Claudia Torwegge

Mami Staffel 6 – Familienroman


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Meine Mami könnte mir einen Zettel hinlegen und das Geld und dann hole ich alles, was wir brauchen.«

      »Kannst du denn schon lesen, kleines Fräulein?« staunte er.

      »Nicht so ganz«, gab Amelie zu. »Aber bald komme ich in die Schule und dann lerne ich lesen und schreiben.«

      »Soso, du kommst bald in die Schule«, sagte er und schüttelte verwundert den Kopf.

      »Ja, nächstes Jahr schon, Herr Peters«, entgegnete Nina.

      »Du meine Güte, wie die Zeit vergeht! Ich kann mich erinnern, wie Sie die Kleine im Kinderwagen gefahren haben, Frau Mertens – das ist doch noch gar nicht so lange her!«

      »Und nun ist sie bald ein Schulkind!« scherzte Nina. Sie bezahlte und verabschiedete sich. Es waren wirklich nur wenige Schritte bis zu dem Haus, in dem sie wohnten, und Amelie lief fröhlich singend neben ihrer Mutter her.

      Sie ist ein fröhliches, ausgeglichenes Kind, immer lieb und gut aufgelegt, dachte Nina dankbar.

      »Du wolltest mir doch von deinem Bild erzählen«, erinnerte sie die Kleine. »Was hast du denn Schönes gemalt?«

      »Einen ganz, ganz tollen Urwald mit hohen Bäumen und Schlingpflanzen und Affen und Papageien und sogar mit einer Schlange!« berichtete Amelie.

      »Einen Urwald! Wie toll! Aber wie kommst du denn darauf?« wollte Nina wissen.

      »Weil doch mein Vater im Urwald ist. Deshalb«, erklärte die Kleine.

      Nina schluckte. Was sollte sie darauf antworten?

      »Soso, dein Vater ist im Urwald«, sagte sie, weil ihr im Moment nichts anderes einfiel.

      »Das hast du selber gesagt. Du hast gesagt, er ist wahrscheinlich irgendwo im Urwald und dort gibt es keine Post. Stimmt’s?«

      Amelie sah ihre Mutter mit einem treuherzigen Blick an.

      »Kann schon sein«, sagte Nina ausweichend. Sie schloß die Haustür auf und wäre drinnen in dem halbdunklen Flur beinahe mit einer männlichen Gestalt zusammengestoßen.

      »Oh, Verzeihung!« sagten beide fast gleichzeitig. Amelie drückte auf den Beleuchtungsknopf, und das Treppenhauslicht leuchtete auf.

      »Ach, Sie sind es!« sagte Nina, als sie den jungen Mann erkannte, der momentan in Friedhelm Brückners Wohnung lebte.

      »Ja, ich bin’s«, erwiderte er, und sie mußten beide lachen.

      »Kennt ihr euch?« fragte Amelie und musterte den unbekannten Mann mit gerunzelter Stirn.

      »Ja, wir kennen uns gut«, entgegnete der junge Mann. »Wir haben schon zusammen Dreck weggeputzt.«

      »Dreck weggeputzt?« fragte Amelie und rümpfte die Nase. »Igitt…!«

      »Genau. Und wer bist denn du, kleines Fräulein?« erkundigte er sich freundlich.

      »Ich bin Amelie. Amelie Mertens«, erklärte sie und deutete

      auf Nina. »Und das ist meine

      Mutter. Wir wohnen hier. Und du?«

      »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie schon eine so große Tochter haben«, wandte er sich an Nina. Er musterte die beiden prüfend. »Obwohl, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Amelie sieht Ihnen sehr ähnlich. Nur die Farbe ihrer Augen ist anders als Ihre.«

      »Sie sind ein guter Beobachter«, meinte Nina. Er zuckte mit den Schultern.

      »Das ist mein Beruf«, gab er zurück. »Ich habe mal Medizin studiert.«

      »Ach so, Sie sind Arzt«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf.

      »Ich wäre es gerne. Aber es ist heutzutage schwierig, eine Anstellung als Arzt zu bekommen. Und eine eigene Praxis einzurichten, das kann ich mir nicht leisten. So arbeite ich als Pharma-Vertreter, bis ich auf eine meiner vielen Bewerbungen eine positive Antwort bekomme. So ist das eben.«

      »Mami, komm, ich möchte nach Hause«, drängelte Amelie, der das Gespräch schon zu lange dauerte. Doch der junge Mann machte keine Anstalten, weiter zu gehen. Er stand und sah Nina unverwandt an, konnte den Blick nicht von ihr lösen. Ihr wurde es heiß und kalt unter seinem Blick, und sie war, sie wußte selber nicht wieso, völlig verwirrt. Sie sah ihn an, und für einen winzigkleinen Moment tauchten ihre Blicke ineinander, ließen sich wieder los.

