Stephen England

PANDORA (Shadow Warriors)


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nicht zerstören konnten, verbarg sich hinter ihren Mauern. Fürwahr, sie hatten viele Angriffe in der Geschichte überstanden und waren am Ende stets siegreich geblieben.

      Bis heute.

      Er schob die Tür seines Hauses auf und spähte auf die menschenleeren Straßen hinaus. Straßen, auf denen früher einmal Gelächter und das emsige Treiben der Händler erklungen hatte. Straßen, auf denen er selbst als Kind spielte, vor so vielen Jahren.

      Er war der Letzte. Der letzte Bewohner von Rhodaspes. Der letzte Überlebende. Es war ein seltsames Gefühl. Er warf sich den kleinen Sack auf seine Schulter und lief um das Haus in eine der kleinen Seitengassen, wo sein Pferd auf ihn wartete. Früher hätten seine Diener das Pferd für ihn gesattelt, aber diese Tage waren vorüber. Jetzt waren sie tot, so wie alle anderen. Der Gestank des Todes stieg ihm in die Nase, als er sein Pferd bestieg und es zu einem langsamen Trott antrieb, mit dem er auf die Tore der Stadt zuritt.

      Tot.

      Alles begann vor ein paar Monaten, vor drei Monaten, um genau zu sein. Es schien unmöglich, dass dieses Maß der Zerstörung in so kurzer Zeit erreicht werden konnte, aber so war es.

      Und alles nur wegen eines einzigen Mannes. Eines Fremden. Eines Engels des Todes. Sie hätten ihn auf der Stelle erschlagen und seinen fiebrigen Körper vor die Tore der Stadt werfen sollen. Das alles wäre besser gewesen als das, was ihm folgen sollte.

      Er war gestorben. Und nach ihm die Familie, die ihn bei sich aufgenommen hatte. Dann ihre Nachbarn und danach ihre Freunde. Die gesamte Stadt. Eine Strafe der Götter.

      Verflucht für eine Tat, die sie für einen Akt der Gnade hielten. Erst viel zu spät wurde ihnen klar, dass sie damit ihren Untergang besiegelt hatten.

      Er hatte geglaubt, es aufhalten zu können. Jeden Tag besuchten sie den Feuertempel und flehten Ahura Mazda für seinen Schutz und um seine Gnade an. Doch die Götter schwiegen. Niemand antwortete ihnen.

      Die Flügel des mächtigen Doppeltores, welches Rhodaspes jahrhundertelang verteidigt hatte, standen nun sperrangelweit offen. Das mit Messing verzierte Holztor schimmerte wie Feuer in der Morgensonne und hatte die Stadt stets davor bewahrt, niedergebrannt zu werden. Nun war es nutzlos geworden. Es gab nichts mehr, das man hätte verteidigen können. Er war der letzte Überlebende.

      Die Bürger der Stadt hatten damit begonnen, ihre Toten zu begraben, in riesigen, offenen Gräbern. Von diesem Moment an wusste Adar, dass sie keine Gnade erfahren würden. Es war schändlich, die Leiber auf diese Art zu bestatten. Seit Jahrhunderten – nein, Jahrtausenden – wurden ihre Toten in die »Türme der Stille« gebettet, wo ihre Seelen ungestört in den Himmel hinauffahren konnten, während ihr Fleisch von den Aasgeiern verzehrt wurde, den gleichen Aasgeiern, die nun ihrer Nahrung beraubt über ihm kreisten.

      Er passierte das Tor, dann trieb er sein Pferd zum Galopp an. Er war ein alter Mann und nun war er auf der Flucht. Er floh vor etwas, von dem er wusste, dass er ihm nie entkommen würde. Dem Zorn der Götter …

      Auftakt

       Eine archäologische Ausgrabungsstätte, Elburs-Gebirge, Iran, 13. September, heute

      Er hatte das Böse an diesem Ort vom ersten Moment an spüren können, als er hier eingetroffen war. Etwas Greifbares, etwas, das man beinahe riechen konnte.

      Und nun hatte es sich in dem Leichnam des jungen Mannes zu seinen Füßen zu erkennen gegeben. Ein junger Mann? Eher fast noch ein Kind. Einer der College-Studenten, die ihm in dieses gottverlassene Land gefolgt waren, weil sie die Chance ihres Lebens witterten. Die Chance ihres Lebens …

      Der Israeli richtete sich auf und drehte sich zu den wenigen Übriggebliebenen um. »Er ist tot«, verkündete er nüchtern das Offensichtliche.

