Marcel Proust

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen


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Gern hätte ich geantwortet: »Aber dann sehe ich doch Ihre Tochter nicht wieder, lebe unter Dingen und Menschen, die sie nie gesehen hat.« Allein meine Vernunft sagte mir: ›Was macht das aus, da du nicht traurig darüber sein wirst? Wenn Herr Swann dir sagt, du wirst nicht wiederkommen, so meint er damit, du wirst nicht wiederkommen wollen, und daß du nicht willst, bedeutet, du wirst glücklich da unten sein.‹ Was Gewohnheit vermag, wußte meine Vernunft: sie – die jetzt die Aufgabe übernehmen sollte, mich die unbekannte Behausung lieben zu lehren, mich darauf zu bringen, den Spiegel umzustellen, die Vorhänge zu ändern, die Uhr anzuhalten –, befaßt sich auch damit, Leute unserer Umgebung, die wir nicht leiden konnten, uns lieb zu machen, Gesichtern ein anderes Aussehen, Stimmen einen sympathischen Klang zu geben und Neigungen der Herzen zu modifizieren. Sicher ist neue Freundschaft für Orte und Menschen verknüpft mit dem Vergessen der alten; aber meine Vernunft meinte, ich könne ohne Furcht ein neues Leben ins Auge fassen, in dem ich von Wesen, die ich aus dem Gedächtnis verlieren würde, getrennt sein sollte, und geradezu als Trost gab sie dem Herzen das Versprechen, ich werde vergessen; dieser Trost aber war zum Verzweifeln. Gewiß wird auch das Herz, wenn die Trennung vollzogen ist, durch Gewohnheit unempfindlich, aber bis dahin hat es weiter zu leiden. Und die Furcht vor einer Zukunft, in der wir unsere Lieben nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihnen sprechen werden, was doch heute unsere größte Freude ist, diese Furcht nimmt nicht ab, wenn wir denken, wir werden die Entbehrung nicht als Schmerz empfinden, werden gleichgültig sein. Nein, wenn sich solch ein Gedanke unserem Schmerz zugesellt, wird unsere Furcht noch größer. Dann wird, so fürchten wir, unser eigenes Ich sich geändert haben, dann wird uns nicht nur die beglückende Gegenwart unserer Eltern, der Geliebten, der Freunde fehlen, sondern auch unser Gefühl für sie. Das wird völlig aus unserm Herzen gerissen sein, von dem es doch heut einen beträchtlichen Teil ausmacht, wir werden uns an einem Leben ohne die Lieben erfreuen können, einem Leben, dessen bloße Vorstellung uns heute entsetzlich ist; das wird ein richtiges Sterben des Ich sein, ein Sterben, dem Auferstehung allerdings folgt, aber in einem andern Ich, das die Teile des alten Ich nicht liebgewinnen können, die zu sterben verurteilt sind. Diese Teile – selbst die geringfügigsten, wie die undeutliche Anhänglichkeit an Raummaße und Atmosphäre eines Zimmers – erschrecken und sträuben sich, und in ihrem Widerstand zeigt sich deutlich fühlbar ein heimlicher, partieller Modus des allgemeinen Widerstandes gegen den Tod, des langen, verzweifelten, tagtäglichen Widerstandes gegen das bruchstückweise unablässige Sterben, wie es sich in die ganze Dauer unseres Lebens einfügt, in jedem Augenblick Stücke von uns loslöst, deren Abtötung neuen Zellen Raum, sich zu mehren, gibt. Bei einer nervösen Natur, wie der meinen, das heißt einer Natur, bei der die Vermittler, die Nerven, ihre Funktionen schlecht ausüben – sie halten die Klage der geringsten Elemente, die aus dem Ich verschwinden, auf ihrem Wege zum Bewußtsein nicht auf, lassen sie vielmehr deutlich, erschöpfend und schmerzhaft immer von neuem vor – bei meiner Natur war der Schauder vor dem zu hohen unbekannten Plafond nur der Protest der in mir noch weiterlebenden Freundschaft zu einem vertrauten niederen Plafond. Sicherlich würde diese Freundschaft verschwinden, wenn eine andere an ihren Platz träte, (dann haben Tod und neues Leben, unter dem Namen Gewohnheit, ihr doppeltes Werk vollendet), aber bis zu dieser Vernichtung litte sie jeden Abend und besonders an diesem ersten, denn nun stand sie einer schon verwirklichten Zukunft gegenüber, in der es keinen Platz für sie gab, nun empörte sie sich und marterte mich mit ihrem Jammergeschrei, so oft meine Blicke, die sich von dem, was sie verletzte, nicht abwenden konnten, auf dem unzugänglichen Plafond zu ruhen versuchten.

