gegriffen, gedrückt und gehorcht, ob ja kein Wasser drinnen ist. Erst als erwachsene Frau begriff ich, dass du missgebildet warst und nicht überlebensfähig. Die Leute im Dorf haben später zu mir gesagt: „Ja, dei Vater hat halt det schue gschpunnen. Vielleicht hat dejs ’s Liesele geerbt kejt.“
Wie schön wäre es gewesen, wenn ich eine um ein Jahr jüngere Schwester gehabt hätte! Ob auch du mit mir nach dem Tod von Mama zur Bäuerin gekommen wärst? Die andere Halbschwester, Tates Kind bei der Magd, bin ich erst mehr als sechzig Jahre später suchen gegangen. Zu groß war dieses Tabu.
Liesele, Franzele, Loisele, alle drei seid ihr tot. Ihr seid „Engelen“, hat man gesagt. Diese ziehen die Mütter in den Himmel hinauf, wenn das Jammertal zu schwer auf ihnen lastet. Liesele, du und die Brüder, ihr habt die Mama viel zu früh hinaufgezogen. Das große Elend kam erst nachher. Vielleicht hat euch auch Mamas Totgeburt des ersten Kindes nach der Hochzeit geholfen, sie in den Himmel hinaufzuziehen. Im achten Monat schwanger, ist die Mama durchs „Schopploch“ in den Stall hinuntergefallen. Ein hoher Blutverlust die Folge. Die Mama lang krank, trotzdem im Jahr darauf wieder schwanger.
Jedes Jahr ein Kind, ein schizophrener Mann, die viele Arbeit und dann noch du, Liesele. Für dich hat die gesunde Substanz nicht mehr ausgereicht. Liesele, meine kleine Schwester, nur das Wort Wasserkopf ist bis jetzt von dir geblieben. Heute spüre ich zum ersten Mal einen Strom Zärtlichkeit für dich.
Am See kommt leichter Wind auf. Die Wellen spielen miteinander Fangen. Die große Schwester beginnt zu lachen.
„Wie gut, dass die Mama so viel Humor gehabt hat. Ich weiß noch gut, wie sie wieder singen und pfeifen angefangen hat. Als dein Vater eine Zeitlang in der Landesheil- und Pflegeanstalt war und sie die Alte vor die Tür gesetzt hat, ist endlich wieder der Humor bei ihr durchgekommen. Sie hat auch sehr gut Witze erzählen können. Wenn unserer Mama ein Witz eingefallen ist, hat sie alles liegen und stehen lassen und ist den Steig bis zum Hohen Haus hinaufgelaufen und hat den Nachbarn durch das offene Küchenfenster ihren neuesten Witz erzählt. Weil sie eine laute Stimme hatte, haben die anderen Nachbarn auch mithören können. Ihren Lieblingsnachbar hat sie mitten in der Nacht holen können, wenn es bei der Geburt eines Kalbes Probleme gab.“
„Am Sonntagnachmittag hat sie sich ins Bett gelegt. Sie hat sehr gern Liebesromane gelesen. Vielleicht hat sie das Lesen auch mir vererbt. Einmal sollten das Hannele und ich, während sie im Bett gelesen hat, auf die ‚Pipelen‘ im Freigehege aufpassen. Aber wir sind auf den Kirschbaum gestiegen und haben die reifen Kirschen gegessen. Als die Mama aufgestanden ist und in den Hühnerhag geschaut hat, hat sie laut zu weinen angefangen, weil eine Ratte den Drahtzaun durchgebissen und allen Pipelen beim Genick das Blut ausgesaugt hat. Das ist eins der wenigen Bilder, die mir von der Mama geblieben sind: sie, vor dem Hühnerhag weinend, und alle Pipelen tot. Jahre danach habe ich mich noch geschämt, wenn dieses Bild in mir aufgestiegen ist.“
„Am schlimmsten war es für sie, wie sie das vierzehnjährige Hansele geholt haben. Wir waren in der gleichen Klasse und ich bin sehr erschrocken, wie die Alte ihn während der Schulstunde abgeholt hat. Sie ist direkt mit ihm zum Zug und mit ihm in das Dorf zu seiner Tante gefahren. Später sollte er deren Bauernhof erben. Der Oberlehrer muss es gewusst haben, denn er hat es geschehen lassen. Es war mitten im Heumahd. Aber der Mama hat niemand etwas von der Aktion gesagt. Ich weiß noch gut, wie sie geschrien hat: ‚Sou lang han ih ihn kennen in Arsch oputzn, iats, weil er mir a Hilf war, tien sen weck.‘ “
Bald darauf kommt der Brief vom Abt des Klosters. Der Ärger wird haushoch. In dem Brief wird der Mama mit Herbst die Pacht gekündigt. Kein Mann mehr am Hof, nicht einmal ’s vierzehnjährige Hansele. Der Mama wird eine Wohnung über dem Klosterschweinestall und Mitarbeit in der Klosterlandwirtschaft angeboten. Sie nimmt den Brief, läuft direkt zum Abt ins Kloster. Dem Abt verschlägt es Stimme und Gehör. Im Dorf sagen die Leute: „Ma hat se bis in Kloaschtergartn oche schreien kheart.“ Die Kündigung wird zurückgezogen. Die Mama kann mit ihren drei Mädchen auf dem Hof bleiben.
