seite, lag noch immer im Heilschlaf.
Sie griff nach den letzten Büchern, verstaute sie im verbliebenen Pappkarton und ließ auch diesen hinausschweben. Das Zimmer war leer. Nichts war von Gryff geblieben. Einzig ein paar Kartons. Nur der Abdruck, den er in ihrer Erinnerung hinterlassen hatte, würde überdauern.
Einen letzten Blick in die Runde werfend, verließ sie den Raum und wandte sich dem Turmzimmer zu. Kurz überlegte Clara, einen Umweg über den Krankenflügel zu machen, doch nach heute Morgen