Christine von Bergen

Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman


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diese Lebensfreude sollte man sich nicht nehmen lassen. Auch nicht durch seinen Beruf.« Dann lehnte er sich wieder zurück und speiste mit genüsslicher Miene weiter.

      Damit waren sie bei dem Thema, das Nicole immer mehr beschäftigte, seit sie im Schwarzwald war.

      »Ich habe nur diesen einen Beruf«, sagte sie zu ihrer eigenen Verblüffung offen und direkt. »Ich tanze. Ich habe nichts anderes gelernt.« Sie biss sich auf die Unterlippe, scheute noch davor zurück, sich Daniel gegenüber, den sie kaum kannte, so zu offenbaren. Doch dann brach es aus ihr hervor.

      »Ich tanze seit meinem fünften Lebensjahr. Schnell entdeckte man mein Talent. Da war meine Mutter nicht mehr zu halten. Für sie stand fest, dass ich den Traum leben sollte, den sie geträumt hat. Mama wollte Eiskunstläuferin werden. Das hat nicht geklappt. Als ich älter wurde, kannte sie nur noch ein Ziel: mich auf die Bühne zu bringen. Deshalb durfte ich kein Abitur machen, obwohl ich gut in der Schule war. Ich wollte Jura studieren. Schließlich habe ich so gerade eben die Mittlere Reife geschafft. Ich musste ja ständig trainieren. Mama hat neben ihrem Job noch Putzstellen angenommen, um meine Karriere zu finanzieren. Jetzt bin ich Primaballerina. Eine jedoch, die vor Kurzem auf der Bühne zusammengebrochen und binnen weniger Stunden durch eine andere, noch unverbrauchte und jüngere Tänzerin ersetzt worden ist.«

      Sie schluckte. Dann nahm sie den Bierkrug und trank einen tiefen Schluck.

      *

      Daniel hatte ihr fasziniert zugehört. Ihre grazilen Gesten, ihre melodische Stimme, die zum Schluss immer härter, ja, verbittert, geklungen hatte und diese wunderschönen Augen, die er bisher nur mit einem traurigen, müden Ausdruck kannte, welcher jedoch immer mehr einem starken Glanz Platz gemacht hatte, der Nicoles innere Stärke verriet, zogen ihn in ihren Bann. In diesem fragilen und zugleich sehnigen Körper steckte eine starke Persönlichkeit, die leider seit vielen Jahren diese innere Stärke gegen sich selbst, gegen die eigene seelische und körperliche Gesundheit einsetzte. Wie gut kannte er all das!

      »So, jetzt weißt du Bescheid«, hörte er sie in seine Gedanken hinein sagen, die ihm in Bruchteilen einer Sekunde durch den Kopf schossen. Ihr Lächeln dabei, dieses zerbrechliche Lächeln, berührte sein Herz –, wie die ganze Frau vom ersten Blick an sein Herz berührt hatte. Sie war schön. Und heute Abend ganz besonders. Das schwarze Shirt betonte ihre helle makellose Haut und ihr Haar, das das Licht der untergehenden Sonne einfing. Über diese äußere Vollkommenheit hinaus strahlte sie jedoch etwas aus, was ihm viel mehr bedeutete: Ihre innere Schönheit.

      Er räusperte sich. Dann zwang er sich zu einem fröhlichen Lächeln.

      »Ja, jetzt weiß ich Bescheid«, nahm er ihre Worte auf, um wieder zu sich selbst zu finden.

      »Wie hast du es gemacht?« Ihr Blick suchte seinen, hielt ihn fest, wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Er zwang ihn zu einer ausführlichen Antwort auf ihre Frage.

      Bevor er dazu kam, sie Nicole zu geben, stand die Kellnerin neben ihrem Tisch. »Noch ein Bier?«, fragte sie Er sah Nicole an. Sie zögerte sichtlich. Dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, und sie nickte entschlossen.

      »Dessert?«, erkundigte sich die ältere Frau.

      »Haben Sie denn Schwarzwälderkirsch?«, erkundigte er sich.

      »Freilich. Wir sind doch im Schwarzwald«, lautete ihre Antwort. Dabei lachte sie über beide Wangen.

      »Ich nehme ein Stück.«

      »Zwei?« Die Bedienung wandte sich an Nicole.

      »Kann ich auch nur ein kleines haben?«, fragte diese zu seiner Verblüffung.

      »Das passt schon.« Die Kellnerin entfernte sich.

      Freude breitete sich in seinem Herzen aus. Hatte er vielleicht schon ein kleines bisschen bei dieser jungen Frau, die auf ihn so unglücklich wirkte, bewegt? Und während er sie ansah, breitete sich diese Freude in seinem gesamten Innern aus, erfüllte ihn und wärmte ihn. Er war sich sicher, dass dieses Gefühl sich auch in seinem Lächeln niederschlug, mit dem er Nicole ansah.

