dürfen. In reichen und vornehmen Häusern auf dem Lande ging man gelegentlich noch um einen guten Schritt weiter, worüber ich anderenorts ausführlicher berichtet habe.
Zwanzig Familien also bildeten die Honoratiorenschaft der Stadt, und aus der Gesamtheit derselben möchte ich in diesem und den zwei folgenden Kapiteln eine bestimmte Zahl von Personen dem Leser vorstellen dürfen.
Da war zunächst der alte Landrat von Flemming, damals ein Funfziger, nach Geburt und Stellung der erste Mann der Stadt und vielleicht auch der beste. Guter alter Adelstypus. Sein Adelsgefühl war von jener eigentümlichen, glücklicherweise häufiger vorkommenden Art, die nie verletzt, so wie es Fromme gibt, deren Frömmigkeit nie bedrückt. Jene Adligen und diese Frommen haben eben nur das Bewußtsein eines inneren Vermögens, still, ohne jede Provokation. Der alte Flemming gehörte zu diesen Bevorzugten; er war vollkommen anspruchslos, eine tief bescheidene Natur, die die sogenannten Gaben nicht mißachtete, aber auch nicht überschätzte und das Gewicht auf die Gesinnung legte. Seine Beziehungen zu den guten Familien der Stadt waren die besten von der Welt. Unter anderen Verhältnissen hätte er es sehr wahrscheinlich vorgezogen, mit seinen Standesgenossen zu leben, aber in Swinemünde gab es deren nicht und in der Nachbarschaft nur sehr wenige. So schloß er sich gesellschaftlich dem an, was da war. Nur in einem nahm er beharrlich eine Sonderstellung ein, wohl mit einer kleinen liebenswürdigen Absichtlichkeit. Das war hinsichtlich des Tischweins. Auf allen Tafeln hielt man streng zum Stettiner Rotwein, der alte Flemming aber bezog ihn direkt aus Bordeaux, was ihm viele Kosten und wenig Dank einbrachte. »Wenn er sich doch zur Stettiner Traube bekehren wollte«, so hieß es oft, ohne daß es geholfen hätte. Seine hinterpommerschen Güter waren verpachtet und wurden erst nach seinem Tode von der Familie wieder übernommen. Er hatte sich spät verheiratet, und sein Haus, dem ein reicher Kindersegen erblühte, tat sich ebenso durch gute Sitte wie durch Herzensgüte hervor. Zwischen seiner Frau und meiner Mutter bestand eine große Liebe, was wohl in gegenseitigem Respekt der Charaktere seinen Grund hatte. Diese besondere Freundschaft führte denn auch zur Stiftung eines »cercle intime«, der eine etwas merkwürdige Zusammensetzung hatte: Landrat von Flemming (Uradel), Rittergutsbesitzer von Borcke (dito), Apotheker Fontane. Hierin lagen denn auch, trotz besten Willens auf beiden Seiten, die Keime raschen Auseinanderfallens, und es kam wirklich über einen ersten Gesellschaftsabend nicht hinaus. Man hatte sich bei Flemmings versammelt, und als es zu Tische ging, reichte der alte Flemming der schönen Frau von Borcke seinen Arm und von Borcke der Frau von Flemming; mein Vater und meine Mutter blieben übrig. »Eh bien, Madame, Dieu le veut«, sagte mein Vater, und beide folgten als drittes Paar. Es kam anderntags zu den aufrichtigst gemeinten Entschuldigungen, ohne daß diese den »cercle intime« wiederhergestellt hätten. Aber auch ohne diesen, die Freundschaft blieb und überdauerte, wie gleich hier erzählt werden mag, unsren Swinemünder Aufenthalt um viele Jahre. Dessen war besonders die silberne Hochzeit meiner Eltern 1844 ein beredter Zeuge. Wir lebten damals in einem großen und reichen Oderbruchdorfe, zwei Meilen von Küstrin, und von uns Kindern war, wohl oder übel, ein Polterabend vorbereitet worden. Die Mama hatte sich zunächst sehr energisch dagegen ausgesprochen, war aber schließlich überwunden worden. Und so kam denn der große Tag heran. Am Spätnachmittage, kurz vor Beginn der Aufführungen – einige von uns waren schon in Kostüm –, fuhr, unter herzhaftem Blasen des Postillons, eine Extrapost bei uns vor, und dem ziemlich klapprigen Wagen entstiegen, nachdem ein Tritt herangerückt war (denn die Wege waren mal wieder grundlos), als erster der alte Landrat von Flemming und hinter ihm her ein zweiter Herr, beide abdeputiert, um dem Silberpaare die Grüße der alten Swinemünder Freunde zu bringen. Sie kamen, wie sich denken läßt, nicht mit leeren Händen, und als wir Kinder das Unsere getan und unser Festspiel beendet hatten, trat von Flemming im Namen der alten Tafelrunde vor und überreichte unter feierlicher Ansprache einen Pokal. Die Freude war groß und aufrichtig. Ein kleines Abendessen folgte dieser Szene, von allerlei Reden begleitet; aber diese Reden und Gegenreden, so viele ihrer waren, reichten doch nicht aus, die langen Abendstunden mit Manier zu füllen, so daß gegen neun der Spieltisch aufgeklappt und eine Partie ganz wie vordem arrangiert wurde. Dies wiederholte sich auch am nächstfolgenden Tage, wo nach dem stattgehabten eigentlichen Festmahle die Verlegenheiten