wurden von ihren Trägern ungern gehört und pflegten eine tätliche Abwehr nach sich zu ziehen. Die Gôgen unterschieden sich nach ihrer ganzen Wesensart, vor allem aber nach den eigentümlichen Kehllauten ihrer Aussprache und einer gedehnten Betonung, die etwas Mürrisch-Verbissenes an sich hatte, so stark von den übrigen Einwohnern, daß manche sie geradezu für Nachkommen eines zugewanderten Fremdvolkes hielten und daß es zwischen der oberen und der unteren Stadt wie ein unsichtbarer Stachelzaun lag. Als tüchtige Taglöhner unentbehrlich, machten sich diese Mitbürger durch ihre eingeborene tiefe Abneigung gegen die Höhergestellten und ihren ausgeprägten Sinn für den eigenen Vorteil, mehr noch durch ihren wortkargen, aber äußerst schlagenden Mutterwitz, der nicht immer von der reinlichsten Art war, gefürchtet. Auf eine Gôgenrede konnte niemand mehr einen Trumpf setzen, außer ein anderer Gôg. Unzählige Gôgenworte und -witze waren und sind in Tübingen im Schwang. Am berühmtesten ist das einsilbige Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn, wie sie zusammen die steilen Weinberghalden des Österberges hinansteigen und dem Jungen ein herrenloser Schubkarren auf einem Nachbargrundstück in die Augen sticht, auf den er den Vater durch einen stummen Wink aufmerksam macht. Worauf der Alte nur die zwei lakonischen Worte erwidert: Im Ra! (Im Herabsteigen!) Oder die zungenschnelle Frage des Berliner Studenten an den pfeifenrauchenden Weingärtner: Kann ich von Ihnen Feuer haben, ja? Und die nachdrücklich-langsame Antwort des alten Gôgen: Airscht (erst), wenn i ja sag’.
Das Straßenbild von Tübingen beherrschte der Couleurstudent, besonders der Angehörige der paukenden Korporationen. Diese standen bei den Ausritten und Aufzügen im studentischen Wichs, bei den Tanzvergnügungen, den glänzenden Fackelzügen und überhaupt im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben obenan. Ihre Iliaden und Odysseen füllten die ungeschriebenen Annalen der Stadt. Jedes Kind wußte, was für Mensuren in laufender Woche ausgefochten wurden, welches Dorfwirtshaus, welches Gehölz dazu ausersehen war, wie viele Abfuhren es gab, mit wieviel Nadeln der jeweils Zerhackte vom Paukarzt genäht wurde. Wenn es den Paukanten gelang, den armen Pedell, der sie abzufassen hatte und der zu diesem Zweck den weiten Weg atemlos auf Schusters Rappen angaloppiert kam, durch ihre ausgestellten Fuchsenwachen irrezuführen und das unterbrochene Opferfest an einer anderen Stelle des Waldes fortzusetzen, so war es ein Triumph der guten Sache, woran die ganze Stadt teilnahm. Unsterblich war die immer wieder auftauchende Geschichte von der abgehauenen Nasenspitze, die der Hund gefressen hatte. Die vererbten Feindseligkeiten oder vorübergehenden Spannungen zwischen gewissen Farben wurden mit der gleichen Wichtigkeit behandelt, wie heute die Beziehungen der Großstaaten untereinander. Sogar die jungen Mädchen nahmen Partei, je nachdem ihre Brüder oder bevorzugten Verehrer der oder jener Couleur angehörten. Der historische Gegensatz zwischen Korps und Burschenschaften, der längst kein grundsätzlicher mehr war, aber noch als Abneigung fortbestand, mußte auch gesellschaftlich stets berücksichtigt werden.
Getrunken wurde, wie ich niemals wieder habe trinken sehen. Größere Helden des Suffs finden sich auch im „Gösta Berling“ nicht. Die Zahl der Schoppen, die für eine Fuchsentaufe nötig sein sollte, wage ich nicht zu nennen; über die bei diesem Vorgang angewandten Zwangsmaßregeln gingen gruselige Gerüchte. Selbst bei Tanzvergnügungen konnte es vorkommen, daß ein Partner plötzlich nicht mehr salonfähig war und daß aus den Reihen der Kommilitonen ein Ersatzmann gestellt werden mußte. Schande war keine dabei, sie behaupteten ihr Ansehen auch noch in diesem Zustand. Nur wer sich im Schnaps berauschte, wie es den Norddeutschen bisweilen einfiel, statt im landesüblichen Gerstensaft oder Wein, der galt für wirklich lasterhaft.
Dabei sprach es doch für die Gutartigkeit dieser ausgelassenen Jugend, daß tätliche Ausschreitungen gegen die Nebenmenschen äußerst selten waren. Unser Haus am Marktplatz hatte nach damaliger Sitte keine Korridortüren auf den einzelnen Stockwerken, aber obwohl im Untergeschoß ein Studentencafé lag und die Haustür deshalb fast die ganze Nacht offen stand, fühlte man sich doch in seinem Zimmer völlig sicher. Nur eines Abends kam unsere schon betagte Josephine voller Unwillen aus ihrer Dachkammer zurückgestürzt, denn sie hatte in ihrem Bett einen unbekannten Schläfer gefunden. Es war ein Student, der in tiefer Verdunkelung die fremden Treppen als seine eigenen erstiegen und sich ohne weiteres zur Ruhe gelegt hatte. Meine Brüder, damals schon selber Studenten, hatten alle Not, den Unerwecklichen wieder die lange Treppe hinunter und ins Freie zu schaffen.
