Isolde Kurz

Aus meinem Jugendland


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daß die Christine ein Verbot übertreten hatte. — Armes Kind, sagte mein Mütterlein, du hättest es noch lange nicht erfahren sollen. Aber jetzt ist es heraus. Ja, es ist wahr, die Menschen sterben. — Aber doch nicht alle, Mama? — Ja, Kind, alle. — Sie hielt mich im Arme, wie um mich zu schützen und zu trösten, ich war aber mit dem Gedanken noch lange nicht so weit. — Aber doch du nicht, Mama? — Ich auch, Kind. Alle. — Aber der Papa doch nicht? — Auch der Papa. — Also vielleicht auch ich? — Auch du, aber erst in langer, langer Zeit. Wir alle erst in langer Zeit. — Und man kann gar nichts dagegen tun? Es muß kommen? — Gar nichts, Kind, es muß kommen, aber jetzt noch lange nicht.

      Das war mir durchaus kein Trost. Die lange Zeit, von der sie sprach, war in diesem Augenblick schon vorüber. Ein schwarzer, furchtbarer Abgrund ging auf, der alles verschluckte. Ja, wenn es doch kommen mußte, dann lieber gleich, als diese lange dunkle Erwartung. Ein plötzlich eintretender Zufall schien mir lange nicht so schauerlich wie dieses unausweichliche „Später“. Dennoch wirkte die Mitteilung nicht eigentlich überraschend. Es war mir, als hörte ich da etwas, das ich zuvor schon gewußt, aber wieder vergessen hätte. Ich dachte fortan oft über das Sterben nach, und die Unerbittlichkeit des Vorausbestimmten erfüllte mich mit immer neuem Grausen: Also einmal muß es sein, jeder Tag bringt mich dem letzten Ziele näher. Und wenn ich mich unter das Kleid der Mama verkröche, es würde mir doch nichts nützen. Und wenn ich sogar zum Papa ginge, auch er könnte mir nicht helfen. Niemand, niemand kann mir helfen, ganz allein stehe ich dem Furchtbaren gegenüber — dem Tod! Dabei war mir zumute, als befände ich mich in einem langen, engen Gang, wo kein Entrinnen, keine Umkehr möglich, und am Ende des Ganges, da warte es auf mich, das Rätselhafte, Unbegreifliche; ich aber müsse immer weiter, so gerne ich stehenbliebe, unaufhaltsam, Schritt für Schritt bis zum gefürchteten Ausgang. Natürlich wurde trotz dem unheimlichen „Später“ fortgerollt, als wäre alles wie zuvor, und niemand erfuhr, was in dem kleinen Seelchen vorging. Aber mitten im Spielen schlug es zuweilen herein: Trotz alledem — es wird doch einmal ein Tag kommen, wo ich kalt und starr daliege, wo ich selber eine Leiche bin. Das Wort behielt mir auf lange hinaus etwas unsäglich Widriges und Abscheuliches, es haftete ihm schon ein Geruch wie von Verwesung an.

      Auch das gehört für mich zu den Rätseln der Kinderseele, daß mir die Entdeckung des Todes als des allgemeinen Schicksals so neu und überwältigend war, während ich doch ganz frühe schon das mannigfachste Lesefutter, und gewiß nicht immer auf das dunkle Geheimnis hin gesichtet, in die Hände bekam. So las ich seit langem in einem Bande „Pfennigmagazin“, der in der Kinderstube lag, Geschichten und Abhandlungen über alle möglichen Dinge wahllos durcheinander; die Tatsache des Sterbenmüssens hatte ich schlechterdings übersehen. Wahrscheinlich ist der kindliche Geist nicht imstande, die Erscheinungen zu verknüpfen und zu verallgemeinern. Es gibt ja auch Negerstämme, die jeden Todesfall immer wieder als dämonischen Einzelvorgang betrachten, auf den sie mit Teufelsaustreibung antworten, damit er sich inskünftig nicht mehr wiederhole.

      Im Lernen konnte unser gutes Mütterlein, das selber einen nie zu stillenden Wissenstrieb besaß, uns zwei Älteste nicht schnell genug vorwärts bringen. Einzig für das Rechnen, das ihr selber nicht allzu geläufig war, wurde ein junger Hilfslehrer aus Eßlingen angestellt, ein bäurischer Mensch, der den unachtsamen Alfred etwas derb mit dem schweren Taschenmesser auf die Fingerknöchel klopfte und sich sogar einmal gegen Edgars junge Majestät verging, so daß Mama ihn entrüstet wieder entließ. Davon hatte ich den Schaden, weil ich gerade im Bruchrechnen stehen blieb, das die Brüder später in der Schule fortsetzen konnten, während ich in der ganzen Arithmetik, für die ich zuerst eine gute Fassungskraft gezeigt hatte, nicht mehr weiter unterrichtet wurde und somit in den Zahlen für immer schwach blieb. Alle anderen Fächer übernahm sie selber, und wir machten ihr das Lehren leicht. Sie besaß kein wirkliches Lehrtalent, weil alles Methodische ihrer Natur aufs tiefste widerstrebte, wie ich auch glaube, daß diese Apostelseele für keines der vielen irdischen Geschäfte, denen sie sich allen willig unterzog, so recht eigentlich geboren war. Ihr natürliches Amt war einzig, höheres Leben entzünden, wachhalten und verbreiten. Keine Mühe war ihr dafür zu groß: neben unserem Unterricht und den häuslichen Geschäften führte sie noch begabte Dorfmädchen ins Französische und in die Literatur ein. Schon hatte sie auch die Anfänge des Lateinischen in unsere Stunden aufgenommen. Ihre eigenen in der Jugend erworbenen Kenntnisse kamen ihr dabei zustatten, und wir holten sie allmählich munter ein. Über grammatische Schwierigkeiten halfen beiden Teilen die lustigen Reimregeln weg:

      Was man nicht deklinieren kann,

      Das sieht man als ein Neutrum an, usw.