      Aber am nächsten Morgen! – man hatte mich geweckt und mir Wasser gebracht – während ich nun Toilette machte und in meinem Koffer, aus dem ich nur einen Haufen unnützer Dinge kramte, vergebens suchte, was ich brauchte, welch eine Freude, mit der Lust auf Frühstück und Spaziergang, im Fenster und in allen Vitrinen der Bibliothek wie in den Luken von Schiffskabinen das nackte Meer zu sehen, unbeschattet und doch mit der einen Hälfte seines Umfangs, den eine dünne, bewegliche Linie begrenzte, im Schatten, und mit den Augen den Wellen zu folgen, die eine hinter der andern sprangen wie Akrobaten auf dem Sprungbrett. Alle Augenblicke ging ich, in der Hand die harte, gestärkte Serviette, auf der der Name des Hotels stand – unnütz waren meine Versuche, mich damit abzutrocknen – wieder ans Fenster und warf einen Blick auf den weiten, blendenden, bergig ansteigenden Zirkus, auf die Schneegipfel seiner Wogen aus glanzgeflecktem, durchsichtigem Smaragdgestein, die mit friedlicher Gewalt und gerunzelten Löwenstirnen ihre Abhänge im Sonnenlicht, das ohne Antlitz lächelte, zusammenstürzen und zu Tal fahren ließen. An dieses Fenster sollte ich in der Folgezeit jeden Morgen treten wie an die Scheibe einer Postkutsche, in der man geschlafen hat, und nun schaut man hinaus, ob während der Nacht die ersehnte Gebirgskette sich genähert oder entfernt hat – hier waren es die Hügel des Meeres, die, eh sie tanzend wieder zu uns kommen, weit zurückweichen können: oft sah ich erst hinter einer langgestreckten Sandebene ihre ersten Kräuselwellen in durchsichtiger, bläulich dunstender Ferne wie Gletscher auf dem Hintergrund von Bildern primitiver Toskaner. Ein andermal lachte die Sonne ganz nahe bei mir auf Fluten, die zart grün waren wie Alpenmatten, deren Farbe (auf Bergen, wo hier und da Sonne gleich einem Riesen lagert, der lustig in großen und kleinen Sätzen die Halden hinunterspringt) feuchter Boden und mehr noch flüssig bewegtes Licht frisch erhalten. Das Licht spielt, nebenbei bemerkt, in dieser Bresche, die Strand und Flut schlägt, um es durchzulassen und anzuhäufen, im Anordnen und Umgruppieren der Wellenfläche die Hauptrolle. Die Beleuchtung schafft ebensoviel Abwechslung in einer Landschaft, setzt uns ebenso begehrenswerte Ziele wie eine lange Reiseroute, die wir wirklich zurücklegen. Wenn morgens hinter dem Hotel die Sonne hervorkam und vor mir den beglänzten Strand bis zu den ersten Ausläufern des Meeres auftat, war es, als zeige sie mir einen andern Abhang dieser Berge und lade mich ein, auf der drehenden Bahn ihrer Strahlen, ohne mich zu bewegen, weit durch die schönen Stätten zu reisen im immer neuen Lande der Stunden. Vom ersten Morgen an wies die Sonne mit strahlendem Finger auf die blauen Gipfel der See in der Ferne, die auf keiner Landkarte einen Namen haben, und dann barg sie sich taumelig von der hohen Wanderung über die dröhnende, chaotische Oberfläche von Wellenkämmen und Wellenstürzen in meinem windgeschützten Zimmer, machte sich breit auf dem zerwühlten Bett, streute ihre Schätze über den nassen Waschtisch, den offenen Koffer, und in diesem Glanz, dieser Lichtverschwendung, die hier nicht am Platze war, sah alles noch unordentlicher aus. Der Wind vom Meer fehlte leider eine Stunde später meiner Großmutter, als wir im Speisesaal beim Frühstück saßen und aus der Lederflasche der Zitrone Goldtropfen auf unsere Seezungen spritzten, von denen bald nur noch ein Grätengewölbe übrigblieb, kräuselnd wie eine Feder und gebogen wie eine tönende Zither; es quälte sie, nicht die belebende Brise zu fühlen: die geschlossenen Fenster trennten uns wie eine Vitrine vom Strande, den wir doch ganz übersehen konnten; so völlig drang der Himmel in die Fenster ein, daß sein Azur ihre Farbe und seine weißen Wolken ein Fehler im Glase zu sein schienen. Ich aber bildete mir ein, ›auf einer Mole zu sitzen‹ oder tief in dem ›Boudoir‹, von dem Baudelaire spricht, und fragte mich, ob seine ›Sonne strahlend über die See‹ – zum Unterschied von dem einfachen, schmal zitternden Goldstreif der Abendsonne – nicht die war, die jetzt das Meer brannte, wie einen Topas, es gären machte, blond und milchig wie Bier und schäumend wie Milch, indes bisweilen hier und dort große, blaue Schatten darüber glitten, die ein Gott, der im Himmel einen Spiegel drehte, zum Spaß zu verschieben schien. Leider war das Aussehen nicht der einzige Unterschied zwischen dem ›Saal‹ in Combray, der auf die Häuser gegenüber ging, und dem Speisesaal von Balbec, diesem nackten, wie ein Schwimmbecken grünlich durchsonnten Raum, vor dem in einem Abstand von ein paar Metern die hohe Flut und der helle Tag einen unzerstörbaren, beweglichen Damm aus Smaragd und Gold aufführten wie vor der Himmlischen Stadt. In Combray kannten uns alle, da brauchte ich mich um niemand zu kümmern. In einem Badeort kennt man nur seine Nachbarn. Ich war noch nicht alt genug und zu empfindlich, um dem Verlangen zu widerstehen, den Leuten zu gefallen und sie für mich zu gewinnen. Ich hatte nicht die vornehmere Gleichgültigkeit eines Mannes von Welt gegenüber den Leuten, die im Speisesaal frühstückten, und den jungen Männern und Mädchen, die am Strande vorüberkamen. Ich litt darunter, daß ich nicht mit ihnen Ausflüge machen konnte. Da hätte meine Großmutter, welche die gesellschaftliche Etikette verachtete und nur um meine Gesundheit sich kümmerte, sie erst bitten müssen, mich auf ihre Spaziergänge mitzunehmen, und das wäre demütigend für mich gewesen. Wenn sie in eine fremde Villa gingen oder aus ihr kamen, um sich mit dem Rakett in der Hand auf einen