damit sowieso mehr anfangen als er. »Hier, für euch.«
Mick griff nach dem Geldstück und schenkte Sebastian ein dankbares Lächeln.
»Euer Dad ist also in der Army?«, fragte Sebastian.
»Nein«, lachte Mick, »bei den Taliban.«
Sebastian war gleichzeitig empört und peinlich berührt, dass er von einem Zehnjährigen übers Ohr gehauen worden war. Normalerweise ließ er sich nur von Leuten übervorteilen, die mindestens fünf Jahre älter als Mick waren.
»Hey, gib mir mein Geld zurück!«, verlangte Sebastian, aber Mick schüttelte bloß den Kopf und reichte es an seinen grinsenden Bruder weiter.
»Tut mir leid, Kumpel, keine Rückzahlungen«, informierte er Sebastian über die Firmenpolitik. Aber der war nicht bereit, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Es ging ihm nicht um das Geld, es ging ums Prinzip … na gut, es ging auch um das Geld. Aber vor allem ums Prinzip. Und das Geld. Er war vielleicht klein für sein Alter, aber er war immer noch fast doppelt so groß wie Mick und Nick, und er hatte nicht übel Lust, den Parkplatz mit den beiden aufzuwischen, um ihnen alles Kleingeld abzunehmen, das sie bei sich haben mochten. Als er ein Kind gewesen war, war das mit ihm ständig gemacht worden, und ihm hatte es schließlich auch nicht geschadet. Und da der Stationsvorsteher in seiner Bude mit einem durchgeweichten Exemplar des Playboys beschäftigt war, das er auf den Schienen gefunden hatte, gab es sowieso niemanden, der ihn hätte aufhalten können. Doch die aufstrebende Jugend von Christ’s Hospital hatte ihren Coup perfekt getimt. Ein grell strahlendes Paar Scheinwerfer erhellte den Parkplatz genau in dem Moment, als Sebastian Mick beim Kragen packte, und plötzlich gab es Wichtigeres zu tun.
»Hier, nimm das.« Sebastian drückte Mick die halb leere Bierdose als Abschiedsgeschenk in die Hand, griff nach seiner Tasche und schritt auf die metallicblaue Autotür zu, die gerade geöffnet worden war.
Nachdem er die Tasche auf den Rücksitz geworfen hatte, machte Sebastian einen unbeholfenen Versuch, Vanessa zu umarmen. Das hatten sie noch nie getan. Tatsächlich hatten sie bis jetzt überhaupt noch nichts getan, und Sebastian hatte den leisen Verdacht im Hinterkopf, dass Vanessa ihn nur eingeladen hatte, um ihn zu einer Scientology-Sitzung mitzuschleppen.
Vanessa erwiderte Sebastians Umarmung enthusiastisch, presste ihre rubinroten Lippen auf seine und erfüllte seine Sinne mit ihrem süßen Duft. Sie war sogar noch verführerischer als in seiner Erinnerung, mit ihrer perfekten milchweißen Haut und einigen pechschwarzen Haarsträhnen, die vor dem Blitzen ihrer durchdringend blauen Augen herabhingen. Auch wenn sie nicht unbedingt die Frau aus Sebastians Fantasien war, so war er nur zu gern bereit, seine Fantasien für Vanessa umzuschreiben. Sie war alles und noch mehr: selbstsicher, schön und hungrig. Heute Nacht würde sie ihn verschlingen. Und er konnte es kaum erwarten.
»Du riechst köstlich«, sagte er, als ob sie ein Teller Schweinerippchen wäre.
»Und du riechst nach Bier«, gab Vanessa das Kompliment ungebraucht zurück.
»Was? Oh nein.« Innerlich schalt Sebastian sich dafür, dass er nicht an Pfefferminzbonbons gedacht hatte. »Ich habe mit den Jungs noch ein bisschen was getrunken, weißt du, beim Warten.«
Sebastian hatte die paar Biere gemeint, die er mit zwei Arbeitskollegen am Bahnhof von London Bridge getrunken hatte, doch Vanessa schaute an ihm vorbei zu Mick und Nick, die sich Sebastians halb leere Dose hin und her reichten. Skeptisch hob sie eine Augenbraue.
»Aha«, sagte sie bloß.
»Also, wie weit ist es noch?«, fragte Sebastian.
Vanessa wollte die Überraschung nicht verderben. »Nicht weit.«
»Gibt es da vielleicht was zu essen? Ich bin am Verhungern.«
»Das könnte gut möglich sein«, spannte sie ihn auf die Folter.
Mick und Nick sahen zu, wie Vanessas Jaguar vom Parkplatz rollte und in der Nacht verschwand, bis nichts als ein fernes Brummen im Wind mehr davon übrig war.