      So blieb das Lernen immer ein Spiel unter anderen Spielen. Wir übersetzten kleine Übungsstückchen aus dem „Middendorf“, lasen eine Seite in L’Hommonds „Viri Illustres“ und verfertigten sogar gereimte Knittelverschen in unserem Suppenlatein, alles mit dem gleichen Vergnügen, mit dem wir die uns überlassenen Rabatten anpflanzten, auf hohen Erntewagen fuhren, den ländlichen Pferden und Ochsen auf den Rücken kletterten, den Nachbarinnen beim Ausgraben der Kartoffeln halfen oder auf langen Spaziergängen, wobei man barfuß in kleinen Seen und Pfützen quatschen durfte, für Edgars Aquarium Salamander und Kaulquappen fingen. Das schönste aber war, im offenen Neckar zu baden, an seinen Weidenufern die ausgeworfenen Muschelschalen zu sammeln, in denen man sich die Farben anrieb, oder seine niedere Furt unter Josephinens Führung mit hochgeschürzten Kleidern zu durchwaten, um dann jenseits im Sirnauer Wäldchen sich auszutollen. Der eigentümliche Geruch des fließenden Süßwassers, der an den Neckarufern besonders stark war, hat sich mir aufs tiefste eingeprägt und erregt mir, wo ich ihm begegne, ein unbeschreibliches Jugend- und Heimatgefühl. In dem sonnbestrahlten, silbern rieselnden Neckar verehrte ich ein beseeltes höheres Wesen. Ich warf ihm ab und zu ein paar Blumen oder eine Handvoll glitzernder Perlen aus meiner Perlenschachtel hinein, und wenn ein Fisch aufhüpfte, schien mir das irgendwie ein gutes Zeichen. Er hatte aber auch noch ein anderes dämonisch wildes Gesicht, das ich schaudernd noch mehr liebte: dort an der nach Eßlingen führenden bedeckten Brücke, die wir das Wasserhaus nannten, verbreiterte sich sein Lauf für mein Auge ins Unermeßliche. Unter den Pfeilern schüttelte er wilde braune Locken, schnaubte und rüttelte an dem Bau, daß ich wie gebannt stand und kaum von der Brücke wegzubringen war. Am geheimnisvollsten aber erschien er mir in Eßlingen selber, wohin wir oft durch das alte Wolfstor pilgerten. Dort stand ich in dem befreundeten Haus die ganze Zeit am Fenster und sah auf die stille Flut hinunter, die die Rückseite des Gebäudes unmittelbar bespülte. Ich war dann, während die Mütter auf dem Sofa saßen und Kaffee tranken, in Venedig, sah schwarzgeschnäbelte Gondeln, die ich aus Abbildungen kannte, und Marmorpaläste in feierlicher Pracht.

      In meiner Vorstellung ist es in Obereßlingen immer Sommer gewesen. Wie es möglich war, uns während der langen Wintermonate in den engen Räumen zu halten, ist mir nicht erinnerlich. Unsere Lebhaftigkeit mag die dichterischen Gebilde, mit denen sich unser Vater trug, schwer genug beeinträchtigt haben und war die Ursache, daß er den Tag über nur selten das Kinderzimmer betrat, ja nicht einmal die Mahlzeiten mit der Familie teilte. Deshalb tritt auch seine Gestalt in meinen frühen Erinnerungen wenig hervor; sie wandelt nur manchmal ernst und hoheitsvoll über den Hintergrund.

      O die Sommerseligkeit, als man selber noch nicht höher war als die reifen sonneduftenden Ähren, zwischen denen man sich durchwand, um die blauen Kornblumen und die flammend roten Mohnrosen herauszuholen. Wenn ich noch einmal nachempfinden könnte, was das Kinderohr bei den Schillerschen Versen:

      Windet zum Kranze die goldenen Ähren,

      Flechtet auch blaue Zyanen hinein —

      an Fülle des Seins genoß! Die güldenen Halme, das satte Blau und Rot der Blumen sahen mich daraus noch schöner an, durch einen tiefen Goldton aus der Farbenschale der Poesie verklärt. Damals waren die Worte der Sprache keine rein geistige Sache, es haftete ihnen noch eine köstliche Stofflichkeit von den Dingen, die sie bezeichnen, an. Ich lebte und webte um jene Zeit in den Schillerschen Balladen. „Die Götter Griechenlands“, „Die Klage der Ceres“, „Kassandra“ und vor allem „Das Siegesfest“ waren mir die liebsten. Ihr glockenartiger Klang bezauberte mich, während ihre Gegenstände meine innere Welt bevölkerten. Selbst ein rein philosophisch gerichtetes Gedicht wie „Das Ideal“ und „Das Leben“ war mir schon in meiner Frühzeit völlig geläufig und sogar ganz besonders