ich, dass die kleine Verletzung blutete und dass das Blut über mein Kinn heruntersickerte. Ich legte das Rasiermesser weg und wandte mich um, mir ein blutstillendes Pflaster zu holen. Wie der Graf mein Gesicht sah, erglänzten seine Augen in dämonischem Feuer und er tat einen raschen Griff nach meiner Kehle. Ich fuhr zurück und dabei berührte seine Hand die Perlen meines Rosenkranzes. Das erzeugte einen raschen Wandel in ihm, seine Erregung legte sich so rasch, dass es schien, als sei sie gar nicht da gewesen.
»Nehmen Sie sich in Acht«, sagte er, »dass Sie sich nicht schneiden; in diesem Lande ist es gefährlicher als Sie glauben.« Dann ergriff er meinen Toilettenspiegel und fuhr fort: »Und dieses verfluchte Ding ist schuld daran. Es ist ein schlechtes Spielzeug menschlicher Eitelkeit. Fort damit!« Er öffnete das große Fenster mit einem Ruck seiner schrecklichen Hand und warf den Spiegel hinaus, der tief unten auf dem Pflaster des Schlosshofes in tausend Scherben zersprang. Dann ging er weg, ohne ein Wort zu sagen. Es ist mir sehr unangenehm, denn ich muss nun, wenn ich zum Rasieren etwas sehen will, den Deckel meiner Uhr oder den Boden meiner Seifenschale benutzen, die zum Glück von Metall ist.
Als ich in das Speisezimmer hinaustrat, war das Frühstück bereit, aber vom Grafen war nichts zu sehen. So aß ich denn allein.
Es ist merkwürdig, dass ich den Grafen bis heute noch nicht essen oder trinken sah; er scheint überhaupt ein komischer Kauz zu sein. Nach dem Frühstück unternahm ich eine kleine Rekognoszierung8 im Schlosse. Ich trat auf den Flur hinaus und entdeckte ein kleines Zimmer mit wunderbarer Aussicht nach Süden. Das Schloss steht in der Tat am Rande eines furchtbaren Abgrundes. Ein aus dem Fenster geworfener Stein fiele wohl über tausend Fuß tief, ohne irgendwo anzustoßen. So weit das Auge reicht, ein Meer von grünen Baumwipfeln, das nur von Schluchten unterbrochen wird. Da und dort erglänzen wie Silberstreifen Flüsse, die sich in tief eingerissenen Betten durch die Wälder winden. Aber ich bin nicht in der Laune, Naturschönheiten zu schildern. Nachdem ich mich einen Augenblick lang dem Reiz dieser herrlichen Natur hingegeben hatte, setzte ich meine Untersuchung fort. Türen, Türen, Türen überall; alle verschlossen und verriegelt; nirgends ein Ausweg als durch die Fenster.
Das Schloss ist ein Gefängnis und ich bin ein Gefangener!
1 süßer, aus Ungarn stammender Dessertwein von hellbrauner Farbe <<<
2 Als Physiognomik bezeichnet man die »Kunst«, aus dem unveränderlichen physiologischen Äußeren des Körpers, besonders des Gesichts, auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen – also insbesondere dessen Charakterzüge und/oder Temperament – zu schließen. <<<
3 Hampton Court Palace, Palast und ehemalige königliche Residenz im Südwesten von London. <<<
4 Bojaren oder Boljaren waren Adlige unterhalb des Ranges eines Fürsten oder Zaren. <<<
5 Ortschaft in der Grafschaft Essex, England. <<<
6 Aus dem Französischen ›carrefour‹ bzw. ›quatre-face‹. Ein Ortsviertel von Oxford. <<<
7 Kodak stellte bereits früh Rollfilme und ab 1888 auch industriell gefertigte Fotoapparate her, darunter die Kodak Nr.1. <<<
8 Identifizierung, Erkundung <<<
Jonathan Harkers Tagebuch
(Fortsetzung)
Als ich zu der Erkenntnis kam, dass ich ein Gefangener sei, ergriff mich eine Art Raserei. Ich rannte die Stiegen auf und ab, probierte jede Tür und spähte bei jedem Fenster hinaus, das mir erreichbar war; aber bald überkam mich das Bewusstsein meiner vollkommenen Hilflosigkeit. Wenn ich auf die paar Stunden zurückschaue, ist es mir wirklich, als sei ich verrückt gewesen, denn ich benahm mich wie eine Ratte in der Falle. Nachdem ich aber dann die Überzeugung gewonnen hatte, dass meine Lage eine verzweifelte sei, setzte ich mich ruhig nieder – so ruhig, als ich je in meinem Leben etwas getan habe – und sann darüber nach, was nun am besten zu geschehen hätte. Darüber denke ich immer noch nach und bis jetzt zu keinem Resultat gekommen. Eines aber weiß ich gewiss: es wäre vollkommen widersinnig, den Grafen von meinen Plänen etwas merken zu lassen. Er weiß recht wohl, dass er mich gefangen hält; und da er selbst es tut und seine eigenen Beweggründe dafür haben muss, würde er mir höchstens Schwierigkeiten in den Weg legen, wenn ich ihm etwas von meinen Absichten sagen würde. So weit ich es bis jetzt beurteilen kann, ist es das Beste, ich lasse nichts von meinen Erfahrungen und Befürchtungen verlauten und halte die Augen offen. Ich fühle, dass ich entweder von meiner Angst getäuscht werde wie ein kleines Kind, oder aber ich befinde mich in einer verzweifelten Klemme. Und ist dies letztere der Fall, so muss ich, muss unbedingt meinen ganzen Verstand daransetzen, um herauszukommen. Kaum war ich zu diesem Entschluss gelangt, da hörte ich, wie unten die schwere Tür sich schloss, und wusste, dass der Graf heimkam. Da er mich aber nicht in der Bibliothek aufsuchte, ging ich leise in mein Zimmer und traf ihn gerade an, wie er mein Bett in Ordnung brachte. Das war nun sehr merkwürdig, aber es bestätigte mir nur das, was ich mir schon die ganze Zeit gedacht hatte, nämlich dass es keine Dienstboten im Hause gab. Als ich ihn dann durch eine Türspalte das Diner auftragen sah, war ich meiner Sache sicher; denn wenn er diese häuslichen Verrichtungen alle selbst besorgt, so steht doch außer Zweifel, dass er eben niemand dafür hat. Ein jäher Schreck durchfuhr mich, denn wenn niemand im Hause war, dann muss der Graf selbst das Fuhrwerk gelenkt haben, das mich hierher brachte. Ein scheußlicher Gedanke; denn dann hatte er auch Gewalt über die Wölfe, denen er mit einem Wink seiner Hand Stillschweigen gebot. Warum hatten alle Leute in Bistritz und meine Reisegefährten eine so lebhafte Sorge um mich? Was bedeutete es, das man mir das Kruzifix, Knoblauch, wilde Rosen und Ebereschenzweige schenkte? Wie dankbar bin ich der guten alten Frau, die mir den Rosenkranz um den Hals hängte; es ist ein Trost und eine Stärkung für mich, wenn ich ihn berühre. Seltsam, dies Ding, welches ich bisher mit einer gewissen Missachtung als götzendienerisches Symbol zu betrachten gewohnt war, brachte mir nun Hilfe in meiner Einsamkeit und Not. Liegt das in der Beschaffenheit des Dinges selbst oder ist es nur