hinsichtlich Unterbringung der Zeit noch um ein erhebliches größer waren. Alles in allem war, als sich Gott sei Dank am Morgen des dritten Tages der Abreisemoment näherte, die Mehrzahl der Stunden am Whisttisch verbracht worden. Und nun kam der Abschied selbst. Wir sahen den beiden Scheidenden unter Tücherwehen eine ganze Weile nach, dann aber nahm mich mein Vater unterm Arm und sagte, während er mit mir auf und ab ging: »Es war sans phrase reizend, aber einschließlich unseres Whist en trois doch etwas kostspielig. Habe wieder ein Erkleckliches dabei verloren. Andrerseits muß ich sagen, es hätte mich doch sehr geniert, wenn ich der Gewinner gewesen wäre. Bedenke nur den Pokal und die Reise! Freilich, merkwürdig ist und bleibt es ... nicht einmal an meinem silbernen Hochzeitstage ... immer dasselbe Pech. Ob es doch vielleicht ein Zeichen für mich sein soll, eine Schicksalsmahnung, es aufzugeben!«
Und wirklich, er gab es auf. Freilich nicht direkt, aber der hier geschilderte Tag war doch ein Wendepunkt, und wenn ich ihn in seinen letzten Lebensjahren besuchte, beglückwünschte er sich regelmäßig zu diesem endlichen Wandel der Dinge und sagte: »Das verdanke ich dem alten Flemming; weißt du noch, damals, als er mir den Pokal brachte.«
Frau von Flemming war eine geborene Königk. Ihr Vater starb früh, aber ihr Oheim lebte noch in den hier von mir zu schildernden Tagen. Es war das der alte Steuerrat Königk. Er nahm neben Landrat von Flemming wohl die erste Stellung ein, so wenigstens erschien es mir, was übrigens möglicherweise nur darin seinen Grund hatte, daß ich, infolge von vielen noch aus der Zeit der Kontinentalsperre herrührenden Geschichten, vor jeglichem, was mit Steuer und Douane zusammenhing, einen großen Respekt hegte. So war einer dieser Geschichten nach, ich glaube im Jahre neun, der Versuch gemacht worden, eine Schiffsladung voll Vanille einzuschmuggeln, selbstverständlich eine Sache von sehr bedeutendem Wert. Die Douane kam indessen dahinter und belegte die ganze Ladung mit Beschlag. Aber nicht das allein, auch vernichtet mußte die Ladung werden, und so wurden denn Hunderte von Vanillekisten auf dem großen Marktplatz übereinander geschichtet und angezündet. Dies geschah zufällig bei nebligem Wetter, und so kam es denn, daß der die Flamme niederdrückende Nebel die Stadt einen ganzen Tag lang in eine Vanillen-Atmosphäre hüllte. Wo so was vorkommen konnte, da spielte die Steuer natürlich eine Rolle. – Steuerrat Königk war ein Herr von sehr feinen Sitten, ernst und liebenswürdig zugleich, dabei voll Geistesgegenwart. Einmal in eine Gesellschaft geladen, wurde er aufgefordert, sich an den Spieltisch zu setzen. Das erste, was er sah, waren ungestempelte Karten. Er erhob sich einfach von seinem Platz und ging in das Nebenzimmer, um da mit den Damen zu plaudern. Die Karten verschwanden natürlich sofort. Königk, als wir nach Swinemünde kamen, war schon mehrere Jahre lang Witwer und lebte zurückgezogener als andere. Von seinen beiden Söhnen aber war der ältere dann und wann auf Besuch im väterlichen Hause. Dieser ältere, Karl, hatte sich dem Baufach gewidmet und bekleidete zuletzt ein Direktorialamt (Betriebsdirektor) an der Anhalter Eisenbahn. Er beschloß seine Tage in einer kleinen Stadt am Harz. Der jüngere Bruder, Louis, führte ein eigentümlich wechselvolles Leben. Er war stark in die Demagogenbewegung verwickelt und hatte Festungshaft zu verbüßen. Als er wieder freikam, kam auch er vorübergehend ins väterliche Haus, und ich entsinne mich seiner aus jener Zeit her sehr wohl. »Er war für Freiheit und kam auf die Festung«, in diese Lapidarworte faßte mein Vater die Situation zusammen, und ich meinerseits war voller Teilnahme, weil ich in dem Ganzen etwas Heldenmäßiges und Opferfreudiges sah, das mir als solches imponierte. Von seinem Lebensausgang erfuhr ich später das Folgende: Mitte der dreißiger Jahre ging er als Erzieher zu den Kindern eines Grafen Bninski; dort war er lange Zeit, wurde Freund des Hauses und sprach nur oft den Wunsch aus, daß er auf dem Swinemünder Kirchhofe begraben sein möchte. Daß sich dies erfüllen würde, war ihm selber sehr zweifelhaft. Aber es erfüllte sich doch. Er wurde nervenkrank und sollte, nach ärztlichem Rat, zu seiner Wiederherstellung in ein Seebad. Er wählte natürlich Swinemünde. Da starb er und ruht nun da, wo er zu ruhen wünschte.
Ein anderer aus der Honoratiorenschaft war Hofrat Dr. Kind, wenn ich recht berichtet bin, ein Neffe des Freischützdichters Friedrich Kind. Er war mit einem Fräulein Valentini verheiratet, einer Schwester des um jene Zeit als Universitätslehrer in Berlin lebenden italienischen Professors Valentini. Das damals erst aufblühende Swinemünder Seebad