»Coole Karre«, bemerkte Mick.
»Coole Frau«, ergänzte Nick und nahm einen Schluck aus der fast leeren Dose, bevor er sie seinem Bruder zurückgab.
Mick leerte den Bodensatz und nickte zustimmend.
»Da würd' ich nicht Nein sagen«, urteilte er mit Kennermiene.
Kapitel 5
Boniface hatte seit fünfzehn Minuten kaum eine Atempause gemacht. Er wusste, dass seine einzige Möglichkeit, den anderen so etwas wie ein Zugeständnis abzuringen, darin bestand, ihnen gnadenlos auf die Nerven zu fallen. Glücklicherweise war er dazu nicht nur bereit, er war schon als Nervensäge geboren worden. Seine Mutter hatte ihm von klein auf versichert, mit seinem Naturell könne er jeden Sonnentag verdunkeln. In gewisser Hinsicht hatte sie damit recht gehabt. In anderer Hinsicht hatte sie sehr falsch gelegen.
Er konnte das Gesicht seiner Mutter immer noch vor sich sehen. Es war auf ewig in seinen Verstand geätzt. Aber er sah sie nicht so, wie andere Söhne ihre Mütter sahen: strahlend und lachend und faltig und warm. Er sah sie als einen Kopf auf einem Spieß, aufgestellt auf dem Bollwerk des Feindeslagers, ebenso wie der Rest seiner Familie. Er war als einziger der Axt entkommen und in den Wald geflüchtet wie ein Feigling oder ein Dieb. Er hatte einen aussichtslosen Kampf und den ehrenhaften Tod gegen ein schändliches Leben eingetauscht, doch es war ein wohlüberlegter Tausch gewesen. Sich unnötig zu opfern hätte seiner ausgelöschten Familie keine Wiedergutmachung gebracht, also war er gerannt; weg von den Klingen, weg von dem Gemetzel und weg von den Seinen, um sich im Wald zu verstecken.
Aber Boniface war nicht entkommen. Er war lediglich vom Regen in die Traufe gestolpert, denn am Rande der Schlacht lauerte ein noch schrecklicherer Feind; einer, der nicht nur den Tod, sondern ewige Verdammnis verhieß. Normalerweise hätte Boniface gegen eine solche Bestie nicht die geringste Chance gehabt, aber das Schicksal hatte sich des armen Teufels erbarmt und andere Pläne für ihn offenbart. Das Monster, das auf Boniface lauerte, war nämlich nicht der grausame, unaufhaltsame Unhold aus den Legenden; es war vielmehr ein vernunftbegabtes Wesen, das den Tod fast ebenso sehr hasste, wie es ihn hervorbrachte.
Der Duke nahm nur, was er brauchte, und tötete nie aus Jagdlust. Seine bevorzugte Taktik war es, Truppen in den Kampf zu folgen und aus den tödlich Verwundeten am Rand des Schlachtfeldes seine Wahl zu treffen. Für ihn erfüllte dieses Vorgehen einen dreifachen Zweck: Es verschonte die Lebenden, es erlaubte ihm, sich unbemerkt satt zu trinken, und es war ungefährlicher als diejenigen anzugreifen, die noch ein Schwert schwingen konnten.
Er hatte vielleicht mehr Menschen getötet als die Pest, aber tief im Inneren war der Duke immer noch eine ehrbare Seele – oder wäre das gewesen, hätte er ebendiese nicht vor tausend Jahren dem Teufel verkauft.
Darüber hinaus war er ein Pragmatiker. Als er Boniface also in den Schatten zog, weg von menschlichen Blicken, tat er das nicht, um ihn auszuquetschen wie eine Orange, sondern um ihn einzuspannen wie einen Ochsen.
»Transport. Ich gehe nach Norden, dem Winter entgegen. Ich brauche einen Begleiter. Mein vorheriger Knappe hat mich verlassen«, sagte der Duke, was ein bisschen verleumderisch war, wenn man bedachte, dass sein letzter Bursche in Stücke gehackt worden war, als er sich auf der Suche nach Pferden zu nah ans Schlachtgetümmel gewagt hatte.
»Ich werde gehorchen«, keuchte Boniface pflichtschuldig. Er hätte sich mit allem einverstanden erklärt, damit diese gottlose Kreatur ihre Klauen nicht noch weiter in seinen Hals grub. »Bitte!«
»Nenn mich … Meister.«
Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Der Duke gab sein Wissen weiter, Boniface diente, und nach einer gründlichen Lehrzeit wurde auch ihm die Gabe geschenkt.
Das war jetzt über zweitausend Jahre her. Und obwohl Boniface den Duke immer noch respektierte, nannte er ihn nicht mehr »Meister«.