      Ihre Blicke berührten sich, verweilten miteinander. Mehrere Herzschläge lang. Dabei kam eine Vertrautheit zwischen ihnen auf, als ob sie sich schon jahrelang kennen würden. Gern hätte er in diesen Augenblicken Nicoles Hand ergriffen. Doch das wagte er nicht. Die Zeit war dafür noch nicht reif. Wusste er, ob sie ähnlich empfand wie er? Suchte auch sie den Körperkontakt zu ihm als Ausdruck dafür, dass sie sich verstanden, dass vieles sie miteinander verband? Darüber hinaus jedoch begehrte er sie auch als Frau. Begehrte sie ihn als Mann?

      *

      Nicole hielt den Atem an. Diese Augen. Der Blick traf wieder genau in ihre Seele. Sie und Daniel hatten etwas gemeinsam: Die gleiche Lebenserfahrung. Aber nicht nur das. Niemals zuvor hatte sie sich von einem Mann derart fasziniert gefühlt. Wann hatte sie überhaupt zum letzten Mal einen Mann kennengelernt, der nichts mit dem Ballett zu tun hatte? Sie wünschte sich, Daniel würde nicht so nah vor ihr sitzen. Denn sie war sich ihrer Weiblichkeit auf eine völlig ungewohnte Weise bewusst, was sie durcheinanderbrachte.

      Immer noch tanzten ihre Blicke miteinander, einen wiegenden, langsamen Tanz, der sie erregte und gleicherweise entsetzte. Und während sie sich in die Augen sahen, verwandelte sie sich in einen anderen Menschen, begann ein anderes Leben. Ein Leben, das viel aufregender war als ihres, das ihr eine magische Erfahrung schenkte, die sie schwindelig machte.

      Sie riss sich los aus diesen Empfindungen, senkte den Kopf und verschränkte die Finger ineinander, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

      Wo waren sie stehen geblieben?

      »Wie hast du es gemacht?«, wiederholte sie.

      »Was?« Daniel sah sie an, als wäre er gerade aus einem Traum aufgewacht.

      Sie musste lächeln. Ob es ihm gerade ähnlich ergangen war?

      »Wie hast du den Absprung vom Hochleistungssport geschafft?«

      »Durch ein Schlüsselerlebnis, das ich dir nicht wünsche.«

      Sie hob die Brauen.

      Der Zauber war gebrochen. Sie begann zu frösteln, obwohl dieser Abend sehr warm war und die Hitze des Tages immer noch unter dem grünen Blätterdach der riesigen Kastanien hing.

      »Willst du mir davon erzählen?«, fragte sie leise.

      Er nickte. »Ein Sportkollege ist in meinen Armen gestorben. Tödliche Verletzung. Kurz vor seinem Tod hat er zu mir gesagt, dass er nicht gelebt, dass er so viele Träume noch gehabt hätte, so vieles nach seiner Sportkarriere hätte machen wollen.« Er holte tief Luft. »Dieser Abschied hat mich verfolgt, selbst nachts in meinen Träumen. Wer weiß besser als wir, wohin der Ehrgeiz uns führen kann. Der Ehrgeiz will mehr und mehr und kann nie genug bekommen. Da habe ich mich gefragt, welche Träume ich eigentlich habe. Und mit einem Mal, über Nacht, wusste ich, dass ich aufhören musste. Wie immer im Leben ergab sich zeitgleich zu meiner inneren Läuterung auch etwas von außen. Toni gab sein Sportgeschäft auf, in dem meine Mutter immer schon ausgeholfen hat. Tja, und da stand für mich fest, ich will leben. Endlich einmal richtig leben mit allem, was dazugehört.«

      Daniel beendete seine Geschichte mit dem Lächeln, das an diesem Abend für sie die Sonne noch einmal aufgehen ließ.

      Sie trank einen Schluck Bier. Dann fragte sie mutig: »Und was gehört dazu? Ich meine, um richtig zu leben?«

      Er legte die Unterarme auf den Tisch, verschränkte die Finger ineinander und beugte sich vor.

      »Was für mich dazugehört?« Sein Blick fesselte ihren.

      »Ja, für dich.«

      »Eine Frau, die ich liebe und begehre und die mich liebt und begehrt. Kinder, vielleicht zwei oder drei, ein schönes Zuhause, ein Hund oder zwei, ein Beruf natürlich, der die Familie ernähren kann. Ich bin jemand, der Sicherheit braucht. Frieden und Harmonie.«

      Sie schluckte. Das klang wie das Paradies auf Erden. Und genau diese Antwort gab sie Daniel auch.

      »Ja, wir sind hier,