      Er hat schöne Augen, mußte sie denken. Strahlendblaue Augen. Und wie er mich ansieht.

      Ninas Herz pochte so laut, daß sie glaubte, er müßte es hören.

      »Mami, nun komm doch endlich«, drängte Amelie ungeduldig, die schon ein paar Stufen hochgegangen war.

      Der junge Mann trat zögernd beiseite. Man merkte ihm an, daß er ihre kurze Begegnung liebend gerne noch länger ausgedehnt hätte.

      »Tja, dann müssen Sie wohl gehen, Frau Mertens«, meinte er und dachte: Sicher wartet ihr Mann auf sie. Es ist ja ziemlich unwahrscheinlich, daß eine so reizende, junge Frau keinen Lebensgefährten hat.

      »Dann müssen Sie wohl gehen, Frau Mertens«, wiederholte er, und so etwas wie Enttäuschung und Ernüchterung klang aus seiner Stimme. Dann wandte er sich an Amelie: »Du hast es ja so eilig, kleines Fräulein. Wartet da oben schon jemand auf dich? Bestimmt dein Vater, nicht wahr?«

      Amelie schüttelte heftig den Kopf.

      »Nein, da oben wartet niemand. Mein Vater ist im Urwald«, antwortete sie. »Und er ist schon lange fort! Sehr lange.«

      Verwirrt sah er Nina an, als erwartete er eine Erklärung. Doch mit einem gemurmelten »Entschuldigung« huschte sie an ihm vorbei. Erst, als sie oben in ihrer Wohnung war, fiel ihr ein, daß sie nun immer noch nicht wußte, wie der junge Mann eigentlich hieß. Und noch etwas ließ sie nicht los: der Blick, mit dem er sie so unverwandt angesehen hatte, dieser Blick aus seinen tiefblauen Augen.

      »Er hat wirklich schöne Augen«, sagte sie mehr zu sich selbst, als sie in der Küche das Abendbrot richtete. Wunderschöne, strahlendblaue Augen, so wie Amelie sie hatte. Und – wie Ulf sie gehabt hatte…

      *

      »Mami, bei uns im Kindergarten sind viele Kinder krank. Sie müssen zu Hause bleiben und im Bett liegen. Auch die Inge«, teilte Amelie ihrer Mutter mit.

      »So? Was haben sie denn?« fragte Nina beunruhigt.

      »Och, ich weiß nicht. Vielleicht Fieber oder so was«, antwortete die Kleine. Schon am nächsten Tag bekam Nina einen Anruf der Leiterin des Kindergartens.

      »Frau Mertens, ich muß leider den Kindergarten für ein paar Tage schließen. Es tut mir leid, gerade Ihnen das sagen zu müssen, denn ich weiß ja, daß Sie berufstätig und alleinerziehend sind.«

      »Aus welchem Grund müssen Sie denn schließen?«

      »Einige meiner Schützlinge sind krank geworden, und es sieht fast so aus, als ob es etwas Ansteckendes wäre. Die kleinen Patienten haben ziemlich hohes Fieber mit Schüttelfrost, Hautausschlag, Übelkeit und Erbrechen. Deshalb ist es mir lieber, die Kinder bleiben solange zu Hause, bis die akute Gefahr vorüber ist. Es ist natürlich nicht meine Entscheidung alleine, sondern der Sanitätsrat vom Gesundheitsamt ist der gleichen Meinung«, fügte sie hinzu.

      »Das ist sehr vernünftig«, meinte Nina. »Nicht auszudenken, wenn sich alle Kinder anstecken würden. Den Symptomen nach, die Sie mir schildern, scheint es eine ernste Sache zu sein.«

      »Das kann man wohl sagen«, seufzte Tante Helga, die Kindergartenleiterin. »Amelie geht es hoffentlich noch gut?«

      Nina warf einen Blick in Amelies kleines Kinderzimmer, wo das Mädchen auf dem Fußboden saß und hingebungsvoll mit ihrer Puppenstube spielte. Ein Lächeln flog über ihre Züge.

      »Ja, es geht ihr gut«, antwortete sie. »Was soll’s, dann macht sie eben ein paar Tage Ferien zu Hause.«

      Doch – wie sollte sie es organisieren, daß die Kleine