Mr. Salter schaute Andy mit abwesendem Ausdruck an, obwohl eine sonderbare Bestimmtheit in seinem Blick lag. »In London lebt ein gewisser Albert Selim«, sagte er dann langsam, »dieser Kerl ist ein Teufel. Ich erzähle Ihnen das nicht, weil Sie Polizeibeamter sind. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich davon spreche. Ich habe schon so manchen Verhaftungsbefehl unterzeichnet, aber niemals habe ich die Feder aufs Papier gesetzt, ohne an diesen größten aller Verbrecher zu denken. Er ist ein Mörder – ein Mörder!« Andy war bestürzt.
»Er hat Menschen getötet, er hat ihre Herzen gebrochen und sie vorzeitig unter die Erde gebracht. Einen meiner Freunde hat er fast erdrosselt!« Bei diesen Worten preßte er seine Hände so krampfhaft zusammen, daß die Knöchel weiß wurden.
»Albert Selim?« Andy wußte nichts anderes zu sagen.
Mr. Salter nickte.
»Wenn er, wie ich hoffe, eines Tages doch einen Fehler macht und in Ihre Hände fällt, wollen Sie mir dann den Gefallen tun und mich benachrichtigen? Aber dazu wird es wohl nie kommen – der läßt sich nicht fangen!«
»Ist er arabischer Herkunft?«
Boyd Salter schüttelte den Kopf: »Ich habe ihn nie gesehen. Ich habe auch noch niemand getroffen, der persönlich mit ihm. zusammengekommen wäre«, sagte er zu Andys größtem Erstaunen. »Nun will ich Sie aber nicht länger aufhalten, Mr. Macleod. Was haben Sie eigentlich für einen Rang, wenn ich fragen darf?«
»Die Frage habe ich mir auch schon öfters vorgelegt. Ich habe Medizin studiert.«
»Sie sind Arzt?«
Andy nickte: »Ich führe viele Untersuchungen und Obduktionen aus. Ich bin eigentlich Pathologe.«
Boyd Salter lächelte: »Dann hätte ich Sie mit ›Doktor‹ anreden sollen. Sie haben sicher in Edinburgh studiert?«
Andy bejahte die Frage.
»Ich habe eine Vorliebe für Ärzte. Meine Nerven quälen mich entsetzlich. Gibt es dagegen nicht ein Heilmittel?«
»Psychoanalyse. Mit ihrer Hilfe kann man krankhafte Komplexe erkennen und aus dem Denken ausschalten. – Leben Sie wohl.«
Ein Gespräch über Medizin war das sicherste Mittel, Andy zum. Aufbruch zu veranlassen.
»Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Sie sehen noch sehr jung aus für Ihre Stellung – Sie sind doch nicht älter als dreißig oder einunddreißig?«
»Sie haben es richtig getroffen,« erwiderte Andy lachend und verabschiedete sich.
3
Stella Nelson verließ das Postamt in Bestürzung und Schrecken. Obgleich sie sich nicht umsah, wußte sie doch, daß ihr der Herr mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen aus der Telefonzelle nachschaute. Was würde dieser Mann denken, für den wahrscheinlich schon das kleinste Zucken eines Augenlides Bedeutung hatte?
Sie war beinahe schwach geworden, als sie das Wort ›Detektiv ‹ hörte; er hatte auch sicher gesehen, wie sie schwankte und blaß wurde, und er mußte sich über ihr Benehmen gewundert haben.
Am liebsten wäre sie davongelaufen; und es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, ihre Schritte nicht noch mehr zu beschleunigen. Sie ging rasch den Abhang zum Bahnhof hinunter. Dort erfuhr sie, daß sie noch eine halbe Stunde bis zum Abgang des Zuges zu warten hatte. Sie war so frühzeitig von zu Hause fortgegangen, weil sie noch einige Besorgungen machen wollte. Aber konnte sie zurückkehren? Durfte sie sich seinen forschenden Blicken, die sie so erschreckt hatten, noch einmal aussetzen?
Schließlich ging sie zurück. Ihr Selbstbewußtsein zwang sie dazu. Und sie atmete erleichtert auf, als sie sah, daß der dunkelblaue Wagen verschwunden war. Sie eilte von einem Geschäft zum anderen, um so schnell wie möglich fertig zu werden. Nach kurzem Zögern wandte sie sich wieder zum Postamt und kaufte noch einige Marken.