Abseits von dieser Burschenherrlichkeit trieben die „Stiftler“ ihr halbklösterliches, eigenbrötlerisches Wesen. Es waren dies Stipendiaten, die, von klein auf zur theologischen Laufbahn bestimmt, erst in den niederen Seminarien, dann im Tübinger evangelischen Stift, einem ehemaligen Augustinerkloster, für ihren Beruf herangebildet wurden. Obgleich sie durch ihre Halbklausur und vielfache Beschränkungen, denen sie unterworfen waren, gesellschaftlich hinter den glücklicheren Stadtburschen zurückstanden, bildeten sie unter ihrem unscheinbaren und häufig ungeleckten Äußeren so etwas wie eine geistige Auslese des Landes und trugen viel zu der besonderen Physiognomie der Tübinger Universität bei. Kein Auswärtiger kann zur Kultur des Schwabenlandes und zu seinen großen Söhnen in ein näheres Verhältnis treten, wenn er sich nicht eingehend mit dem Geiste des Tübinger Stifts und seinen Einrichtungen vertraut gemacht hat. Aus dieser Anstalt ging ja bekanntlich die größte Zahl der führenden Geister Alt-Württembergs hervor. Und zwar pflegte entsprechend der Doppelbegabung des Stammes ein guter Jahrgang je einen Dichter und einen Philosophen gleichzeitig zu bringen: Hölderlin und Hegel, Mörike und Strauß, meinen Vater und Ed. Zeller. Gelegentlich wuchsen die großen Geister im Stift sogar büschelweise wie in der sogenannten „Geniepromotion“, der auch Friedrich Vischer angehörte. Der Mehrzahl der Stiftler ging aber die einseitige Erziehung lebenslang nach. Mit einem äußerst prall gestopften Schulsack verbanden sie häufig die größte Unkenntnis des wirklichen Lebens und jenes linkische Ungeschick der äußeren Welt gegenüber, das man in Schwaben mit dem Wort „stiftlermäßig“ bezeichnet. Bei den schematischeren Köpfen gesellte sich noch leicht eine geistige Selbstsicherheit hinzu, die alles, was nicht auf ihrem eigenen Boden gewachsen und ihnen darum fremdartig war, als minderwertig betrachtete. Mancher der Besten hielt es nicht bis zum Ende aus und entwand sich so oder so dem Zwange. Ehemalige Stiftler trugen deutsche Wissenschaft in alle Lande und waren als Lehrer wie als Erzieher gleich sehr gesucht. Die Daheimgebliebenen nahmen späterhin hervorragende Kirchen- und Schulämter ein, sie verewigten den Stiftlerschlag, indem sie ihn weiterzüchteten, und gaben dem ganzen schwäbischen Geist etwas von ihrem Gepräge ab. Durch sie vor allem kam in die hohe geistige Kultur des Schwabenlandes jene unausfüllbare Kluft zwischen der Weite und Tiefe des inneren Lebens und der äußeren Formlosigkeit, die nicht selten bis zur bewußten Verachtung des Schönen ging.
In dem ehrwürdigen Klosterbau an der oberen Neckarhalde mit seinen Kreuzgängen, Höfen und Gärtchen hauste dieser besondere Menschenschlag beisammen. Dort studierten, aßen, schliefen sie, ständig überwacht, in Zimmern, die ihre altvererbten Namen und die überlieferten Erinnerungen an die früheren Bewohner festhielten. In meines Vaters Nachlaß fand ich eine von unbekannter Hand in Versen geschriebene Szenenfolge, die eine nächtliche Entweichung des sonst so fügsamen Mörike aus dem Stift unter dem Beistand dunkler Mächte dramatisch darstellt. Man pflegte sich, wenn man die Nacht außerhalb des Stiftes verbringen wollte, an einem langen Seil in den „Bärengraben“ hinabzulassen, um auf der anderen Seite durch einen befreundeten Stadtburschen hochgezogen zu werden. Wurde die Abwesenheit entdeckt, so stand auf der unerlaubten „Abnoktation“ eine Note. Eine gewisse Zahl solcher Noten bedingte die Ausschließung von der Anstalt. Zu meiner Zeit aber war die Verweltlichung schon so weit gediehen, daß die Stiftler sogar farbentragenden Verbindungen angehören konnten, soweit diese nicht dem verpönten Paukkomment huldigten. Auch waren sie auf allen Bällen unter den eifrigsten und bescheidensten, wenn schon nicht immer unter den gewandtesten Tänzern.
Noch einen Schritt weiter abseits vom studentischen Treiben standen die Zöglinge des katholischen Seminars, die Konviktoren, auch „Haierle“ (Herrlein) genannt, meist Bauernsöhne aus dem schwäbischen Oberland, die schon durch ihr langes schwarzes Gewand, aber mehr noch durch ihre oberschwäbische Mundart und ihr ganzes weltfremdes Auftreten von der übrigen akademischen Jugend abstachen. Auch aus dieser Anstalt sind bedeutende Persönlichkeiten hervorgegangen.
Neben dem „Stift“ und mit ihm verbunden lag die „Hölle“, das einstige Wohnhaus des „Höllen-Baur“, jenes berühmten, um seiner Bibelkritik willen viel angefochtenen Theologen. Er hatte