Die Klosterkirche ist innen bereits renoviert. Während des Krieges waren rund um das Grab der Landesfürsten Hunderte Südtiroler Aussiedler untergebracht. Ob der Boden in Südtirol zu heiß geworden war oder sie „heim ins Reich“ wollten, für viele endete die Reise knapp vor dem Hochaltar. So manch einer spähte im Dorf nach einem Mädchen und hatte Glück dabei.
Vor dem Krieg gab es im Dorf vor allem „Schwarze“, zu erkennen am Besuch des Sonntagsgottesdienstes, oder heimliche „Nazi“. Während des Krieges waren die „Nazi“ öffentlich, die „Schwarzen“ heimlich. Zum Gottesdienst gingen viele trotzdem. Nach dem Krieg gab es keine „Nazi“ mehr, nur Heimkehrer, die ihre Pflicht getan hatten. „Kleaschterer“, Klosterbewohner, gab es vor und nach dem Krieg. Die Patres wurden nach der Besetzung Österreichs durch Hitler bis auf den Dorfpfarrer vertrieben.
Die Frauen unterstützten ihre Männer oder schwiegen.
„Sozi“ gab es noch keine im Dorf. Sie kamen erst mit dem Bau der neuen Siedlung zwischen Straße und Eisenbahn.
Das Dorf hält den Atem an. Bei einer Gemeinderatswahl eine kommunistische Stimme! „Dejs kann lei der Zuezochne in Bahnwärterhäusl sein“, vermuten die Leute. Kommunisten sind gefährlich. „Dia gloubm gar nicht“, heißt es.
Das Dorf ist geprägt vom Lauf des Kirchenjahres.
Das Kind geht jetzt zur Schule.
Dieses Jahr darf das Kind zur Weihnachtsmette mitgehen. Zum ersten Mal betritt es die Stiftskirche im Kloster. Es ist wie ein Märchen, die ganze Kirche eine Schatztruhe aus Gold und Edelsteinen, gleich am Anfang ein Gitter mit lauter schmiedeeisernen, bemalten Rosen. Mit Herzklopfen geht das Kind mit der Mama durch das bereits offen stehende Tor. Leise Orgelmusik, goldverzierte Gestalten, Engel mit Flügeln, bunte Bilder an den Wänden, von der Kirchendecke grüßt freundlich die heilige Maria mit dem goldenen Apfel in der Hand, um ihren Kopf ein Kranz von zwölf Sternen. Ein eigenartig süßer Geruch, der dem Kind fast den Atem nimmt, erfüllt die Kirche. „Pass au, dass nit stolpersch, und mach dei Maul wieder zue“, flüstert die Mama dem Kind ins Ohr und zeigt zu den Mädchenbänken vorne links vom Altar im Mittelschiff. Das Kind drängt sich in die erste Reihe. Die Augen beginnen ihm zu tränen, das Kind glaubt, im Himmel angekommen zu sein, fehlt nur noch das genügend Bravsein. Ein roter Teppich bedeckt den Boden des Altarraumes. Doch nicht genug. Ein langer, roter Teppich liegt vor dem Altar, an den verschnörkelten Chorstühlen der Patres entlang bis zum Hochaltar ganz vorne im Hauptschiff der Kirche. Durch ein schmiedeeisernes Tor, das die Geistlichkeit normalerweise von den Menschen trennt, kommt der erste Ministrant. Er hält ein großes Kreuz hoch, auf dem der tote Jesus hängt. Eine lange Schar rot gekleideter Ministranten folgt ihm, der Zeremonienmeister an ihrer Seite. Es folgen die Novizen und die Patres. Dem Kind bleibt der Atem stehen. Durch das schmiedeeiserne Tor schreitet der Abt des Klosters. Er neigt seinen Kopf, damit die Mitra nicht am Tor hängen bleibt. Über der Alba trägt er ein goldbesticktes Messgewand, goldglänzende Schuhe, weiße Handschuhe mit einem goldenen Ring am Finger. Ein Pater nimmt ihm die Mitra ab. Darunter hat er eine kleine, runde, weiße Kappe auf. Ob er darunter kahlgeschoren wie der Tate ist?
Die Orgel ertönt laut, die Glocken läuten, alle stehen auf. „Dominus vobiscum.“ – „Et cum spiritu tuo.“ – „Oremus …“ Die fremde Sprache klingt im Ohr des Kindes. So hat der Abt bestimmt nicht mit der Mama geredet, als sie mit dem Kündigungsschreiben ins Kloster gelaufen ist und ihm „das Maul“ angehängt hat. Das Kind schüttelt den Kopf. Es kann nicht glauben, dass dieser himmlische Bote, viel prachtvoller als der heilige Nikolaus, derselbe Abt gewesen sein soll.
Alle knien nieder. Der Abt setzt sich. Am besten gefallen dem Kind die goldbestickten Schuhe, die weich wie Patschen sind. Das Kind trägt daheim Wollsocken mit aufgenähter Ledersohle.
Die Leute im Mittelschiff und die Kinder in den Seitenbänken dürfen sich setzen. Der Zeremonienmeister gibt das Zeichen dazu. Dann setzt er dem Abt die Mitra auf. Der geht zum Ambo und beginnt zu sprechen. Die Don-Bosco-Schwester bei den Mädchenbänken legt den Finger auf die Lippen. Die Mädchen müssen trotzdem lächeln, denn beim Abt schlägt beim Sprechen irgendwo die Zunge an. „Dear isch lei nouh ‚krowatisch‘ redn gwehnt“, sagt später die