»Welchen Beruf hatte der Herr, von dem wir vorhin sprachen?« Es kostete sie einige Mühe, ruhig zu fragen.
»Er war Detektiv, mein Fräulein«, sagte der alte Postbeamte wichtig. »Ich weiß nicht, hinter wem er her ist.«
»Wohin ist er denn gegangen?« Sie fürchtete schon die Antwort.
»Er wollte nach Beverley Green fahren, wie er mir sagte.«
Der Postbeamte schien nicht das beste Gedächtnis zu haben, sonst hätte er sich darauf besinnen müssen, daß Andy eine solche Absicht nicht geäußert hatte.
»Nach Beverley Grenn?« wiederholte sie langsam.
»Er heißt Macleod!« rief er plötzlich. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich!«
»Wissen Sie, ob er hier wohnt?«
»Nein, mein Fräulein, er ist nur auf der Durchreise. Banks, der Fleischermeister, wollte es nicht glauben, daß wir einen richtigen Detektiv in der Stadt hatten – einen Beamten von Scotland Yard. Macleod machte die entscheidende Zeugenaussage in dem Marchmont-Giftmordprozeß. Erinnern Sie sich nicht …? Das war eine aufregende Geschichte! Ein Mann vergiftete seine Frau, weil er eine andere heiraten wollte, und durch Macleods Aussage kam er an den Galgen. Für Mordprozesse habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«
Sie ging jetzt langsam zum Bahnhof und löste ihre Fahrkarte. Ungewißheit, Zweifel und Furcht quälten sie. Der Gedanke, auch nur ein paar Stunden abwesend zu sein, während dieser Mann hier herumspionierte, erschien ihr unerträglich. Der Himmel mochte wissen, welche Absichten er hatte.
Wieder wandte sie sich der Stadt zu, aber dann hörte sie den Zug pfeifen. Kurz entschlossen ging sie zum Bahnhof zurück. Sie wollte ihren ursprünglichen Plan ausführen. Sie haßte Macleod. Sie haßte und fürchtete ihn zugleich. Sie zitterte bei der Erinnerung an seinen durchdringenden, prüfenden Blick, der so deutlich sagte: ›Du hast etwas zu fürchten.‹ Sie versuchte im Zug zu lesen, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Zeitung, und obwohl ihre Blicke den Zeilen folgten, sah und las sie doch nichts.
Als sie sich ihrem Ziel näherte, wunderte sie sich, daß ihr jemals der Gedanke gekommen war umzukehren. Sie hatte doch nur noch eine Woche Zeit, um diese schreckliche Sache zu ordnen – nur noch eine Woche, und jeder Tag zählte. Vielleicht hatte sie Erfolg und kehrte am Nachmittag glücklich zurück, jauchzend vor Freude. Wie schön wäre es, wenn sie durch dieselben Felder und über dieselben Brücken mit ruhigem Gemüt nach Hause fahren könnte.
Mechanisch betrachtete sie durch das Fenster die Landschaft, an der sie ihr Zug vorbeiführte.
Ihre Träumereien waren zu Ende, als sie ausstieg. Sie eilte durch die drängende Menschenmenge. Ein Taxi kam auf ihren Wink heran.
»… Ashlar Building?« sagte der Chauffeur überlegend. »Ja, ich weiß, was Sie meinen, Fräulein.«
Ashlar Building war ein großes Bürohaus; sie hatte es noch nie gesehen und wußte auch nicht, wie sie den Mann finden sollte, den sie sprechen mußte. In der Eingangshalle sah sie jedoch die Firmentafeln, die die zwei einander gegenüberliegenden Wände bedeckten. Sie las eine nach der anderen, bis sie plötzlich anhielt.
»309, Albert Selim.«
Seine Geschäftsräume lagen im fünften Stock.
Es dauerte einige Zeit, bis sie das Büro gefunden hatte, denn es lag am Ende eines langen Flügels. Sie sah zwei Türen. Die eine trug die Aufschrift ›Privat‹, die andere ›Alb. Selim‹.
Sie klopfte an, und jemand rief: »Herein!«
Eine kleine Schranke trennte den eigentlichen Büroraum von dem schmalen Gang, in dem sich die Besucher im allgemeinen aufhalten durften.
»Nun, Miss?«
Der Herr, der auf sie zutrat, sprach barsch,