      »Wieso – ich meine, was ist passiert?«

      Er sah in die hellgrünen Augen der jungen Frau vor ihm, Augen, in denen jetzt Tränen standen. Sie war kurz davor zusammenzubrechen. Wie sie alle. Irgendwie musste er sie zusammenhalten. Irgendwie …

      »Ich habe keine Ahnung, Rachel«, antwortete er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Wie ist es mit dir, Grant?«

      Der achtundfünfzigjährige Geschichtsprofessor aus Princeton schüttelte den Kopf. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Er schwieg für einen Moment. »Wo sind die anderen, Dr. Tal?«

      Moshe Tal antwortete ihm nicht sofort. Sein Verstand versuchte noch immer zu sortieren, was sie an diesen Punkt gebracht hatte. Die Jahre harter Arbeit in Israel, an anderen Projekten – Hazor, Masada, Baalbek. Lauter Fußnoten in seinem Leben, auf dem Weg, der ihn hierher geführt hatte. Unbedeutend, verglichen mit dieser Entdeckung.

      Rhodaspes, die Königin des Ostens – eine Stadt, deren Bergfeste unglaubliche Reichtümer barg, ein persisches Petra.

      Rhodaspes, die Uneinnehmbare, obwohl sie sogar für kurze Zeit von niemand Geringerem als Alexander dem Großen auf seinem Weg nach Indien belagert worden war.

      Rhodaspes, eine Stadt, die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts verlassen wurde, urplötzlich und auf mysteriöse Weise, als hätte Gott persönlich ihre Bewohner in alle Winde verstreut. Die einheimischen Farsi hielten diesen Ort für verflucht. Niemand wusste wieso. Es war, als …

      »Ich fragte, wo sind die anderen, Dr. Tal?«

      Grant Petersons Stimme holte ihn in die Realität zurück. In das gegenwärtige Dunkel.

      Wortlos deutete Moshe den Gebirgspfad hinunter zu dem Massengrab, dort, wo alles seinen Anfang genommen hatte. Über dessen Rand konnte man einige der starren Körper hinausragen sehen. Die Leichen der restlichen Archäologen.

      Er hätte es von jenem Moment an wissen müssen, als sie auf das Grab stießen. Sie hätten es als ein Omen für das Böse ansehen sollen, welches dem Fund folgen sollte.

      Die Bewohner von Rhodaspes begruben ihre Toten nicht. Sie waren Zoroastrier und für sie stellte ein solcher Brauch eine Schändlichkeit dar. Ganz zu schweigen von einem Massengrab.

      Ihn schauderte. Wenn er nichts unternahm, würde sein Team ihnen bald Gesellschaft leisten. Er drehte sich zu dem jungen Mann neben sich um, dem letzten noch lebenden Collegestudenten. »Häng' dich ans Funkgerät, Joel. Wir müssen Teheran benachrichtigen.«

      Joel Mullins schluckte nervös. »In Ordnung«, erwiderte er, froh, etwas zu tun zu haben. »Schon unterwegs.«

      Moshe kehrte in sein Zelt zurück. Ihm blieb keine andere Wahl. Er musste nun schnell handeln, bevor er zu geschwächt sein würde und bevor die Iraner hier eintreffen und die Wahrheit herausfinden würden …

      

       14. September, Cancún, Mexiko

      Es war fünf Minuten nach Mitternacht, als Angelo Calderon aus dem Nachtklub trat, den er besucht hatte. Das Wetter war wie vorhergesagt, mit einer leichten Brise, die vom Meer heranwehte und die Nacht auf warme 24 Grad abkühlte. Ihm blieben noch drei Minuten zu leben.

      Perfekt, dachte der Mann, der im Schatten neben dem Parkplatz lauerte und ihn beobachtete. Der Drogenbaron wurde von zwei Leibwächtern flankiert, die beide halbautomatische Pistolen in Holstern an ihren Hüften bei sich trugen. Calderon würde zweifellos ebenfalls bewaffnet sein. Er klappte das kompakte Nachtsichtgerät zusammen, steckte es in eine der Innentaschen seiner Jacke und folgte ihm, wie ein Jäger seiner Beute.

      Calderon atmete tief die frische Meeresluft ein, ließ sich von ihr durchdringen. Noch achtundvierzig Stunden und der Deal wäre unter Dach und Fach. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Vor fünf Jahren war sein ältester Sohn von Agenten der U.S.-Border-Patrol getötet worden, die mit den Federales zusammengearbeitet hatten. Jetzt war die Zeit für seine Rache gekommen.

      Junge Menschen, darunter viele in Strandkostümen, huschten um ihn herum, während seine Leibwächter sich durch die Menschenmenge drängten.